Libidinöse Feste im Schatten der Krankheit

Gilbert Adairs fingierter Bericht über die Homosexuellenszene Anfang der 1980-Jahre verweigert sich einer moralischen Belehrung

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gilbert Adair ist vor allem für seine Kriminalromane und postmodernen Erzählexperimente bekannt, mit denen er in den letzten Jahren auch im deutschen Sprachraum erfolgreich war. Bei „Buenas Noches, Buenos Aires“, einem fiktiven Erfahrungsbericht aus der Pariser Homosexuellenszene der frühen 1980er-Jahre, handelt es sich nicht um einen neuen Roman. Die englische Originalausgabe ist bereits 2004 erschienen, mithin vor der Entstehung der „Evadne Mount“-Trilogie, mit der die meisten Leser Adair verbinden dürften. Es drängt sich der Verdacht auf, dass dieser Text erst nach den Erfolgen der jüngeren Vergangenheit ins Deutsche übersetzt wurde, um womöglich mit zweitklassigen, älteren Werken eines Erfolgsautors einen schnellen Profit einzufahren. Oder war die Zeit einfach noch nicht reif für dieses Buch?

Adairs Buch ist in der Tat durch und durch unzeitgemäß – 2004 nicht minder als heute. Seine radikale Verweigerung, eine sakrosankte Moral sowie einen scheinbar unhinterfragbaren medizinischen und hygienischen Diskurs zu bestätigen, machen die Beschäftigung mit diesem Buch zu einer schwierigen Angelegenheit, weit schwieriger als mit Adairs erzähltechnisch komplexeren anderen Werken. Hier wird eine moralische Positionierung des Lesers mit einem Nachdruck provoziert, der in Adairs Œuvre bislang beispiellos ist.

Sicher: Auch in Adairs Roman „Der Tod des Autors“ war mit der scheinbar so harmlosen Spielerei mit poststrukturalistischen Literaturtheorien eine in ihrer Heftigkeit erstaunliche politische Haltung verbunden, und mit dem Thema Homosexualität hat sich Adair bereits früher beschäftigt, vor allem in „Liebestod auf Long Island“. War aber dort die Darstellung der Homosexualität auf unerfülltes Begehren und eine nicht erwiderte Liebe begrenzt, wird dem Leser nun erheblich mehr zugemutet.

Der Text fingiert eine Schreibsituation, in der ein Ich-Erzähler bei der „vermutlich letzten Gelegenheit, bevor das Buch meines Lebens geschlossen wird“ innerhalb von 57 Tagen einen „Bericht“ über sein Leben anfertigt, um sich selbst „die Frage zu stellen, wer ich eigentlich bin und wer ich in den letzten vierundzwanzig Jahren war“. Dem Bekenntnischarakter dieser Situation entsprechend verwehrt sich der Text entschieden dagegen, ein „Roman“ zu sein – „nicht einmal einer von dieser verspielten postmodernen Sorte“. Vielmehr sei alles „hundertprozentig wahr“. Diese gerade in der Verleugnung ihrer Fiktionalität und Postmodernität hochgradig artifizielle (wenn auch nicht eben originelle, aber darum ist es dem echten Postmodernisten ohnehin nie zu tun) narrative Konstellation ist typisch für Adair, der sich stets einen Spaß daraus macht, die fragilen Grenzen von Realität und Fiktion erzählerisch zu verwischen.

Der zum Zeitpunkt der Niederschrift 24-jährige Gideon, der 1980 nach Paris zieht und dort an der Berlitz-School unterrichtet, hat als Jugendlicher herausgefunden, dass er sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlt. Allerdings ist er zunächst nicht im Stande, seine Sexualität auch auszuleben – und wenn er doch eine Eroberung macht, stellt er sich dabei stets reichlich ungeschickt an. Allzu häufig wird dem Leser von vorzeitigen Ejakulationen berichtet; der Grat zwischen Situationskomik und serieller Abnutzung erweist sich als schmal.

In Paris fühlt sich Gideon, der bereits in seiner Familie ein Außenseiter war, als Fremder und sucht nach einer eigenen Identität. Sein Sexualleben kann er nicht nennenswert verbessern. Im Lehrerzimmer der Berlitz-School indes fühlt sich Gideon „zu Hause“, nicht zuletzt, weil die meisten seiner Kollegen ebenfalls schwul sind und dies offen bekennen. Allerdings muss er alsbald schmerzlich erkennen, dass er auch hier ein Außenseiter ist, da er den hedonistischen, von sexuellen Ausschweifungen geprägten Lebensstil der Kollegen aus Mangel an Erfolg nicht teilt. Um sich Anerkennung bei den mit ihren Eroberungen unverhohlen und sehr detailliert prahlenden anderen Lehrern zu verschaffen, beginnt er, ihnen immer extremere und hemmungslosere Fantasiegeschichten aufzutischen – mit dem Erfolg, vermittels dieser Schwindeleien endlich in die „schwule Freimaurerloge des Lehrerzimmers“ aufgenommen zu werden. Die Lüge wird Gideon zum Lebensprinzip, erst durch sie gelingt es ihm, zu einer Identität als sexuell aktiver Schwuler zu finden.

Nachdem zunächst die Schilderung diverser mehr oder weniger verstörender Sexualfantasien dominiert, tritt etwa bei der Hälfte des Berichts ein neues Element hinzu – diffuse Gerüchte über eine mysteriöse neue Krankheit, die als „Schwulenkrebs“ bezeichnet wird, machen die Runde. AIDS tritt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, wobei diese neue Bedrohung nicht allzu ernst genommen wird. Zwar wird pausenlos über AIDS gesprochen, das zügellose Verhalten der Pariser Schwulenszene ändert sich aber nicht. Der tödliche Ernst wird erst dann greifbar, als sich einer nach dem anderen von Gideons homosexuellen Bekannten mit HIV infiziert. Allmählich ändert sich die Stimmung und die Lebensweise: Eigenschaften wie Ausgelassenheit, Schwung, Eleganz und Elan, die zumindest für Gideon „fast noch wichtiger gewesen waren als die physischen, waren verflogen“. Die schwule Identität, wie Gideon sie begreift, steht auf dem Spiel.

Nachdem Gideon sich als gesunder Schwuler unter infizierten Freunden erneut als Außenseiter fühlt, ist er keineswegs erleichtert, nicht selbst krank zu sein, sondern beginnt sich zu wünschen, „dass die verdammte Krankheit mich selbst erwischen würde, wenn ich mich dafür wieder als Teil einer Familie, einer Gemeinschaft fühlen konnte“. Obschon diese „Verwirrung“ eine vorübergehende ist, fordert er sein Schicksal heraus – aus Panik, den Spaß, den bislang alle außer ihm selbst hatten, nie bekommen zu können. Im vollen Bewusstsein der Risiken begreift Gideon AIDS nun als seine „große Chance“, da er darauf hofft, dass sich, da „immer weniger Homosexuelle weiterhin aktiv waren […], zwangsläufig ihre Erwartungen an die Qualitäten ihrer Partner senken mussten“.

Und so stürzt sich Gideon in ungezählte sexuelle Eskapaden. Endlich, als die Krankheit bereits die schwule Kultur verändert, gelingt es ihm, die eigene schwule Identitätskonstruktion mit Leben zu erfüllen, auch wenn er dafür Fantasie und Lüge mit einer „tödlichen Dosis Realität“ eintauscht. Ohne irgendetwas zu bedauern, wohl aber voller Stolz auf die eigene Identität und die Zugehörigkeit „zu der einzigen Gruppe, der einzigen Familie, der einzigen Bruderschaft […], der ich jemals wirklich angehören wollte“, beendet Gideon seinen Bericht. Moralische Warnungen vor den Folgen der ungesunden Lebensweise enthält der Erzähler seinem Leser vor.

Gleiches gilt auch für differenzierte Bewertungen der Krankheit. Das Bild, das von einer dezidiert schwulen Lebensweise entworfen wird, ist mit Exzessen und Sorglosigkeit verbunden und stellt, wie zu Beginn der 1980er-Jahre sicherlich gängig, eine direkte Verbindung von AIDS und Homosexualität her, die ihrerseits auf ein animalisches Lustprinzip reduziert wird und in der Bindungen, Emotionen oder gar Liebe keinen Platz haben. Die Figuren erscheinen nahezu ausnahmslos als wollüstige Perverse, die bisweilen gar pädophil sind. Diese implizite Homophobie des Textes einerseits und andererseits das stolze Bekenntnis zur Homosexualität, die sich nicht zuletzt über eine Krankheit konstituiert, erregen ein Unbehagen, das mit der behaglichen Krimilektüre anderer Adair-Bücher überhaupt nichts mehr gemein hat.

Die nachgerade enzyklopädische Auflistung extremer sexueller Praktiken und verschiedener, meist spleeniger Sexualpartner gerät zuweilen durchaus enervierend. Zur Prüderie neigende Leser dürften sich von den zahlreichen expliziten Schilderungen sexueller Perversionen unangenehm berührt fühlen, wobei die hin und wieder in ihrer Drastik schockierende Darstellung nicht auf einen oberflächlichen Ekeleffekt zielt, sondern mit geradezu ethnografischer Intention die Lebensweise einer Szene zu beschreiben sucht, deren Maßlosigkeiten in einem kausal gedachten Verhältnis zur sich ausbreitenden Krankheit stehen, die diese Szene sowie das gesamte Denken über Sexualhygiene nachhaltig veränderte. Durch die vehemente Zurschaustellung einer moralischen und hygienischen Abweichung hinterfragt der Text die Normen, die den öffentlichen Sexualdiskurs dominieren, in einem ähnlich Ausmaß wie Charlotte Roches (freilich thematisch doch wieder ganz anders gelagerter) „Feuchtgebiete“-Bestseller. In Adairs humorig dargebotener Verweigerung, die mit einem pathetischen Bekenntnis zur konstruierten schwulen Identität noch und gerade angesichts der tödlichen Krankheit einhergeht, liegt die Zumutung dieses Buches.

Titelbild

Gilbert Adair: Buenas Noches, Buenos Aires.
Übersetzt aus dem Englischen von Jochen Schimmang.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
176 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783406605185

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