Zurück zur Menschlichkeit

Giorgio Vasta setzt sich in seinem Debütroman „Die Glasfresser“ mit der blutigsten Zeit in der Geschichte des italienischen Linksterrorismus auseinander

Von Sandra HintRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Hint

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Italien des Jahres 1978 eifern drei Mittelschüler aus Palermo ihren Vorbildern nach und üben einen kaltblütigen Terror auf ihre Mitmenschen aus. Giorgio Vasta beschreibt in seinem Roman „Die Glasfresser“ die Gedanken elfjähriger „Revolutionäre“. Er stellt den radikalen Fanatismus neben Gefühle der Empathie und bietet dem Leser ein ambivalentes Roman-Ende.

Der Ich-Erzähler Nimbus ist in diesem Buch gleichzeitig Beobachter und Kritiker der Welt um ihn herum. Seine Verachtung der Gesellschaft manifestiert sich in stummer Distanzierung von den Menschen. Lakonisch stellt Nimbus die Mitglieder seiner Familie als „Schnur“, „Stein“ und „Lappen“ vor und beschreibt im Auftakt des Romans eine groteske Ästhetik der Katzenquälerei. Im Widerspruch zu seinem frommen Vater, der täglich aus der Bibel liest, empfindet Nimbus Religion als betäubend. Seine Mutter hasst er innig. Die Welt um ihn herum erscheint dem Jungen wie eine der kranken Katzen, die er gerne peinigt, und somit befürwortet er auch die destruktiven Aktionen der kommunistischen Terroristenorganisation Brigate Rosse (Rote Brigaden).

Als die immer blutiger agierenden „Brigaden“ als Höhepunkt ihrer Anschläge den christdemokratischen Politiker Aldo entführen und töten, formt Nimbus mit seinen Klassenkameraden Bocca und Scarmiglia eine „Zelle“, ähnlich den Gruppen innerhalb der Brigate Rosse. Mit rasierten Köpfen, trainierten Körpern und dem eigenen, aus 21 Körperhaltungen bestehenden sprachlosen Kommunikationssystem „Alphastumm“, beginnt die „NOI“ (italienisch für „wir“ oder kurz für „Nucleo Osceno Italiano“) ihren Amoklauf. Den Vorgehensweisen ihrer Vorbilder folgend terrorisieren die Jungen mit dem Anspruch, gegen die „schulische Repression“ zu kämpfen und „die Strukturen und die Pläne der Sklaven des Profits“ zu zerschlagen, zunächst nur Eigentum, danach Menschenleben: sie bestehlen ihre Mitschüler, sprengen den Wagen des Schuldirektors, entführen und ermorden skrupellos einen Klassenkameraden.

Dann der Wandel: Nimbus steigt aus der Gruppe aus. Vasta zeigt, wie sich der  Fanatismus in den Köpfen zweier Jungen entwickelt. Nimbus hingegen erlebt schließlich eine Revolution seines Gewissens und auf dem Weg zurück zur Menschlichkeit stellt sich schrittweise heraus, wie sehr er sich eigentlich nach der Krankheit sehnt, als die er die Gesellschaft ursprünglich bezeichnet hatte.

Zunächst steht der Elfjährige zwischen zwei Welten – er versucht erfolglos das „Alphastumm“ zur Kommunikation mit seiner Umgebung zu benutzen und unschuldige Opfer zu warnen. Ein Stück Stacheldraht als Geschenk führt zum Kontakt mit einem stummen kreolischen Mädchen, das ihn aus seiner Isolation holt. Der „Mythopoet“ erfindet seine eigene Sprache mit der, die seinen „Brustkorb aus Stacheldraht“ zum „schmelzen“ bringt.

Vastas Figuren wirken teils erschreckend wirklichkeitsnah. Es sind präadoleszente Jungen, die Comics lesen, auf ihre Schulbänke kritzeln und Schauspielern nacheifern. Als Resultat einer gezielten Indoktrination entwickeln sie die Fähigkeit zum Peinigen und zum Mord. Revolution und Terror gehen da Hand in Hand, wo die Idee vom ,Wir‘ und die Ideale zum Verbrechen werden. Das Töten dient ihnen als symbolisches und notwendiges Mittel auf dem Weg zum geheiligten Ziel. Vasta beschreibt ein Extrem: die Fähigkeit eines Menschen zur Grausamkeit und Verzerrung moralischer Prinzipien zugunsten eines fanatischen Gedankens.

Mit dem existentialistischen Charakter seiner Figuren und ihrer Auseinandersetzung mit Fragen des Idealismus und des Terrors, der Schuld und des Gewissens, steht Vasta in der Tradition von Albert Camus. Der am Anfang im Vordergrund stehende Effekt einer Schock-Groteske mittels der Lautréamont’schen bösartigen Tierquälerei-Episode schwindet in den folgenden Kapiteln jedoch dahin und gibt den Weg frei für einen tiefen Blick in die menschliche Psyche. Giorgio Vastas Debütroman vermittelt Erkenntnisse über die Gewalt und ihre Grenzen. Er erzählt kritisch, authentisch und kreativ die Geschichte seiner Nation. Es ist die Geschichte eines Ausbruchs aus den Wahnwelten einer als absolut verherrlichten Idee – und nicht zuletzt die Erzählung des Wegs des Einzelnen zu sich selbst.

Titelbild

Giorgio Vasta: Die Glasfresser. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011.
315 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421044471

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch