„Zwischen meinem Gestern und dem möglichen Morgen“

Julya Rabinowich ist auch in ihrem zweiten Buch „Herznovelle“ auf der Suche nach einer Identität zwischen zwei Welten

Von Weertje WillmsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Weertje Willms

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1970 in Leningrad geborene Österreicherin Julya Rabinowich hat ein zweites eindrucksvolles Buch vorgelegt, in dem sie ihrem bisherigen Thema treu bleibt: Die schwierige Verbindung von zwei Welten, der Identitätskonflikt, der sich aus der Notwendigkeit ergibt, eine Balance zwischen altem und neuem Leben zu finden. Beschrieb sie in ihrem preisgekrönten Debütroman „Spaltkopf“ mit deutlich autobiografischen Bezügen das Schicksal einer russisch-jüdischen Emigrantin in Österreich und deren Identitätsprobleme zwischen alter und neuer Heimat, so löst sie nun das Thema vom Migrationshintergrund: „Herznovelle“ wird von einer Frau mittleren Alters erzählt, welche sich einer Herzoperation unterziehen muss und nach der Operation vor der Aufgabe steht, in ihr neues Leben hineinzufinden. Das Buch beschreibt den Zustand „zwischen meinem Gestern und dem möglichen Morgen“ und die hilflosen Versuche der Protagonistin, „das Alte mit dem Neuen zu verknüpfen“.

Das Leben der Erzählerin und Protagonistin an der Seite ihres vielbeschäftigten Mannes Bernhard war geprägt von der Krankheit und den durch sie verursachten Einschränkungen, es war eintönig, wenngleich nicht unglücklich. Die Operation am Herzen, mit dem das Buch beginnt, stellt einen tiefen Einschnitt und Identitätswechsel dar, nicht nur, weil die Protagonistin nun vor neuen Möglichkeiten steht und ein neues, anderes Leben führen kann, sondern auch, weil sie das Gefühl hat, ihre Identität neu bestimmen zu müssen. Dies aber gelingt ihr nicht. Die Erzählerin entwickelt nach der Rückkehr in ihr Zuhause in dem ersten Teil der Novelle – mit dem bezeichnenden Titel „Hasenherz“ – Ängste und Einsamkeitsgefühle und sie beginnt, ihr reales Leben durch Träume zu ersetzen. Zentral in diesen Träumen ist die Sehnsucht nach dem Arzt, der ihr Herz operiert hat. Sie weiß, dass sie nicht mehr krank ist, sondern nur voller Sehnsucht nach dem Mann, der ihr „Herz berührt“ hat, zu dem sie nun eine intime Nähe empfindet und von dem sie sich auch die Rettung in emotionaler Hinsicht erhofft.

Um sich dem Gegenstand ihrer Sehnsucht anzunähern, simuliert die Erzählerin im zweiten Teil der Novelle mit der Überschrift „Herzrasen“ einen Herzanfall und lässt sich ins Krankenhaus einliefern, nimmt ihre Tabletten in der falschen Dosierung, irrt durch das Krankenhaus – immer in der Hoffnung, dem Arzt zu begegnen, der sich ihr jedoch entzieht. So entfremdet sie sich von ihrem Ehemann und entfernt sich immer weiter von sich selbst, die Träume – Alpträume und Wunschträume – ersetzen ihr reales Leben, in das sie nicht mehr hineinfindet. Als sie einsieht, dass sie die Hoffnung auf eine Verbindung mit dem Arzt aufgeben muss, bricht sie völlig zusammen, resigniert und vegetiert nur noch im Krankenhaus dahin: „Wie es wohl draußen ist, frage ich mich. Ich kann mich kaum noch erinnern […].“

Doch nach einem Zeitsprung in der Novelle kehrt die Erzählerin nach Hause zurück, versöhnt sich mit ihrem Ehemann und führt fortan ein ähnlich monotones und kontrolliertes Leben wie vor der Operation – allerdings auch ohne die zehrenden Sehnsüchte, die Ängste und Einsamkeitsgefühle. Im Leben zurechtzukommen, so die Botschaft, bedeutet, einen Weg zu finden, seine Emotionen und Sehnsüchte zu beherrschen und in das Alltagsleben einzupassen. So lebt es sich ohne Ängste, aber auch ohne Wünsche: „Herrin des Hauses. Wünsche mir nichts mehr, wenn das Telefon läutet, und fürchte mich nicht. […] ,Wie schade‘, sage ich, ‚wie schade.‘“

Durch das langsame Erzähltempo und die konsequente, einer Kamerafahrt ähnlichen Schilderung der Ereignisse aus der Innensicht der Erzählerin tauchen wir ganz ein in die Gefühls- und Gedankenwelt der Erzählerin und Protagonistin. Die Übergänge zwischen Traum und Wirklichkeit sind nur schwach markiert, so dass uns das ganze Buch in einen traumartigen Zustand versetzt. Diesem kann sich der Leser dann entziehen, wenn der Text gelegentlich auf eine zweite Erzählebene wechselt. Dann werden die Sehnsüchte und Träume der Protagonistin in Passagen geschildert, welche in Versen stehen und durch Kursivdruck zusätzlich auch optisch vom restlichen Text abgesetzt sind. Durch die metaphernreiche Sprache, die kurzen Sätze und die traumartige Atmosphäre der ganzen Novelle ist der Unterschied zwischen den Prosa- und Lyrik-Abschnitten sprachlich nicht deutlich markiert, doch verleihen die Lyrik-Passagen und die zweite Erzählebene dem Buch eine zusätzliche poetische Qualität: „Vielleicht / denke ich / vielleicht hättest du mir eher / das Hirn / aus meinem Schädel nehmen / und es umpflügen sollen / mein Herz / konnte doch / nichts dafür.

Sich in dem Traumzustand einer nach sich selbst suchenden und von Sehnsüchten gequälten Frau zu befinden, ist nicht immer vergnüglich für den Leser, doch die eindrucksvolle Schilderung eben dieser Innensicht gelingt Julya Rabinowich meisterhaft. Das Herz ist hier als Metapher zu verstehen für die Sehnsucht nach einem Platz im Leben und nach einer ausbalancierten Identität. Und obwohl die „Herznovelle“ mit den enttäuschten Worten der Erzählerin „wie schade“ endet, hinterlässt sie doch einen versöhnlichen, wenngleich tief nachdenklichen Eindruck, denn im Leben Zurechtkommen heißt wohl immer auch Verzichten.

Titelbild

Julya Rabinowich: Herznovelle.
Deuticke Verlag, Wien 2011.
158 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783552061583

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