Tausend tote Tomaten und das Kind im Kühlschrank

Die japanische Autorin Yôko Ogawa lädt mit dem Episodenroman „Das Ende des Bengalischen Tigers“ in ein weiteres ihrer literarischen Foltermuseen ein

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Yôko Ogawa gestaltet delikat ausgestattete Schreckenskammern, dekoriert mit verschimmelten Erdbeertörtchen, ketchupverschmierten Hamsterleichen, wollüstigen Herztaschenschneidern, verschrobenen Korsetthändlern, grotesken Karottenhänden und erwürgten Ehemännern. Bei allen ihren Bildern nimmt man das Retroflair wahr, denkt an sepiabraune Fotos in einem Album, die plötzlich Farbe annehmen, ein Eigenleben entfalten und in ewiger Wiederholung die auf ihnen abgespeicherte Geschichte reproduzieren müssen. Ogawas Welt ist eine twighlightzone, ein instabiles Gebilde in Zeit und Raum, etwa wie das Overlook-Hotel aus „The Shining“ oder die Stadt in „The Sixth Sense“.

Nur scheinbar unbeschwerte Alltagsszenen verwandeln sich in verdächtige Kulissen, die Böses verbergen, eine subtile Bedrohung liegt über dem Geschehen und eigentlich als angenehm empfundene Orte werden zu Schauplätzen eines tragischen Unfalls oder eines Verbrechens. Über allem schwebt die Aura des Verlusts, der in elf Szenen vorgeführt wird.

Kulisse eins: Die Mutter steht in einer kleinen Konditorei und möchte Erdbeerkuchen kaufen, um den Geburtstag ihres Sohnes zu feiern. Dieser, so erfahren wir am Ende, fand den Tod in einem Kühlschrank. In der dritten Kulisse entpuppt sich die Vermieterin, eine alte Masseurin, als Mörderin ihres Ehemanns; der war, wie es einer in dem Mietshaus wohnenden Schriftstellerin berichtet wird, ein Säufer und Glücksspieler, insofern entbehrlich. Das Unheimliche liegt weniger im Mord selbst als vielmehr in der Parallelsetzung der Mörderinnenhände mit den seltsam gewachsenen Karotten aus dem Garten der alten Dame, die fünf fingerartige Auswüchse besitzen und so auf die vermutlich abgehackten Hände des Ehepartners verweisen.

In der fünften Kulisse geht es um einen Handtaschenfabrikanten, seinen Hamster und seine Obsessionen im Hinblick auf eine schöne Frau – Obsessionen, die erst zur Anfertigung einer merkwürdigen Tasche für ihr Herz und dann zu einem Lustmord führen; der Hamster kommt übrigens auch nicht mit dem Leben davon, er findet sein unrühmliches Ende im Mülleimer eines Schnellimbisses. Die siebte Kulisse zeigt ein Foltermuseum, in das die Mutter des Kühlschrankknaben gelangt, um sich dort vom Kurator, einem alten Herrn im Anzug, trösten zu lassen. In der neunten Szene ereignet sich ein Unfall, bei dem der Fahrer eines Gemüselasters sein Leben verliert. Die Straße ist rot – allerdings nicht von menschlichem Blut, sondern von den vielen verunglückten Tomaten: „Einige Tomaten, die bis auf die Gegenspur gerollt waren, wurden unter den Rädern der Autos zerquetscht. Im Nu platzten sie auf, ohne das geringste Bedauern oder Zögern, so als hätten sie dies regelrecht herbeigesehnt.“

In verschiedenen Varianten beschäftigen sich also die elf Szenen, die dem Prinzip des „Reigens“ nach angeordnet sind, mit dem Thema Verlust und Tod. Der Sohn im Kühlschrank ist das Motiv der ersten Szene und er erscheint folgerichtig in der letzten Szene, in der eine ältere Frau seine Leiche auf einem Friedhof der Haushaltsgeräte entdeckt.

Geschickt werden Leit- und Nebenmotive verwoben zu einem rätselhaften Gespinst. Immer wieder drängen reife Damen ihren Mitmenschen Gemüse auf, immer wieder werden Frauen von ihren Männern verraten und verlassen. Ein beunruhigendes medizinisches Ambiente stellt eine weitere narrative Konstante dar und regelmäßig ist auch von der Schriftstellerin und ihren Texten die Rede, die in den Episoden öfters gelesen werden.

Ogawa zählt in der zeitgenössischen japanischen Literatur zu den Vertreterinnen des „Moratoriums“, das heißt sie entwirft ähnlich wie Yoshimoto Banana, Kawakami Hiromi und Murakami Haruki einen Raum der Innerlichkeit, in der ein hypersensibles Individuum seine Traumata hegt. Der Moratoriumsmodus war kennzeichnend für die 1980er-Jahre, die Ära der sogenannten Bubble. In dieser Phase des großen Wohlstandes gaben die Mitglieder einer überreizten japanischen Konsumgesellschaft – im Sinne eines Psychodesigns – ebenso narzisstischen Impulsen nach, wie sie Verlustängste abzuwehren suchten.

Die sado-masochistische Kompensation dieser Überspanntheit bildet die Grundlage von Ogawas Neogothik, einem Stil, den die Autorin nun schon seit über zwanzig Jahren erfolgreich vertritt. Erste Texte mit dem für sie typischen Inventar, Retrokulisse, Geisterwelt, unheimliche Orte der Erinnerung und seltsame Verwalter von Mietshäusern oder Museen sind „Der Tee, der nicht abkühlt“, „Das Wohnheim“, „Der Ringfinder“ und „Hotel Iris“.

Manchmal sind die Manierismen in dem im Original 1998 erschienenen Band ein wenig zu dick aufgetragen, das Dunkle wird zu bereitwillig beschworen, was Ogawa freilich auch ironisch meint. Trotzdem, man muss die nekrophile Note, den gewissen Plüschhorror und das Spiel mit dem Abgründigen schon mögen. Die Lektüre eines Ogawa-Werks ähnelt dem Besuch in einem Maid Café, in dem kostümierte Kellnerinnen den Kunden ebenso devot wie provozierend bedienen. Hier serviert unsere literarische gothic lolita natürlich Tomatensaft, blutrot.

Titelbild

Yoko Ogawa: Das Ende des Bengalischen Tigers. Ein Roman in elf Geschichten.
Übersetzt aus dem Japanischen von Sabine Mangold.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2011.
215 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783935890755

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