Späte Antwort auf Gretchens Frage

Posthum entdeckte Dokumente enthüllen einen religiösen John Rawls

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

John Rawls (1921-2002), Professor für Philosophie an der renommierten Harvard-Universität und Autor des epochalen sozialethischen Werks „A Theorie of Justice (1971), galt zu Lebzeiten als „religiös unmusikalisch“, kein Atheist, aber auch kein Mann des Glaubens. Man hätte vielleicht am ehesten auf „Agnostiker“ getippt. Und man hätte tippen müssen, denn Rawls selbst hat sich nie explizit zur Religion im Allgemeinen oder zu seinem Glauben im Besonderen geäußert.

Ein posthumer Fund zweier Texte ändert nun diese Einschätzung, denn die Texte sprechen eine eindeutige Sprache und offenbaren einen theologisch gebildeten und durchaus religiösen John Rawls. In seiner „Senior Thesis“ (1942), die er als Student an der Universität Princeton schrieb, beschäftigt er sich mit kenntnisreich und traditionsfest mit theologischen Begriffen wie „Sünde“ und „Glaube“ und charakterisiert die Religion als unverzichtbaren Aspekt jeder Gemeinschaft. In der Arbeit ist, wie in der Einleitung festgestellt wird, „ein feines Gespür für die Wirklichkeit der Sünde, des Glaubens und der göttlichen Gegenwart zu erkennen“.

In den 1990er-Jahren, also ein halbes Jahrhundert später, schreibt Rawls eine autobiografische Abhandlung, in der er von seinem persönlichen Glauben spricht, welcher ihn sogar zeitweilig die Berufung zum Priesteramt hatte spüren lassen, ehe ihn seine Erfahrungen als Weltkriegssoldat in eine Glaubenskrise stürzten und von dem Vorhaben Abstand nehmen ließen.

Doch der eigentliche Wert des Fundes liegt nicht in der Revision des Bildes, das wir vom Menschen John Rawls haben, sondern darin, dass sein philosophisches Denken und vor allem sein Hauptwerk in einem neuen Licht erscheinen. Das philologisch Hochinteressante an dem Fund ist der Umstand, wie deutlich seine „Theorie der Gerechtigkeit“ bereits in der theologischen Frühschrift angelegt ist. Die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen wird hier grundgelegt und die moralische Relevanz der Freiheit des Einzelnen, die ein Schlüsselmoment seines liberalen Gerechtigkeitskonzepts darstellt, „durch die moralische und religiöse Konzeption der Gemeinschaft, die im Zentrum der Abschlussarbeit steht, auf erstaunliche Weise vorweggenommen“. Auch die Zurückweisung eines kontraktualistischen Gesellschaftsverständnisses, die Verurteilung einer auf Diskriminierung und hierarchischen Machtstrukturen basierenden Ungleichheit sowie die negative Sicht auf den Verdienst als ethische Begründungsfigur – alles Kerngedanken seiner Politischen Theorie – sind den theologischen und religiösen Überlegungen geschuldet, die Rawls in der „Senior Thesis“ anstellt.

Von besonderer Bedeutung für den politischen Diskurs innerhalb religiös und kulturell stark fragmentierter Gesellschaften ist Rawls Toleranzbegriff. Toleranz ist für ihn durchaus mit religiösem Glauben zu vereinbaren, liberales Denken mit einer Idee vorpositiver Ordnung in Einklang zu bringen. Ein freiheitlicher Mensch muss in Rawls’ Augen nicht säkular und skeptisch sein. Umgekehrt ist der gläubige Mitbürger nicht per se eine Gefahr für die Demokratie. Es gibt für ihn schlicht „verschiedene Wege zur Anerkennung allgemeiner politischer Prinzipien, von denen keiner Vorrang genießt“.

Die Editionsgeschichte der beiden Texte ist an sich bereits eine sehr aufregende. Die Qualifikationsschrift zur Veröffentlichung frei zu geben, fiel seiner Frau und dem Nachlassverwalter schwer, denn der Verstorbene konnte ja der Publikation nicht mehr zustimmen. Zudem kann ein unausgegorenes Frühwerk (Rawls war 21, als er die „Senior Thesis“ schrieb) geradezu peinlich sein, weil der große Geist und die kreativen Ideen des bedeutenden Philosophen noch nicht auffindbar sein und formale Mängel noch nachträglich ein schlechtes Licht auf den berühmten Denker werfen könnten. Diese Sorgen erwiesen sich jedoch bei Begutachtung des Manuskripts als unbegründet und so konnten die Verantwortlichen für das Projekt gewonnen werden und gaben schließlich ihre Einwilligung. Den zweiten autobiografischen Text fand man nicht in Rawls Briefen, nicht in einem Tagebuch, nicht als handschriftliche Notiz, sondern als Dokument auf seinem PC, angelegt 1997 – ein editionstheoretisch interessantes Detail am Rande.

An dieser in ihrer Entstehungsgeschichte spannenden und hinsichtlich ihrer philologischen Bedeutung ganz besonders wertvollen Quellenedition haben namhafte Zeitgenossen und Kenner John Rawls’ mitgewirkt: Joshua Cohen und Thomas Nagel, die die Einleitung schrieben, Robert Adams, der Rawls’ theologische Ethik betrachtet und Jürgen Habermas, der in den letzten Jahren immer wieder zu Fragen der Religion Stellung bezogen hat. Er analysiert den Zusammenhang dieser Ethik des frühen Rawls mit der politischen Theorie des späten Rawls. Das Gesamtergebnis des Publikationsprojekts ist eine aufschlussreiche Darstellung vom und über den religiösen Rawls, ohne deren Berücksichtigung keine künftige Interpretation seiner Gerechtigkeitstheorie den nötigen Tiefgang wird erreichen können.

Titelbild

John Rawls: Über Sünde, Glaube und Religion.
Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Sebastian Schwark.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
343 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783518585450

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