„Gerichtsformationen“

Mirjam Wenzels Darstellung des deutschsprachigen Holocaust-Diskurses der 1960er-Jahre

Von Torben FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torben Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Betrachtet man die Nachgeschichte von Shoah und NS-Vernichtungspolitik in der Bundesrepublik wie im internationalen Maßstab, so fällt für die 1960er-Jahre unmittelbar ins Auge, wie stark die Aneignungen und Reflexionen der Geschehnisse durch juristische Rahmungen geprägt waren. Diese juristischen Kristallationspunkte des Erinnerungsdiskurses konnten auf konkrete Ermittlungen und Prozesse zurückgehen, wie dies beim Ulmer Einsatzgruppen-Prozess (1958), beim Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961) oder beim Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-65) mit unterschiedlich starker Breitenwirkung der Fall war. Sie lassen sich aber auch in denjenigen Reflexionen der NS-Vernichtungspolitik nachspüren, die weniger vom konkreten Anlass, sehr wohl aber in ihren kategorialen Grundzügen von juristischen Termini geprägt sind – nicht zuletzt wäre hier an all jene Beiträge zu denken, die Begriffe von Schuld und Unschuld auch im juristischen Sinne konturierten und in die Debatte einbrachten.

So umfassend die Einzelereignisse dieses Prozesses im doppelten Sinne auch bereits aufgearbeitet sein mögen, eine geschlossene Analyse der Ausprägungen und diskursiven Auswirkungen der juristischen Rahmungen stand bislang noch aus. Diese Lücke wird mit der Studie Mirjam Wenzels „Gericht und Gedächtnis“ zum „deutschsprachigen Holocaust-Diskurs der sechziger Jahre“, der eine germanistische Dissertation an der LMU München zugrunde liegt, nun in überzeugender Art und Weise geschlossen.

Wenzel versteht die Prozesse der 1960er-Jahre unter Rekurs auf Michel Foucault als „‚diskursive Ereignisse‘“ und als „Archive des Wissens“, die die „Formationsregeln“ eines sich herausbildenden Erinnerungsdiskurses wesentlich mitbestimmt hätten: „Die Nachkriegsprozesse schrieben also fest, was und vor allem wie die Vergangenheit in Wort und Bild darzustellen, zu beurteilen und zu perspektivieren war. Sie organisierten die Parameter der mit ihnen entstandenen Texte und Filme und den Beginn der öffentlichkeitswirksamen Rezeption des Holocaust.“

In einer weiteren Zuspitzung dieser für die Studie konstitutiven These versteht die Autorin die unterschiedlichen, thematischen einschlägigen Textsorten dieses „strategisch geeinte[n] frühe[n] Holocaust-Diskurs“ als Agenten einer diskursiven Wahrheits- und Regelproduktion, die als „‚Gerichtsformation des frühen Holocaust-Diskurses‘ verstanden und bezeichnet werden kann“. Folgt man Wenzel, so nahm die „Gerichtsformation“ ihren Ausgang von einem konkreten historischen Ereignis – dem Beginn des Eichmann-Prozesses in Jerusalem – und lässt sich in ihren Anfängen so auf das Jahr 1961 datieren, wobei die Autorin bereits für die späten 1960er-Jahre, spätestens aber mit der Zäsur des Holocaust-Films (1979) Auflösungserscheinungen dieser zunächst als hochgradig kohärent porträtierten diskursiven Praxis konstatiert.

Die Studie verfolgt im weiteren Verlauf die Genese dieser ‚Gerichtsformation’ des Holocaust-Diskurses in ihren zentralen Etappen, wobei die Auswahl der betrachteten Texte und Gegenstände sichtbar und plausibel von den dominanten Diskursereignissen der 1960er-Jahre, insbesondere von Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ her bestimmt wird. Wenzel arbeitet in einer für die Stoßrichtung der Arbeit exemplarischen Analyse überzeugend heraus, wie stark Arendts Prozessbericht von systematischen Verdopplungen geprägt ist: Sie vermag zu zeigen, dass Arendts „Verfahren der Duplikation, das eine Kritik an dem Prozessgeschehen vornimmt und dieses zugleich zu korrigieren versucht“ eine „Strukturhomologie“ mit dem Verfahren des dokumentarischen Theaters aufweist, auch wenn Peter Weiss’ „Ermittlung“ – anders als Arendts Prozessbericht – ihren Fluchtpunkt nicht in einer Urteilsverkündung, sondern „in einem nichtsynthetisierbaren Widerstreit“ der verschiedenen Textinstanzen (Zeugen, Angeklagte, Anklage und Verteidigung) besitzt.

Ein weiterer großer Abschnitt ist im Folgenden den Um- und Fortschreibungen von „Eichmann in Jerusalem“ bei Theodor W. Adorno und anderen sowie den in den 1960er-Jahren ubiquitären Universalisierungen der Shoah gewidmet. Das Schlusskapitel schließlich unternimmt eine Musterung des dokumentarischen Theaters am Beispiel dreier sehr unterschiedlicher Stücke: Peter Weiss’ „Ermittlung“, Rolf Schneiders „prozeß in nürnberg“ sowie Heinar Kipphardts „Bruder Eichmann“. Zwei Exkurse zu zeitlich teilweise recht weit auseinander liegenden Debatten und Texten weisen auf Kontinuitäten und Veränderungen der juristisch geprägten Diskurse hin, die deutlich über den Zeitkontext der 1960er-Jahre hinausweisen. So geht Wenzel in dem ersten, mit „Gericht und Gewissen“ überschriebenen Exkurs vor allem den frühen Reflexionen und Studien von Karl Jaspers und Eugen Kogon nach. Ein zweites Kapitel mit ebenfalls komplementärer Funktion arbeitet ähnlich gelagerte, wenn auch zeitlich später einsetzende Debatten im Frankreich der 1980er-Jahre auf, die dort angesichts der Holocaust-Leugnung durch Robert Faurisson und ausgehend vom Verfahren gegen Klaus Barbie entstanden (Alain Finkielkraut, Jean Francois Lyotard, Paul Ricœur und andere).

Es ist der Studie hoch anzurechnen, dass es ihr im großen und ganzen gelingt, die disparaten Texte und Textsorten – von Eugen Kogons „Buchenwald-Report“ bis zu Kipphards „Bruder Eichmann“, von Weiss’ „Ermittlung“ bis zu Lyotards „Widerstreit“ – in einen problemorientierten, thesengeleiteten Rahmen einzufügen, ohne dass die einzelnen, detailreichen Analysen in unverbundene Einzelstudien zerfallen würden. Eine Synthese gelingt deshalb, weil sich in den einzelnen Abschnitten immer wieder Rückbezüge auf die Leitthese der Arbeit – die Entstehung einer „Gerichtsformation des Holocaust-Diskurses“– finden , so dass das übergeordnete Erkenntnisinteresse der Studie vor Augen bleibt.

Dabei resümieren die Einzelanalysen nicht nur souverän den Forschungsstand, sondern können in vielen Fällen mit Analysen und Einsichten aufwarten, von denen auch die Spezial-Forschung zu diesen Themengebieten durchaus wird profitieren können. Dies ist besonders deshalb hervorzuheben, weil die Studie die Disziplinengrenzen von Philosophie, Geschichts- und Literaturwissenschaft souverän überschreitet und so das, was die disziplinäre Ordnung zum Teil künstlich trennt, in seinem Gesamtzusammenhang wieder sichtbar werden lässt. Vor dem Hintergrund dieser produktiven Leistung, vermögen die kleineren Inkonsistenzen die produktive Leistung der Arbeit nicht zu schmälern.

Anschlussfragen ergeben sich vor allem dort, wo Wenzel historische Einordnungen und Perspektivierungen ihres Materialkorpus in die längere Debatten- und Diskursgeschichte von Nationalsozialismus und Holocaust vornimmt. So wird nicht immer deutlich, welchen Stellenwert Zäsuren und Wendepunkte in der Nachgeschichte beigemessen werden. Nicht vollständig aufgelöst wird etwa die Frage, wie sich die Beobachtungen zu den frühen 1960er-Jahren – der Durchsetzungsphase der „Gerichtsformation“ – zu jenen zeitlich weiter ausgreifenden Abschnitten der Studie verhalten, die ihre Vor- und Nachgeschichte von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die 1980er-Jahre in den Blick nehmen: Handelt es sich bei den diskurspolitischen Ereignissen der 1960er-Jahre um Verschiebungen, die ihrerseits auf die Anfänge einer Beschäftigung seit der unmittelbaren Nachkriegszeit reagieren? Oder beginnt erst hier – wie es die Arbeit zum Teil etwas missverständlich suggeriert – der „frühe Holocaust-Diskurs“, dessen spezifischer Charakter sich dann nach 1979 sukzessive aufzulösen beginnt?

Gleichermaßen instruktiv wie diskussionswürdig sind zudem die Fragen, die die Autorin am Ende der Studie aufwirft: Gibt es wirklich eine trennscharfe Grenze zwischen der (positiv konnotierten) „Gerichtsformation“ des Holocaust-Diskurses und einer zweiten sich sukzessive durchsetzenden (negativ konnotierten) Form, die nicht mehr auf gesellschaftliche Aufklärung und Wirkung, Universalisierbarkeit und Prävention abzielte, sondern nurmehr auf sozialpsychologische Zusammenhänge und individuelle Schicksale? Der in der Tendenz überzeugend beschriebene Schritt vom Erinnerungsmedium des „Prozess“ zu dem des individualisierten „Zeugnisses“ ist vielleicht weniger als Abfolge, denn als ein Ineinander divergenter Diskursstränge zu denken, deren Bewertung komplexer scheint, als dies in der Arbeit nahegelegt wird. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass die eingangs aufgeworfene Frage, welche Ausschlüsse die Gerichtsformation des Holocaust-Diskurses produziert, ob nicht ihre spezifische ‚Wahrheit‘ und Wahrheitssuche das ‚Wissen‘ von den Ereignissen systematisch deformiert, in Teilen der Arbeit etwas aus dem Blick gerät – hier wäre ein Punkt, an dem Folgestudien anknüpfen könnten.

Wenzels Arbeit aber wird auf absehbare Zeit ein wichtiger Referenzpunkt für jede Beschäftigung mit der Nachgeschichte der Shoah in den 1960er-Jahren bleiben und bietet zudem einer integrierten Erinnerungsgeschichte des Nationalsozialismus, die diese nicht eindimensional innerhalb bestehender Disziplinengrenzen betreibt, wichtige methodische wie inhaltliche Impulse.

Titelbild

Mirjam Wenzel: Gericht und Gedächtnis. Der deutschsprachige Holocaust-Diskurs der sechziger Jahre.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
415 Seiten, 43,00 EUR.
ISBN-13: 9783835305694

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