Eröffnung eines Forschungsfelds

Kerstin Schoor über die jüdische Literatur 1933 bis 1945 in Deutschland

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit am härtesten traf die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 die assimilierten jüdischen Intellektuellen. Sie wurden aus dem gleichgeschalteten geistigen Leben Deutschlands ausgeschlossen und in einen separierten jüdischen Kulturkreis verwiesen. Zum Teil mussten sie das Jude-Sein erst erlernen. Sofern sie in Deutschland blieben, waren sie zur „Selbstbesinnung auf jüdische Herkunft und jüdische Zukunft“ (so Arnold Zweig 1934) gezwungen. Allerdings sahen viele anfänglich noch nicht die drohende tödliche Gefahr, sondern setzten „einer möglichen Auswanderung die These der Selbstbehauptung entgegen, des Ausharrens bis zu einer erhofften baldigen Veränderung der Situation“, so noch 1935 die Publizistin Eva Reichmann-Jungmann in einem Aufsatz mit dem Titel „Vom Sinn deutsch-jüdischen Seins“.

Der Zwang zur Identifikation mit der Religion und Kultur der Ahnen und der Ausschluss aus der deutschen Kultur und ihren Publikationsorganen führte zu der paradoxen Situation, dass das jüdische Leben und die deutsch-jüdische Literatur nach 1933 zunächst einmal aufblühte. 30 jüdische Verlage, 146 jüdische Zeitungen und Zeitschriften mit Auflagenstärken von bis zu 55.000 Exemplaren, 1292 veröffentlichte Buchtitel verzeichnet die einschlägige „Bibliographie des Jüdischen Schrifttums in Deutschland 1933-1943“ (bearbeitet von Henry Wassermann und anderen, erschienen 1989). Es gibt eine „explosionsartig einsetzende Produktion von Gedichten, Romanen, Novellen, Broschüren und Zeitschriftenaufsätzen“, die sich mit dem Thema der jüdischen Existenz oder Identität beschäftigten.

Noch immer kann man dieses Kapitel der deutschen Literaturgeschichte als „vergessenes“ bezeichnen. Die Fachwissenschaft hat sich lange mehrheitlich auf die Exilliteratur konzentriert, nur gelegentlich auch einmal die nationalsozialistische Literatur oder die der sogenannten Inneren Emigration zur Kenntnis genommen. Systematische Studien zur deutsch-jüdischen Literatur zwischen 1933 und 1938 (als die Aktivitäten des „Jüdischen Kulturbunds“ das erste Mal verboten wurden) beziehungsweise 1943 (als das jüdische Kulturleben mit den Massendeportationen aus Berlin praktisch zum Erliegen kam) gibt es kaum. Eine Ausnahme ist das Werk Gertrud Kolmars (1894-1943), das in den letzten drei Jahrzehnten relativ gut erforscht und ediert wurde.

Kolmar, ohne Zweifel eine der „bedeutendsten Autorinnen jener Jahre“, ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass und warum dieses Kapitel der deutschen Literaturgeschichte nach dem Krieg lange Zeit ignoriert, vielleicht sogar absichtlich verdrängt wurde. Als Jacob Picard eine Sammlung ihrer Werke in der Reihe „Verschollene und Vergessene“ der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur herausbringen wollte, wurde dies mit der Begründung abgelehnt, die Autorin sei aufgrund ihrer isolierten Lage im nationalsozialistischen Deutschland gar nicht verschollen oder vergessen worden, sondern unbekannt geblieben und müsste daher überhaupt erst entdeckt werden. Tatsächlich wollte man wohl einerseits nicht an die im Land gebliebenen und daher ermordeten jüdischen KollegInnen und die eigene Feigheit erinnert werden, andererseits diskreditierte es die Beteiligten nach dem Krieg ein zweites Mal, dass die Nazis das bis 1938 geduldete jüdische Kulturleben als „propagandistisches Feigenblatt vorgeblich praktizierter Minoritätenpolitik“ missbrauchten, so dass die bis 1938 bzw. 1941 publizistisch aktiven Juden in den Ruch einer Mittäterschaft kamen. Sowohl im Westen wie im Osten waren es die emigrierten jüdischen Autoren, an denen man durch wissenschaftliche Aufmerksamkeit etwas gutmachen wollte und zum Teil auch konnte, weil viele von ihnen im Gegensatz zu den meisten im Land gebliebenen Autoren überlebt hatten.

Mit ihrer Habilitationsschrift „Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto“ versuchte die Berliner Literaturwissenschaftlerin Kerstin Schoor den Forschungen zum Exil, zur Inneren Emigration und zur NS-Literatur „eine Betrachtung der literarischen Kultur und Kommunikation deutscher Juden im nationalsozialistischen Deutschland in exemplarischen Studien vergleichend zur Seite zu stellen“. Sie konzentriert sich auf Berlin, da hier rund 70% der jüdischen Verlage und Zeitschriften, und auch die meisten Autorinnen und Autoren nach 1933 beheimatet waren.

Die Grobstruktur des Buches ist durch die vier Hauptperioden kultureller Aktivitäten jüdischer Schriftsteller und Intellektueller vor dem Hintergrund der NS-Kulturpolitik gegeben: 1.) Die Zeit von der Machtübernahme bis zu den ersten Massenausschlüssen aus der Reichsschrifttumskammer (1933-1935). 2.) Die durch Diskussionen um eine spezifisch jüdische Kunst und Kultur geprägte „Blütezeit“ (Yehoyakim Cochavi) relativer Entspannung der Verhältnisse (1935-1936). 3.) Die durch deutliche Zunahme der Repression seitens des Sicherheitsdienstes und anderer Institutionen geprägte Zeit bis zum Verbot der jüdischen Zeitungen und der Auflösung jüdischer Verlage (1937-1938). 4.) Die Zeit der Zwangsarbeit, dem Auswanderungsverbot und den seit 1941 einsetzenden Deportationen.

In einem ersten Kapitel macht Schoor deutlich, dass das Spannungsfeld von Fremdbestimmung und Identitätssuche auch Autoren zentral beeinflusste, die sich nicht im „Jüdischen Kulturbund“ engagierten. Das krisenhafte Spätwerk Franz Hessels (1880-1941) und das Erzählfragment „Der Blinde“ von Ernst Blass (1890-1939) zeigen dies beispielhaft. Das zweite Kapitel führt dann Berlin als „Zentrum deutsch-jüdischer literarischer Kultur in Deutschland“ zwischen 1933 und 1938 anhand seiner Institutionen vor. Das dritte Kapitel ist der jüdischen Lyrik jener Jahre gewidmet und zugleich der auch literarisch geführten Debatte über die Aufgaben des Dichters und die Funktion von Dichtung in einer „Zeit der Tränen“. Das vierte Kapitel nimmt den Wandel des Berlin-Bilds in der Literatur der Zeit in den Blick, insbesondere auch die Wiederentdeckung eines „jüdischen“ Berlins zum Beispiel bei Arthur Eloesser (1870-1938). Das fünfte, mit gut hundert Seiten längste Kapitel untersucht die persönlichen und literarischen Existenzbedingungen nach 1938 vor allem am Beispiel dreier Autoren und ihrer Texte: dem Journalisten Leo Hirsch (1903-1943), der am Feuilleton des letzten jüdischen Kommunikationsorgans, nämlich des „Jüdischen Nachrichtenblatts“ (1938-1943), mitarbeitete; dem Schriftsteller, Maler und Komponisten Arno Nadel (1878-1943), der zur Arbeit im Reichssicherheitshauptamts zwangsverpflichtet wurde (und zwar in der Abteilung, die den nationalsozialistischen Buch- und Kunstraub zu katalogisieren hatte); und dem zeitweilig internierten und dann wie alle gebliebenen Juden zur Zwangsarbeit verpflichteten Philologen, Übersetzer und Erzähler Karl Escher (1885-1972).

Schoor möchte mit den exemplarisch angelegten Kapiteln „ein Forschungsfeld weniger erschließen als vielmehr eröffnen“, wie sie in der Einleitung schreibt. Sie untersucht „an Autorinnen und Autoren unterschiedlicher künstlerischer, kulturpolitischer und politischer Anschauungen, in welcher Weise die kollektive Erfahrung einer gescheiterten Emanzipation und der zunehmenden äußeren Bedrohung sowohl in literarischen Texten als auch in kulturellen Debatten dieser Jahre manifest wird“. Deutlich wird dabei vor allem, dass die „Zwangsgemeinschaft“, in die die unterschiedlichen Individuen durch die NS-Politik gepresst wurden, keineswegs homogen war. Ja, je genauer man hinschaut, und das tut Schoor in ihrer materialreich fundierten Studie, desto weniger weiß man, wie sinnvoll die Rede von einer jüdischen Literatur in Deutschland überhaupt ist.

Schon den Beteiligten war klar, dass die Ghettoisierung einer angeblich jüdischen Kultur innerhalb der deutschen Kultur keine tatsächliche kulturelle Gemeinschaft hervorbrachte. Ein Beispiel ist die Debatte über jüdische Lyrik. Kurt Pinthus meinte 1936, dass die „wenigsten Gedichte in die in diesem letzten drei Jahren von Juden, sicherlich in redlichstem Wollen, über jüdische Themen gedichtet wurden, […] nur weil jüdische Motive genutzt sind, schon ‚jüdische Gedichte‘“ seien. Ob dies aber über die „Form“ hätte geleistet werden können, blieb ebenfalls zweifelhaft. Manfred Sturmann bezeichnete diese Situation im gleichen Jahr als „tragisch“, denn dem „jüdischen Dichter deutscher Zunge“ bliebe die Einheit von jüdischem Stoff und jüdischer Form „versagt“, weil er gezwungen sei, eine „nichtjüdische, entliehene Form“ zu benutzen, nämlich die der deutschen Sprache und Tradition. Also sei es „selbstverständlich, dass die erregten jungen und älteren Leute, die jetzt in deutscher Sprache spezifisch jüdische Themen behandeln, durchaus nur deutsche Dichtung produzieren, denn die Sprache dichtet und denkt für sie“, so Julius Bab schon 1935. Nur die wenigsten Lyriker waren willens oder in der Lage, jiddisch oder hebräisch zu dichten, wie es zum Beispiel für Getrud Kolmar in den späten 1930er- und frühen 1940er-Jahren bezeugt ist.

Insofern ist die Aufarbeitung des deutsch-jüdischen literarischen Felds ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte, wenn eben auch ein „Beitrag zur Rekonstruktion eines vergessenen Kapitels“ daraus, wie Kerstin Schoor zu Recht schreibt. Zu einer spezifisch jüdischen Kultur konnte es in der kurzen Zeitspanne zwischen 1933 und 1938/45 gar nicht kommen. Schoors sozialgeschichtlich und diskursanalytisch angelegten Untersuchungen kreisen dabei um die Frage, „wie sich literarische Arbeit zu einer Politik und Geschichte verhält, die für die jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller Emigration, Verfolgung und Zwangsarbeit und schließlich für viele von ihnen die Ermordung in einem Vernichtungslager bedeutete“.

Besondere Aufmerksamkeit legt die Autorin auf die durch Ausgrenzung und Verfolgung entwickelte „Rhetorik der Verschlüsselung und ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen im literarischen Text“. Denn es war ja klar, dass alle Texte oder musikalischen Werke, „die im jüdischen Kulturkreis aufgeführt oder gezeigt wurden […] von den Behörden genehmigt werden“ mussten, wie sich ein damaliger Lektor des „Kulturbunds Deutscher Juden“ später erinnerte; das heißt es war „eine absolute Notwendigkeit, daß jemand unsere Programme sozusagen mit nationalsozialistischen Augen las, um möglichst zu verhindern, daß man etwas verbieten würde“ (Kurt Baumann).

Dabei entstanden aber auch überraschend offene Texte, die die Zensur passieren ließ, beispielsweise Frieda Mehlers Gedicht „Wir haben Zeit“ (aus einem 1934 publizierten Gedichtband): „Horch, wie die Meute tobt, die Hunde bellen, / Und fassen uns mit scharfen Zähnen an, / Wie sie mit bösen Lügen uns umstellen – / Wir sehen schweigend zu bei ihrem Wahn. / Wir haben’s seit Jahrtausenden im Blute, / Ob ihr uns drückt und höhnt, aus jeder Schmach / Erhob sich Israel mit neuem Mute, / Und jeder Feind und Gegner, er zerbrach. / […] Wir Juden sind das Volk der Ewigkeit. / Wir haben Zeit.“

Vielleicht hatte die Zensur Mehlers Gedichtband nicht genau geprüft und die zwischen „künstlerisch anspruchslosen Mutter-Kind-Gedichten“ und „gereimter Belanglosigkeit“ versteckten politischen Gedichte übersehen; oder man ordnete sie als zionistisch ein: Anfänglich nämlich fanden Texte, die gegen Assimilation eine eigene jüdische Identität, am besten verbunden mit dem Willen zur Auswanderung in einen zu gründenden jüdischen Staat, propagierten, das Gefallen der NS-Behörden, weil sie zur offiziellen „Judenpolitik“ zu passen schienen, so dass radikale Ablehnung alles Deutschen eher durchging als die Beschwörung eines jüdischen Deutschtums. Das Beharren auf einer emotionalen und kulturellen Verbundenheit mit Deutschland führte sofort zum Verbot, zum Beispiel des Gedichtbands „Dreiklang“ (1935) von Hilde Marx (1911-1986), die darauf beharrte: „In diesem Land, dem unser Herz gehört, muss auch der Kreis des Lebens sich vollenden“. Anders als von ihrem „Chor der jüdischen Frauen in Deutschland“ erhofft, lohnte Deutschland „solche Treue“ schlecht und „des Schicksals Ungunst“ wandte sich bekanntlich nicht „mild zur Güte“.

Zu Karl Wolfskehls 65. Geburtstag im September 1934 erschien in der zionistisch orientierten „Jüdischen Rundschau“ eine Huldigung von Fritz Rosenthal alias Schalom Ben-Chorin (1913-1999): „Wir grüßen den Dichter und Deuter der jüdischen Seele […], da die deutsche Welt vor allem des Bildners der deutschen Sprache und des Sammlers und Wiedererweckers alten deutschen Dichtergutes gedenken sollte“ – doch die Ausgrenzung in Deutschland ging mit dem Willen zum Vergessen und Verdrängen einher. Bezeichnend für die Situation der in Deutschland gebliebenen jüdischen Intellektuellen war, dass der 1933 emigrierte George-Jünger Karl Wolfskehl zu einer Symbolfigur jüdischer Dichtung in Deutschland wurde, gerade weil er sein „Deutschtum“ niemals ablegte und gegenüber einer spezifisch jüdischen Identität ambivalent blieb. An seinen Exilgedichten aber sei ablesbar, so Kerstin Schoor, „was unter anderem auch an literarischen Berlindarstellungen jüdischer Autoren in Deutschland nach 1933 als charakteristisch beschrieben werden kann: Das Streben nach einem Aufenthalt ohne Ort im Angesicht des Un-Ortes kann als Ort eigener Selbstfindung und -bewahrung sowohl ins Innere zurückgenommen sein als auch als Flucht-Ort ins Äußere des Exils verlagert.“

Kurt Pinthus übrigens war trotz seiner zitierten Skepsis gegenüber der deutsch-jüdischen Lyrik davon überzeugt, dass Wolfskehl gezeigt habe, dass ein jüdisches Gedicht „in jeder Sprache möglich“ sei, also auch in der deutschen. So wurden seine Gedichte in den Vortragssälen des Kulturbundes, in den Lagern der Jugendbünde, ja sogar in den Synagogen gesprochen“, erinnerte sich Ben-Chorin; sie spendeten (gegen die Absicht des Autors, der jedem pragmatischen Gebrauch poetischer Texte abhold war) Trost und Hilfe zur „Lebensbewältigung“, als Wolfskehl selbst die Aktivitäten des Jüdischen Kulturbunds und der jüdischen Verlage in Deutschland „in ihrer Gesamtheit bereits als vergeblich“ einschätzte.

Dergleichen Widersprüche in ihrer detaillierten Studie aufgezeigt zu haben, ist nicht das geringste Verdienst von Schoors gründlicher Forschungsarbeit.

Titelbild

Kerstin Schoor: Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto. Deutsch-jüdische literarische Kultur in Berlin zwischen 1933 und 1945.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
580 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835306561

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