Er hat etwas zu sagen und er sagt es auch

Ernst Jandls Frankfurter Poetik-Vorlesungen – jetzt auf DVD

Von Nils BernsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Bernstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Jahr 2010 ist unter anderem auch ein Ernst-Jandl-Jahr gewesen. Zehn Jahre ist der Wiener Dichter und Autor lautpoetischer Evergreens wie „schtzngrmm“ oder „wien: heldenplatz“, häufig anthologisierter Gedichte wie „ottos mops“ und interpretatorisch überdehnter Texte wie „lichtung“ („lechts und rinks“) nun schon tot. 85 Jahre alt wäre er vergangenes Jahr geworden. Pünktlich zu diesem Ereignis hat der Suhrkamp Verlag eine ansprechende, gut edierte und sorgfältig kommentierte DVD zu Jandls Frankfurter Poetik-Vorlesung von 1984/85 vorgelegt.

Kaum bemerkt beging man an der Universität Ljubljana einen Internationalen Lyriktag anlässlich des zehnten Todestages Ernst Jandls, auf dem unter anderem der renommierte Jandl-Forscher Michael Hammerschmid referierte. Ein kleiner, von Johann Georg Lughofer herausgegebener Tagungsband enthält die Ergebnisse der Vorträge. Das Bundesministerium für Kunst und Kultur richtete zu eben jenem Anlass in Kooperation unter anderem mit dem Institut für Germanistik der Universität Wien die „Ernst Jandl Dozentur für Poetik“ ein, die jedes Jahr „eine namhafte Persönlichkeit der deutschsprachigen und internationalen Dichtung“ für das Abhalten zweier Vorlesungen einlädt. Und das Wien Museum – um nur drei kleine Beispiele des glücklicherweise nicht gänzlich ereignislosen Jandl-Jahres anzuführen – startete eine Reihe von sehenswerten Veranstaltungen unter dem Titel „Die Ernst Jandl Show“. Bernhard Fetz und Hannes Schweiger haben einen Katalog herausgegeben, der Fotos, Interviews, Aufsätze und Gedichte von durch Jandl inspirierten Kolleginnen und Kollegen enthält.

Jandl ist wohl der einzige Dichter, der sich im weiten Feld der experimentellen Lyrik betätigte – er selbst bevorzugte diese terminologisch offene Bezeichnung – und gleich zweimal die Herausgabe seiner Gesammelten Werke erleben durfte. Nunmehr wurde einem breiten Publikum eine der zahlreichen Video-Aufzeichnungen von Jandl-Lesungen zugänglich gemacht. Johannes Ullmaier, der an der Mainzer Universität lehrt und sich mit zahlreichen Veröffentlichungen um die Avantgarde verdient gemacht hat, zeichnet als Herausgeber verantwortlich. Er hat eine empfehlens- und lesenswerte Einführung beigesteuert, in der ihm gleich zweierlei gelingt: Einerseits bietet sein Text „Gründliche Einfachheit für Fortgeschrittene. Zu Ernst Jandls Frankfurter Poetikvorlesungen“ einen für Einsteiger gut gerafften Überblick zu poetologischen und werkkonzeptionellen Aspekten des Jandlschen Œuvres. Andererseits enthält der Text vieles Wissenswerte, das auch Kennern neue Sichtweisen eröffnen dürfte. Es ist daher zu wünschen, dass die Einführung nochmals gesondert publiziert würde.

Für Jandl war es maßgebend, ein möglichst breites Publikum zu erreichen, allerdings gerade eben nicht zur Gewinnmaximierung. Im Gegenteil führte er ausgiebige Korrespondenzen mit dem Verlag Luchterhand, seine Gedichtbände doch bitte zu einem erschwinglichen Preis anzubieten, damit sie auch von jenem Publikum rezipiert werden könnten, dem geringere Mittel zur Verfügung stünden. Im Zuge der Publikumsoffenheit machte Jandl das lyrische Experiment in verschiedenen Medien zugänglich: technisch mit Hilfe damals modernster Studiotechnik verfremdete Gedichte, Hörspiele, Theatertexte und die für Jandl wichtige Verbindung mit Jazz und Lyrik. Noch Ende der 1960er-Jahre erschien bei Wagenbach eine Schallplatte mit Gedichten aus „Laut und Luise“. Entgegen dem häufigen Urteil, Jandl sei der beste Rezitator der eigenen Gedichte, war es ihm lediglich daran gelegen, dass seinen Gedichten überhaupt Stimme verliehen wird. Wie wichtig die lautliche Realisation ist, belegen die zahlreichen mittlerweile zugänglichen Tondokumente mit des Autors Stimme. Wie produktiv und erkenntniserweiternd die Kombination aus Ton und Bild sein kann, illustriert die nun auf DVD erhältliche Vorlesungsreihe.

Nicht nur kann man beobachten, dass Jandl – bislang wies jede Rezension darauf hin – im Verlaufe der Vorlesungen eine vorteilhaftere Kleidungswahl zuungunsten des anfänglich allzu transparenten Hemdes trifft. Auch die Schnitttechnik verbessert sich zunehmend. Zu Recht moniert Ullmaier, dass gerade das Gedicht „der mund“, bei dem der Text die erwünschte Lautbildung und Mimik nur durch eine Fußnote im Primärtext vermitteln kann, dem harschen Wechsel der Kameraperspektive zum Opfer fällt. In jedem Fall sehenswert sind die Reaktionen im gut gefüllten Hörsaal. Wo man sich nicht über Jandls wortakrobatische Ausführungen amüsiert, folgt man ihm kontemplativ oder staunt über die Vortragskunst der in Summe nicht immer komischen Gedichte. Man erfreut sich über bekannte Gesichter, die man im Publikum zuordnen kann. In der ersten Vorlesung sitzen Siegfried Unseld, Peter Härtling und Friederike Mayröcker in der ersten Reihe. Unseld ist zur Zeit der Vorlesung mittlerweile mit Jandl versöhnt, liegen doch knapp 20 Jahre zwischen Siegfried Unselds Absage zur Aufnahme Jandls in die Riege der Suhrkamp-Autoren und Jandls Kommentar in der Frankfurter Goethe-Universität zu dieser damals bitter enttäuschenden Absage.

Die Vorlesung „Das Öffnen und Schließen des Mundes“ wurde, kurz nachdem sie Jandl gehalten hatte, bei Luchterhand veröffentlicht. Die Erstausgabe enthielt auf dem Einband Nahaufnahmen eines Laute artikulierenden Mundes, die dem Standardwerk „An Outline of English Phonetics“ von Daniel Jones entstammen. Seinem Schnurrbart widmete Jandl seine „drei visuelle[n] lippengedichte“, da sein Werk ihm treue Dienste im Studium der Anglistik erwies. Für absolute Jandl-Aficionados dürfte die Anmerkung Johannes Ullmaiers nicht uninteressant sein, aus der man erfährt, dass diese Fotos nun nicht Jones sondern dessen Bruder zeigen. Die Veröffentlichung der Vorlesung, von deren Honorar sich Jandl übrigens das Grimm’sche Wörterbuch zulegte, war insofern wichtig, da sie nicht allein Erläuterungen des Autors zur Werkgenese seiner Gedichte, etwa von „die morgenfeier“, enthält, sondern überhaupt aufschlussreich ist, um die Relevanz avantgardistischer Vorläufer wie Hugo Ball oder Kurt Schwitters für Erscheinungen der gesamten experimentellen Poesie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen.

Darüber hinaus erklärt Jandl, inwiefern er Gedichte wie „bericht“ oder „16 jahr“, das Handke bereits 1967 seinem Sprechstück „Kaspar“ als Motto voranstellte, der alltäglichen Erfahrung entnommen hat und daraus sein eigenes Geflecht aus dem Erlebnis und der Dichtung komponierte. Durch die viel bemühte Poetisierung des Alltags wurde ihm ein Zitat aus John Cages Vortrag „Silence“, den Jandl übersetzte, zum persönlichen Mantra: „Ich habe nichts zu sagen / und ich sage es / und das ist / Poesie / wie ich sie brauche“. Dass Jandls Experimente keineswegs im appellfreien L’art pour l’art versinken, sondern einen Perspektivwechsel auf allzu oft Wahrgenommenes „Mit anderen Augen“ ermöglichen, wie seine erste Buchveröffentlichung quasi programmatisch hieß, bestätigt auch Jandl über Jandl, denn: „er habe immer etwas zu sagen gehabt“. Daher ist es wünschenswert, auch weitere bislang schwer einsehbare Bild-Ton-Dokumente Jandls einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

Kein Bild

Ernst Jandl: Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetikvorlesungen 1984.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
264 min, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783518135174

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