„Der blutige weiße Baron“

James Palmer liefert mit der Rekonstruktion des Lebens und der kurzen Herrschaft des Barons von Ungern-Sternberg in der Mongolei zugleich auch eine Studie über die Machtkämpfe der Russen, Chinesen und Japaner zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Nordostasien

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dieses Buch erzählt die Geschichte des Freiherrn Roman Nikolaj Maximilian von Ungern-Sternberg, des letzten Khans der Mongolei, der sich in einem einzigen Jahr vom russischen Adligen zur Inkarnation des Kriegsgottes und zum wiedererstandenen Khan entwickelte. In der Mongolei wurde er als Held gerühmt, als Teufel gefürchtet und als Gott verehrt. Auf seine Geschichte stieß ich rein zufällig in einem von Peter Hopkirks brillanten Berichten über die Spionage in Zentralasien, nämlich Setting the East Ablaze. In den frühen zwanziger Jahren hatte sich ein weißrussischer Baron und Generalmajor der Kavallerie, ein magerer Mann von heftiger Gemütsart, das Gesicht von grässlichen Narben bedeckt, in die Mongolei durchgeschlagen, die chinesischen Besatzer besiegt, das Land unter seine Herrschaft gebracht, es kurze Zeit grausam regiert und eine mongolische Armee aufgestellt, um sie gegen Russland zu führen. Diese Geschichte hätte nur eine der vielen blutigen Episoden in dem endlosen Schrecken des russischen Bürgerkriegs sein können; was sie jedoch zu etwas Besonderem machte, war eben gerade dieser seltsame Mensch Ungern-Sternberg.“

Dieser kurze Ausschnitt aus der Einleitung zu James Palmers „Der blutige weiße Baron“ fasst nicht nur in aller Kürze die „Geschichte eines Adligen, der zum letzten Khan der Mongolei wurde“, so der Untertitel seiner Monografie, zusammen. Der Abschnitt zeigt auch auf, was den 1978 geborenen britischen Reisejournalisten vor allem veranlasst hat, sich die Zeit des Ersten Weltkriegs und des Russischen Bürgerkriegs als Sujet seines ersten Buches, das 2008 unter dem Titel „The Bloody White Baron“ erschienen ist, auszuwählen: Es ist die extreme Persönlichkeit seines Protagonisten, dessen Denken und Handeln teilweise stark konträre Ideen und Weltanschauungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Epoche prägen, in sich vereint. Doch abgesehen davon, schreibt Palmer, „[a]n Ungern selbst gibt es sehr wenig Liebenswertes. Er war in fast jeder Hinsicht ein schrecklicher Mensch; seine nahezu einzige bewundernswerte Eigenschaft war seine wahnsinnige körperliche Tapferkeit und vielleicht bis zu einem gewissen Grad seine Faszination für den Osten. An einem normalen Alltagsleben schien ihm sehr wenig zu liegen; seine Vergnügungen waren gewalttätig, und er lebte in einer Welt, die den Werten, an die er glaubte, zunehmend – und zu Recht – feindselig gegenüberstand.“

Einschließlich der Einleitung und des Epilogs sind es insgesamt elf Kapitel, in denen sich James Palmer daran macht, den Lebensweg Roman von Ungern-Sternbergs nachzuzeichnen. Geboren Ende 1885 (Anfang 1886 nach dem gregorianischen Kalender) im österreichischen Graz als Sohn eines deutschstämmigen estnischen Vaters und einer deutschen Mutter lassen sich die Eltern wenige Jahre nach seiner Geburt scheiden. Die Mutter heiratet 1894 ein zweites Mal und zieht zu ihrem neuen Ehemann Oscar von Hoyningen-Huene nach Reval (dem heutigen Tallin), wo ihr Sohn seine restliche Kindheit und Jugend in einem multikulturellen, aber nicht unbedingt toleranten Umfeld inmitten von deutschen Gutsbesitzern und Verwaltungsbeamten, russischen Besatzungstruppen und estnischen Bauern verbringt. Palmer räumt in diesem Zusammenhang ein, dass sich nur Bruchstücke über diesen frühen Lebensabschnitt Ungern-Sternbergs erhalten hätten, diese jedoch würden auf ein „brutales und impulsives Kind“ hinweisen.

Der Jugendliche, der vom Standesdünkel seiner adligen Ahnen, ihrer Geringschätzung der anderen Schichten und Ethnien in Estland im Laufe seiner Entwicklung stark beeinflusst wird, erinnert nach Palmers Darstellung schon in dieser frühen Zeit sehr an den schwierigen, einzelgängerischen Erwachsenen: „Zu dem Zeitpunkt, als er in die Schule eintrat, war er ein willensstarker junger Mann, hoch aufgeschossen und athletisch und nicht bereit, sich den Schulregeln zu unterwerfen oder den Lehrern zu gehorchen, die er als unter sich stehend sah.“ Sein fester Glaube an die Zarenherrschaft als der „natürlichen Ordnung“ der Dinge veranlassen ihn – neben seinen mangelnden schulischen Leistungen –, sich freiwillig für den Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 zu melden. Allerdings kommt er nicht mehr zu einem gefährlichen Einsatz. Die großen Schlachten sind bereits geschlagen. Die Japaner gehen dazu über, ihre Streitkräfte zu verstärken, um das Gewonnene zu erhalten. Die Russen sind dagegen dazu nicht fähig, da ihre Niederlage zu zahlreichen Aufständen und Unruhen im eigenen Land geführt hat. Diese weiten sich schließlich zur ersten Russischen Revolution aus, werden in der Folge aber durch das Militär niedergeschlagen und durch das Versprechen des Zaren, freie Wahlen und sozialen Reformen durchzuführen, vorläufig eingedämmt.

Es sind diese als gewaltig empfundenen Ereignisse, das Schwanken des Zarentums und damit die Infragestellung der bisherigen, von den besitzenden wie den kirchlichen Kreisen als göttlich bezeichneten gesellschaftlichen Ordnung in Folge von Krieg und Bürgerkrieg, die Ungern-Sternbergs reaktionäres, stark von Antisemitismus geprägtes Weltbild zementieren. In dieser Zeit, während seiner Ausbildung an der Militärakademie Paul I. (Pawlowskoe) in Petersburg, wächst, so schreibt Palmer, bei dem Baltendeutschen auch ein großes „Interesse für eher esoterische Themen. Er scheint viel über Buddhismus, Okkultismus und allgemein über Religion gelesen zu haben, aber auch westliche Philosophie und Literatur – vor allem liebte er Friedrich Nietzsche und Dante Alighieri. Nietzsche, der bei den Pawlowskoer Studenten sehr beliebt war, beeinflusste ihn ebenfalls. Er entwickelte dabei die typischen Züge eines intelligenten, aber engstirnigen Autodidakten: Verachtung für die Intelligenzija, einen glühenden Glauben an seine eigenen Erkenntnisse und Argumente und eine gefährliche Leichtgläubigkeit gegenüber ungewöhnlichen Randerscheinungen des Glaubens.“

Je weiter seine Monografie voranschreitet, desto mehr weiß Palmer über Ungern-Sternberg zu berichten, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass die Materiallage über den deutschrussischen Militär in seiner zweiten Lebenshälfte besser ist. Die daraus resultierenden Lücken besonders im ersten Teil von „Der blutige weiße Baron“ füllt der Autor mit Hintergrundinformationen zu der langen Geschichte der Familie des Protagonisten, die bis ins Mittelalter zu den deutschen Ordensrittern reicht. Der Autor beschreibt anschließend ausführlich die politische, wirtschaftliche, ethnische und religiöse Situation in Estland und später, als es um den Einsatz Ungern-Sternbergs in Sibirien und der Mongolei vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg geht, auch die Lage in Nordostasien. Eine wichtige, wenn auch kritisch zu hinterfragende Quelle für die zweite Hälfte von Palmers Monografie ist dabei das erstmals 1922 erschienene Buch „Beasts, Men und Gods“ des polnischen Schriftstellers und Journalisten Ferdinand Ossendowski (1876-1945). Dieser beschreibt in seiner äußerst erfolgreichen Publikation unter anderem seine Erlebnisse mit Ungern-Sternberg im Fernen Osten. Allerdings wird ein Großteil von Ossendowskis Asien-Schilderungen von James Palmer als „pure Erfindung“ bezeichnet. Zur Untermauerung nimmt er auf den Forschungsreisenden Sven Hedin (1865-1952) Bezug, der in einem eigenen kleinen Buch Ossendowskis Passagen über seine Tibetreise als „reine Fiktion“ bezeichnet hat.

Der Schwerpunkt, der zugleich auch die Stärke von Palmers Buch ausmacht, liegt indes auf der Darstellung der Geschehnisse in Sibirien, der Mongolei und dem Nordosten Chinas in den Jahren vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Ungern-Sternberg, der bis dahin im Großen und Ganzen ein orientierungsloses Leben führt, findet für sich plötzlich einen Lebenssinn, erhält er doch eine Aufgabe, die ihn erfüllen und von der er bis zu seinem gewaltsamen Tod 1921 nicht lassen wird: Kennt er Ostasien schon in den Jahren vor 1914, so kehrt er drei Jahre später, nach seinem Einsatz an der deutsch-russischen Front sowie im Kaukasus, im Auftrag der Provisorischen Regierung in den Osten Russlands zurück, um dort anfangs noch unter dem Kosaken-General Grigori Semjonow (1890-1946) die Kontrolle der Russen in diesem für ihre Nachschublieferungen wichtigen Gebiet aufrechtzuerhalten. Der Ausbruch der Revolution in der Heimat 1917 findet vor allem in Ungern-Sternberg, der darin eine „jüdisch-bolschewistische“ Verschwörung gegen die „göttliche Ordnung“ des Zarentums sieht, einen erbitterten Gegner. In der Folgezeit versammelt er „weiße“, antikommunistische Russen, ferner eine Vielzahl von Einheimischen, Mongolen und Burjaten, schließlich auch Chinesen und Japaner um sich. Er führt aus der Mongolei immer wieder Angriffe gegen seine Feinde aus und macht dabei keinen Unterschied zwischen militärischen Gegnern und unschuldigen Zivilisten. Vor allem Juden und Kommunisten behandelt er äußerst grausam, was ihm bei der örtlichen Bevölkerung auch den Beinamen des „verrückten“ oder auch „schwarzen Barons“ einbringt.

In den Passagen, die den Welt- und Bürgerkrieg behandeln, erscheint der Baron allerdings dann als ein Akteur neben vielen anderen. Palmer setzt den Fokus in diesen Partien nämlich primär darauf, die chaotischen Verhältnisse nach dem Zusammenbruch der russischen Monarchie im Nordosten Asiens wie in einer Geschichtsstudie möglichst genau nachzuzeichnen. Die lokalen Kämpfe in diesem eher abgeschiedenen Weltteil erhalten eine globale Bedeutung, wenn man erfährt, dass neben („weißen“ wie „roten“) Russen und Chinesen auch die Japaner (wie ähnlich später auch in den 1930er-Jahren) versuchen, die Kontrolle vor allem über die äußere wie innere Mongolei sowie die Mandschurei zu gewinnen. Die mögliche Nutzung der Transsibirischen Eisenbahn erhöht noch zusätzlich das Interesse der hier agierenden Großmächte, zu denen nach ihrem Kriegseintritt 1917 auch die US-Amerikaner zählen, für diese so nur scheinbar am Rand des Krieges liegenden, schließlich auch an wichtigen Rohstoffen reichen Gebiete.

Für die Beurteilung der Rolle Ungern-Sternbergs in den Jahren bis zu seinem Tod ist resümierend zweierlei festzuhalten: Palmer betont auf der einen Seite zu Recht die für heutige Leser mehr als erstaunliche Motivation des vom mongolischen Buddhismus faszinierten Barons, nämlich als ein wiedererstandener Dschinghis Khan ein neues östliches Reich, das sich von China bis zum Ural erstrecken sollte, zu begründen. Und dass er dabei nicht nur reale wie vermeintliche Gegner skrupellos und massenweise tötet, sondern auch nicht davor zurückschreckt, seine eigenen Truppen immer wieder zu im Grunde aussichtslosen Angriffen gegen die Rote Armee zu bewegen und sie auf diese Weise sinnlos zu opfern, darauf macht der Autor ebenfalls immer wieder aufmerksam. Auf der anderen Seite gewinnt ein anderer kriegspolitisch wichtiger Aspekt bei Palmer weniger Beachtung und soll hier daher stärker unterstrichen werden: Dass nämlich der „blutige weiße Baron“ nicht etwa selbstvergessen den Traum vom mystisch-buddhistischen Reich unter der offiziellen Führung des damaligen religiösen Oberhaupts des mongolischen Buddhismus, des Bogd Khan (1869-1924), anpeilt. Ungern-Sternberg, über den in seinen letzten Lebensjahren aufgrund seiner extremen Strenge und Grausamkeit viele Geschichten und Legenden kursieren, plant seine militärischen Vorstöße gegen seine Gegner zielorientiert. Diese leiden allerdings unter dem ständigen Mangel an ausreichend Männern und Ausrüstung, wofür sich der Baron denn auch wiederholt der Hilfe der Chinesen und Japaner bedient. Diese nutzen ihrerseits aber auch geschickt ihr Verhältnis zu ihm und spannen ihn so für ihre eigenen Zwecke ein.

Will man Baron von Ungern-Sternbergs Lebensweg, insbesondere sein Vorgehen in den Jahren seines Kampfes für ein neues mongolisches Reich verstehen, ist es gerade im vorliegenden Fall notwendig, sich genau mit dem Wechselverhältnis zwischen den politischen und militärischen Entwicklungen auf der einen Seite und dem der geistesgeschichtlichen Strömungen auf der anderen Seite im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Aufgrund der schwierigen Materiallage zu dem „blutigen weißen Baron“ ist der Autor gerade hier ganz zwangsläufig drauf angewiesen, sich besonders stark mit der Epoche, in der Ungern-Sternberg gelebt und deren Ideen ihn nachhaltig geprägt haben, zu befassen. Palmers Monografie ist, so gesehen, der Versuch einer Lebensdarstellung und historischen Studie in einem. Sie hat zum Ziel, die Entwicklung des Protagonisten, sein Denken und brutales Handeln, das auf spätere, im Zweiten Weltkrieg begangene Verbrechen voraus weist, in den Kontext seiner Epoche zu setzen. Dort, wo das Buch aufgrund des bruchstückhaften Wissens über den Baron lediglich nur Vermutungen anstellen kann, macht es dieses Manko auf der anderen Seite durch anschaulich vermittelte, meist gut recherchierte Hintergrundinformationen wett und lenkt auf diese Weise nicht zuletzt den Blick auch auf historische Ereignisse in Sibirien, der Mongolei und im Nordosten Chinas, die in hiesigen populärwissenschaftlichen Sachbüchern eher wenig behandelt werden.

Titelbild

James Palmer: Der blutige weisse Baron. Die Geschichte eines Adeligen, der zum letzten Khan der Mongolei wurde.
Übersetzt aus dem Englischen von Nora Matocza und Gerhard Falkner.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
372 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783821862347

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