Düsseldorf – Lodz – Chelmno

Angela Genger und Hilfegard Jakobs präsentieren Früchte der lokalhistorischen Forschung über den Holocaust

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Sonntag, den 26. Oktober 1941, konnten die Einwohner vieler Städte des nördlichen Rheinlands beobachten, wie – je nach Schauplatz – einige Dutzend oder Hundert ärmliche Männer, Frauen und Kinder durch die Stadt gingen. Einst hatten diese sich „Deutsche“ nennen dürfen, waren mitunter gerne welche gewesen oder gar stolz darauf. Das aber, was deutsch werden wollte, hatte ihnen zu dem Zeitpunkt, als sie durch sie Stadt gingen, bereits einige Jahre lang gezeigt, wer deutsch sein darf und wer nicht. Das, was deutsch geworden war, hatte ihnen seit 1933 vorgeführt, was ‚deutsch sein‘ heißt: Ausgrenzung, Verhöhnung, alltägliche Diskriminierung, Verfolgung, Raub. Die deutsch gewordene Rassenhorde hatte denjenigen, die sie als „Juden“ benötigte, nicht mehr viel gelassen. Von dem, was ihnen geblieben war, schleppten sie an jenem Herbsttag noch einige Bündel zu ihrem vorläufigen Bestimmungsort, einem Schlachthof im Düsseldorfer Stadtteil Derendorf. Während der Shoah zeigten die Deutschen so viel Feingefühl für Symbolik und waren sie so sehr Meister im Erzeugen von Bedeutung, dass der Ort vielleicht nicht von ungefähr ausgewählt worden war.

Das vorliegende Buch ist das Ergebnis von acht Jahren Recherche diverser Lokalhistoriker. Die Herausgeberin Angelika Genger ist seit 1988 Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf. Die andere Herausgeberin, Hildegard Jakobs, ist dort auch Mitarbeiterin. Der umfangreiche und großformatige Band versammelt viele Details. Es gibt viele Fotografien sowie Abbildungen von Dokumenten und Tabellen. In langen Listen haben die Autoren jedes deportierte Individuum festgehalten.

Die Deportation vom 26. Oktober 1941 war die erste größere im nördlichen Rheinland. Es geht aber nicht nur um sie, sondern sie wird in den Gesamtprozess der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik gestellt. Sie hat eine Vorgeschichte: So resümiert Bastian Fleermann die Situation der Juden im Regierungsbezirk Düsseldorf zwischen November 1938 und Oktober 1941. Die Juden waren bereits in so genannten Judenhäusern konzentriert und damit von der restlichen Bevölkerung isoliert. Sie waren nur noch Schattenwesen: Sie vegetierten und hungerten langsam vor sich hin, wurden sukzessive beraubt und durch eine Heerschar einfallsreicher Deutscher mit Verordnungen aus dem öffentlichen Leben verbannt.

Von den 5.053 Juden, die 1933 registriert waren, waren 1939 nur noch 1.813 übrig. Die anderen waren geflüchtet, trotz aller Hindernisse, die die Deutschen, die sie doch – angeblich – eigentlich loswerden wollten, in den Weg legten. Wer fliehen konnte, der entkam aber nicht automatisch, sondern wurde im europäischen Ausland von den Deutschen eingeholt. Die Juden des Regierungsbezirks Düsseldorf mussten seit 1941 den so genannten Judenstern tragen, der im Dezember 1939 in den besetzten Ostgebieten erstmalig eingeführt worden war. Und die deutsche Bevölkerung achtete peinlich genau darauf, dass die Juden die Verordnung einhielten, infomiert Fleermann.

Ingrid Schupetta und Angela Genger zeigen en détail, wie die Deportation auf lokaler Ebene durch den Gestapobezirk Düsseldorf organisiert wurde. Aber wie die vorhergehende Ausrenzung war auch die Deportation keine Einzelaktion der Gestapo. Das Resümee des Historikers Raul Hilberg wird wieder einmal bestätigt, dass nämlich „ein Führer oder ein Befehl allein nicht zur Vernichtung ausgereicht“ hätte. Dieser beispiellose Vorgang war vielmehr „das Produkt einer Vielzahl von Einzelinitiativen, langwieriger Verhandlungen und wiederholter Anpassungen von diversen separaten Machtstrukturen, die sich voneinander in Tradition und Gebräuchen unterschieden, sich aber in ihrem unergründlichen Willen vereinigten, das Nazi-Regime bis an die Grenzen seiner Vernichtungskraft zu treiben.“

Und die Deportation hat auch eine Nachgeschichte: Denn die Deportierten kamen nicht gleich in ein Vernichtungslager, sondern ins Getto Lodz (Litzmannstadt). Über dieses Getto informiert die Spezialistin Andrea Löw. Hannelore Steinert und Angela Genger schildern die ersten Monate in Lodz, wo die Juden zwei Tage später ankamen. Es geht um Alltagsprobleme. Aber kann das noch so nennen? Kann man sagen, dass sie sich um ihre „Unterbringung“, um ihre „Arbeit“ und um ihre „Versorgung“ kümmern mussten, wenn alles, was sie von nun an umgab, sie über kurz oder lang umbrachte?

Das Getto war auch kein Getto im Sinne des mittelalterlichen Gettos, in das die Juden sich – mehr oder minder erfolgreich – zurückzogen, wenn der Mob Lust aufs Pogrom hatte. Es ist keine Anordnung bekannt, wonach die Gettos so einzurichten seien, so dass sie Sterbe-Topoi sein sollten. Aber überall wurden sie dutzendfach so eingerichtet. Bereits die ‚Fahrt‘ zu ihnen hin war keine „Reise“, sondern nach der Aushungerung und alltäglichen Strangulierung in Deutschland eine Phase einer wochen- bis monatelangen Folter, während der die einen früher, die anderen später zugrunde gingen.

„Ein Fremdling in Europa ist der Tod von Litzmannstadt-Getto“, heißt es in einem in dem vorliegenden Buch abgedruckten Manuskriptfragment des aus Prag stammenden Schriftstellers und Journalisten Oskar Singer vom 27. Juli 1942. „Vielleicht haben unsere Vorfahren Aehnliches erlebt. Der neuzeitliche Mensch aber hat einen solchen Tod nicht gekannt, nicht gesehen, nicht erlebt. Nur ein ganz kurzer Lebensabschnitt musste aus der alten Bahn geraten und schon hat auch der Tod sein Antlitz geändert. Die Wandlung des Lebensstandards hat sich mit einer Rasanz vollzogen, die auch die kühnste Phantasie nicht erahnen konnte.“

Das, was nach allgemeiner Ansicht erst Vernichtung war, wurde im Vernichtungsort Chelmno (Kulmhof) vollzogen. Hannelore Steinert und Angela Genger berichten über die Transporte dorthin, die im Mai 1942 begannen. Hildegard Jakobs, Immo Schatzschneider und Angela Genger haben auf zwölf Seiten die Namen der 474 Juden des Düsseldorfer Transports aufgelistet, die in diesem Monat in Chelmno in speziellen Wagen vergast und dann vergraben oder verbrannt oder erst das eine und dann das eine wurden. Wer sich die Mühe macht, in der langen Tabelle die Rubrik „letzter Wohnsitz“ durchzugehen und aus der Gegend der Deportierten stammt, der kann dann realisieren, aus welcher „Mördergrube“ er stammt, „die noch das Blut schändet, das sie vergossen hat“ (Karl Kraus).

Titelbild

Angela Genger / Hildegard Jakobs (Hg.): Düsseldorf - Getto Litzmannstadt. 1941.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2010.
435 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783837502367

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