Die Erinnerung an das, was nie geschah

Carlos Ruiz Zafóns Roman „Marina“ handelt von der Unsicherheit, das Erinnerte wirklich erlebt zu haben

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind nicht immer die kürzesten und unkompliziertesten Wege, auf denen literarische Texte übersetzt werden. Dem spanischen Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón geht es dabei nicht anders. So ist sein nun auch in Deutsch vorliegendes Buch „Marina“ in Spanien vor zwölf Jahren erschienen. Dabei bemühte man sich seit seinem literarischen Durchbruch mit seinem fünften Buch „La sombra del viento“ (deutsch: „Der Schatten des Windes“) Lücken zu füllen. Zuerst noch mit dem Folgeroman „El juego del ángel“ (deutsch: Das Spiel des Engels), welcher sich lange in den Bestsellerlisten halten konnte. Daraufhin übersetzte man die Nebel-Trilogie, dessen erster Band („Der Fürst des Nebels“) in Spanien mit dem Jugendliteraturpreis Premio Edebé ausgezeichnet wurde. Zwischen Beendigung dieser Trilogie und dem berühmten Roman „Der Schatten des Windes“ schrieb er zwischen 1996 und 1997 „Marina“ in seiner Wahlheimat Los Angeles.

Während des Schreibens, fern ab von seiner Geburtsstadt Barcelona, erschafft Zafón eine düstere Geschichte zwischen Freundschaft, Jugendliebe und Terror. Vielleicht kann man hier den Übergang von seiner Jugendliteratur zum „erwachsenen Roman“ am besten erkennen, denn „Marina“ ist das Buch, in dem der Autor nach eigenen Angaben seine literarische Stimme gefunden hat. Die Geschichte selbst ist die Erinnerung an die eigene Jugendzeit. So leiht Zafón im Buch seine Stimme dem Protagonisten Oscar Drai, welcher nach Jahren wieder in die Zeit und an den Ort seiner Jugend zurück findet und eine längst vergessene Geschichte zum Leben erweckt. „Wir erinnerten uns nur an das, was nie geschehen sei“. Diesen Ausspruch hat Oscar nicht vergessen. So denkt er sich an den Zeitpunkt zurück, als er Marina zum ersten Mal traf und sich in sie verliebte. Was er von ihr noch hat, ist ein zum Teil geschriebenes Buch. Seine Aufgabe ist es, die begonnene Geschichte zu beenden. So scheint die Erinnerung etwas dunkel hinter einem möglichen Traum hervor.

Abseits von touristischen Blicken spaziert der Internatsschüler Oscar Drai gerne durch Barcelonas altes Villenviertel. Von seiner Familie wird wenig berichtet. Zumindest wissen wir so viel, dass er in den Weihnachtsferien nicht wie seine Kollegen nach Hause fährt, sondern als nahezu Einziger im Internat verbleibt. Die Anzahl der freien Tage seien zu kurz, als dass es sich auszahlen würde, nach Hause zu fahren. Mit ihm bleibt nur die 30-jährige Witwe Dona Paula, die sich um den Haushalt kümmert, im Internat zurück. Oscar hat kaum Freunde und scheint sehr verschlossen zu sein. Die alten Villen ziehen ihn jedoch mit ihren Geschichten an. So kommt es, dass Oscar die drei Stunden nach dem Unterricht, die bis zum Abendessen der geistigen Einkehr und dem Selbststudium zu widmen sind, der Stadterkundung widmet. In dieser Zeit entfaltete sich seine Fantasie und machte ihn zum glücklichsten Menschen der Welt.

In der Umgebung des Internats waren viele Ruinen, verkommene alte Villen, die teilweise in Vergessenheit geraten sind. Eine scheinbar tote Villa zieht Oscar besonders in den Bann. Auf ihrer Terrasse findet er eine goldene Uhr, welche er durch den Bewohner aufgeschreckt, in Richtung Internat rennend, nicht mehr los lässt. Am darauf folgenden Tag entschließt er sich, die Golduhr wieder zurückzugeben. Nachdem er so Marina kennen lernt, verschlägt es ihm die Sprache. Als er ihr erklären möchte, warum er die Uhr gar nicht absichtlich mitgenommen und was es mit dem vermeintlichen Einbruch auf sich habe, lädt sie ihn zum Frühstück mit ihrem Vater ein.

Das Haus oder besser die Villa, die er nun bei Tageslicht erblicken kann, schüchtert ihn ein. Ein anderes Mal wird er merken, dass es keine Elektrizität gibt und dass das abendliche Kerzenlicht nicht aus einer romantischen Gesinnung des Hausherrn anzurechnen ist. Um das dem Anschein nach langsam zerfallende Haus scheint sich niemand zu kümmern. Überhaupt umgibt Marina und ihrem Vater German eine Geschichte, die Oscar lange Zeit verborgen bleibt. „Ein Band des Schweigens und der Blicke einte sie in den Schatten dieses Hauses, am Ende einer vergessenen Straße, wo sie, weitab von der Welt, einer für den anderen sorgten“. Doch Oscar ist von der geheimnisvollen und bedrückenden Atmosphäre angetan, sodass es ihn wiederholt dorthin zieht. Auch Marina scheint durch ihn lebendiger und abenteuerlustig zu werden. So führt sie ihn an einen Friedhof, an dem sie eine Frau, umhüllt in Schwarz mit dem Symbol eines Schmetterlings, beobachten können. Als die beiden die Frau in ihrer unschuldigen Neugier verfolgen, gelangen sie in ein Gewächshaus. Dort beginnt plötzlich der Horror, als menschenähnliche Wesen sie zu jagen beginnen. Doch die beiden können mit einem alten Fotoalbum flüchten, welches zum zentralen Objekt nachfolgender Ermittlungen wird. Sie verfolgen die Spuren der Menschen auf den Fotos, um zu verstehen, wo sie hineingeraten sind. Dabei lernen die beiden die Stadtgeschichte Barcelonas kennen. Zum Vergessen bestimmte Geschichten werden wieder lebendig und Oscar sowie Marina leben als Hauptdarsteller den Wahnsinn vergangener Zeiten nach. So entwirren sie eine Geschichte verschiedener Genres, welche von detektivischen Untersuchungen über wilden Verfolgungen und Experimenten in der Unterwelt der Stadt bis zum mit Wahnsinn behafteten Versuch den Tod zu überlisten reicht. „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“ beschreibt die gute Absicht der Einzeltaten, welche letztendlich aber in Fäulnis übergehen. Es heißt: „Die Zeit macht mit dem Körper, was die Dummheit mit der Seele macht, Sie lässt ihn vermodern.“

Das Internat in Sarriá, in dem Oscar seiner schulischen Laufbahn nachgeht, ist der ebenso dort ansässigen Jesuitenschule nachempfunden, in welche Zafón als Jugendlicher ging. Biografische Elemente des Autors spielen in der Geschichte keine unwesentliche Rolle. Vielmehr kann man den Roman auch als Versuch lesen, die eigenen Erinnerungen an die Jugendzeit aufleben zu lassen und gleichzeitig zu verklären. So beschreibt der Autor auch das Bedürfnis, welches er beim Schreiben hatte. Nämlich gegen das unaufhaltsame Verschwinden der Jugenderinnerungen etwas zu unternehmen. Vielleicht macht dieser Umstand das Buch zu Zafóns persönlichstem Roman. Was wir im Alltag zu vergessen scheinen, verschwindet nicht aus unserem Leben, sondern begleitet uns unbemerkt und kontinuierlich. Die Ereignisse können tief in der menschlichen Seele verankert sein, wie die Abwasserkanäle der Stadt Barcelona. Dorthin muss Oscar hinabsteigen, um der Seele der Stadt nachzuspüren. Nach und nach gelangen Details für Detail schließlich an die Oberfläche. Dabei wird das Rätsel um den schwarzen Schmetterling zwar gelöst, doch das Rätsel um Marina noch lange nicht.

Mit „Marina versteht es Zafón, bis zur letzten Seite zu fesseln. Der Autor schickt Oscar auf unschuldige Spaziergänge, wobei dieser sich in einem Sog kriminalistischer Geschichte verliert. Nahezu unscheinbar beschreibt Zafón bekannte und unbekannte Gassen und Straßen Barcelonas. Dabei hebt er die Stadt in eine fiktionale Welt, die nicht nur Oscar Drai in den Bann zieht. Zwar reicht der Roman nicht an die literarische Leichtigkeit wie seine Nachfolgeromane heran, was jedoch auch an der Komplexität des Inhalts liegen kann. „Ich hätte auch gar nicht genau erklären können, was da geschehen war. Je weiter wir uns von diesem Ort entfernten, desto mehr verflüchtigten sich die Bilder und die Erinnerung“, wie es an einer Stelle heißt.

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Titelbild

Carlos Ruiz Zafón: Marina. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Peter Schwaar.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011.
349 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783100954015

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