Ohne Empathie

Ida Jessens Roman „Das Erste, woran ich denke“ ist schlecht übersetzt und sucht Zuflucht in kitschigen Klischees

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein schreckliches Ereignis, der Tod eines Kindes, bildet den Mittelpunkt des Romans „Das Erste, woran ich denke“ der dänischen Autorin Ida Jessen. Die Trauer der Eltern über diesen gravierenden Verlust ist das Hauptthema dieses Buchs, das aus der Sicht einer Freundin erzählt wird, die zufällig zu Besuch ist, als das Schreckliche geschieht. Brigitta, die Ich-Erzählerin, ist Autorin und befindet sich in einer Schreib- und Lebenskrise. Sie besucht Lisa, die Freundin aus Kindertagen. Lisa ist mittlerweile Pastorin in einem Dorf. Brigitta kommt an, kurz bevor Lisas Sohn Gustav seinen siebten Geburtstag feiert. Lisa und Fredrik, ihr Mann, schenken ihrem Sohn zu seinem Geburtstag ein Fahrrad. Als er nach einem gemeinsamen Ausflug bei einem Freund geblieben ist, wird er auf der Rückfahrt zu seinen Eltern, die er eigensinnig allein antritt, von einem Auto überfahren.

Zweifellos ist das ein bedrängendes Thema, dem sich aber der Roman von Ida Jessen nicht gewachsen zeigt. Denn zuerst werden das Bangen der Eltern, ob ihr Kind, das schwer verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, überleben würde und schließlich die Trauer, als es gestorben ist, auf merkwürdige Weise von den im Vergleich dazu banalen Problemen einer Schreib- und Identitätskrise der Ich-Erzählerin überlagert. Zugleich wird die Geschichte der beiden Kinderfreundinnen aus der Retrospektive erzählt, Kindheitserlebnisse der beiden Pferdenärrinnen bis hin zu den Rivalitäten in der Pubertät und das Auseinanderleben durch den Besuch verschiedener Gymnasien und das spätere Studium. Und nun, kurz bevor der Junge der Pastorin zu Tode kommt, treffen sich die beiden erwachsenen Frauen wieder und verhalten sich wie beste Freundinnen. Oder tun zumindest so. Das ist sehr konstruiert und ohne echte Anschauung und Leben. Die Vorgeschichte der Protagonistinnen beispielsweise wird sehr hölzern und fast schulbuchartig wie aus einem Lehrbuch für Psychologie abgeschrieben geschildert.

Dieser Roman von Ida Jessen ist ein Buch, das den Ehrgeiz hat, unterschiedlich schwere psychische Verwerfungen verschiedener Personen nachzuerzählen. Was der Autorin jedoch weder anschaulich noch nachfühlend gelingt. Denn es ist ein merkwürdig empathielosen Buch, das oft Zuflucht im kitschigen Klischee sucht. Die gesamte Konstruktion ist zu gewollt, weshalb man sie ständig spürt und vor Augen hat, was jedem Lesegewinn den Garaus macht. Zu den konstruktiven Mängeln und Unglaubwürdigkeiten kommt im Deutschen hinzu, dass es ganz offensichtlich von Angelika Gundlach mäßig übersetzt ist und nahezu keinen Skandinavismus auslässt („vergiß alles, was ich gesagt habe. Willst du?“ – „Die Kinder sind so eng mit ihr“ – „Am Anfang vermißte ich sie, das tat ich.“ ) Ein Lektorat scheint diese Übersetzung nicht gesehen zu haben. Überhaupt klingt die Sprache des Romans oft sehr gestelzt. Ob das der Übersetzung geschuldet ist oder dem Original, kann der Rezensent, der das Original nicht kennt, jedoch nicht entscheiden.

Titelbild

Ida Jessen: Das Erste, woran ich denke. Roman.
Übersetzt aus dem Dänischen von Angelika Gundlach.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
271 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783518461952

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