Von Zoohandlungen, japanischen Nudeln und Weltuntergängen

Nicolas Dickners kurioser Roman „Tarmac“ ist eine Wundertüte voller Skurilitäten

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

David Suzuki gehört laut der Fernsehsendung „The Greatest Canadian“ von 2004 zu den fünf bedeutendsten Kanadiern. Der Träger des Alternativen Nobelpreises vertritt seit langer Zeit die Ansicht, dass man mit einfachen Änderungen an seinem Lebensstil zum Schutz der Umwelt und verbesserter Lebensqualität beitragen kann. Er tritt ein für erneuerbare Energien, setzt auf Nachhaltigkeit und thematisiert unermüdlich die Folgen der globalen Erwärmung. Außerdem ist er seit über 30 Jahren Moderator der auf „CBC“ ausgestrahlten Wissenschaftssendung „The Nature of Things“.

Hier nun kommt der 1972 geborene kanadische Schriftsteller Nicolas Dickner ins Spiel, denn die Protagonisten seines zweiten Romans, „Tarmac“, Hope und Mickey, sehen sich eben diese Sendung gerne an. Doch erst einmal mussten sie sich kennenlernen. Das war im Sommer 1989. Mickey trabt ziellos durch Rivière-du-Loup, als er im Stadion ein ihm unbekanntes Mädchen entdeckt. Noch bevor er sich vorstellen kann, erzählt sie ihm ansatzlos, dass sie in der Nacht zuvor von der Atombombe von Hiroshima geträumt habe. Das mag außergewöhnlich sein, doch wenn man im Verlauf des Buches erfährt, dass Hope Randall einen IQ von 195 hat und aus einer Sippe von höchst eigenartigen Menschen den vorläufigen Endpunkt darstellt, ist das schon nicht mehr so verblüffend. Ihre Vorfahren bis hin zu ihrer Mutter haben nämlich allesamt ihr persönliches Weltuntergangsdatum ermittelt, was die jeweilige Person in höchste Erregung versetzt, den Rest der Welt aber kalt gelassen hat. Hopes Mutter hat nun ihr Datum erfahren, weswegen sie ihre Tochter in einen alten klapperigen Lada gestopft hat, der schon übervoll war mit Konserven, Ramennudeln und einer umfangreichen zusammengeklauten Bibelsammlung. Und so flohen Mutter und Tochter aus Neuschottland gen Westen. In Rivière-du-Loup gab die alte Kiste den Geist auf, weswegen sie kurzerhand in die ehemalige Zoohandlung „Die Arche Noah“ einzogen, wo der „Gestank von Papageienscheiße, Katzenkot und Chinchilla-Urin“ vom asiatischen Frittiergeruch des „Chinese Garden“ von nebenan nicht wirklich überdeckt wird.

Um ansatzweise verstehen zu können, mit wem man es als Leser hier zu tun hat, beschreibt Nicolas Dickner die Randall-Sippe wie folgt: „Der Familienstammbaum der Randalls wäre bestens dafür geeignet, an ihm die Geschichte der nordamerikanischen Psychiatrie über die letzten einhundertfünfzig Jahre aufzuzeigen, vom eiskalten Duschen über die Lobotomie, die Beschäftigungstherapie, die Zwangsjacke und das Lithium bis zur offenen Psychiatrie.“

Auch Ann, Hopes Mutter, leidet unter seelischen Deformationen, weswegen ihre Tochter den Morgentee mit dem Neuroleptikum Clozapin anreichert, um die Mutter einigermaßen durch den Tag zu bringen. Sie selbst bringt sich Sprachen bei, sieht sich mit Mickey oben erwähnte Fernsehsendung im Keller seines Elternhauses an und ermittelt durch Würfeln ihr persönliches Weltuntergangsdatum, den 17. Juli 2001, der ihr irgendwie nicht passt, den anzuzweifeln jedoch keinen Sinn macht. Und während sie noch überlegt, welches Datum ihr lieber wäre (wenn sie die Wahl hätte), entdeckt sie auf der Packung „Captain-Mofuku-Nudeln“, die gerade im Kochwasser liegen, das Verfallsdatum derselben: 17.7.2001. Fortan wird Hope von diesem Datum dominiert, Mickey kann dagegen wenig ausrichten.

Trotzdem bleiben die beiden Jugendlichen unzertrennlich, finden einen Ferienjob in einer Zementfabrik, nisten sich in Mickeys Bunker ein, wo sie weiterhin Fernsehen – Schwerpunkte sind Naturkatastrophen, Kriege, und Umweltverschmutzung –, reden und Nudeln essen. Während einer Party, zu der die Beiden, die sonst eher selten am sozialen Leben teilnehmen, ausnahmsweise gehen, entdeckt Hope in einem alten Spider-Man-Heft folgende Anzeige: „SEID BEREIT! Der Weltuntergang kommt am 17. Juli 2001. Lesen Sie heute schon Die Prophezeiungen von Charles Smith, bereits in 18 Sprachen übersetzt (auch ins Tibetanische).“ Darunter eine Postfachadresse, wo eben jene Prophezeiungen zu bestellen sind.

Hope gerät außer Rand und Band, das Buch, dessen Titel im Übrigen eine geteerte Fahrbahn oder ein asphaltiertes Rollfeld bezeichnet, erfährt eine erzählerische Wendung, da Mickey nun berichtet, was die überstürzt gen New York abgereiste Hope unternimmt. Dieser zweite nicht minder verwirrende, voller Anspielungen und kluger und witziger Formulierungen gespickte Teil zeigt Hope Randall auf ihrer Odyssee in Sachen Terminklärung. Wer ist dieser Charles Smith, warum muss sie weiter nach Tokyo, wen trifft sie dort und warum flieht ein ganzes Unternehmen beinahe täglich vor ihr?

„Tarmac“ ist eine riesengroße Wundertüte voller Skurrilitäten, ein Wirbelwind von einem politisch und ökologisch motivierten Roman, der uns en passant die vergangenen 20 Jahre anhand wichtiger weltpolitischer Ereignisse ins Gedächtnis zurückruft. Ein atemberaubendes Turbobuch zweier unangepasster Jugendlicher, die nicht on the road sind, sondern die im Keller hocken und versuchen, sich die Welt zu erklären. Ein Buch, das uns in 97 Kurzkapiteln und in einer wunderbar erfrischenden und mit vielen originellen Bildern überraschenden Sprache vermittelt, wie verrückt, komplex und unverständlich eben diese Welt ist. Bitte anschnallen.

Titelbild

Nicolas Dickner: Tarmac. Apokalypse für Anfänger.
Übersetzt aus dem Französischen von Andreas Jandl.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2011.
249 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001711

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