Das Grauen hinterm Rhododendron

Kein Happy End für „Last Exit Volksdorf“ von Tina Uebel

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während Hubert Selby, dessen „Last Exit to Brooklyn“ für den Titel des neuen Romans von Tina Uebel Pate stand, über die Bewohner eines Slums, also die „Verlierer“ der Gesellschaft schreibt, stehen die Protagonistinnen und Protagonisten in „Last Exit Volksdorf“ zumindest ökonomisch auf der Gewinnerseite: Sie gehören zur gutsituierten, bildungs- und erfolgsorientierten Mittelschicht mit Eigenheim und Garten im Hamburger Vorort Volksdorf (den es wirklich gibt). In dieser Welt fliegt man übers verlängerte Wochenende auf die kanarischen Inseln, schenkt dem Nachwuchs zum 18. Geburtstag den obligatorischen Kleinwagen, wird – als Nachwuchs – Anwalt oder Arzt oder wenigstens internationale Starpianistin. Und kleine Defekte, so es sie gibt, bekommt man „in den Griff“. Oder, wie Joshua, eine der Hauptfiguren, es ausdrückt: „Die Armee der Frühvergreisten tanzt den Blitzkrieg Bop, kotzen tun sie erst nach fünfzehn heimlichen Bacardi Coolers auf dem Klo, und das wird auch schon der Höhepunkt ihres armseligen kleinen Lebens sein, bevor sie dann Papas Praxis übernehmen und an Einzelhauslepra sterben […], mit fünfzehn das Mofa, Vespa, mit sechzehn den Roller, auch Vespa, mit achtzehn das Auto, Golf, mit fünfundzwanzig die Eigentumswohnung, Winterhude, mit sechzig den Krebs, Gott sei Dank, ab dann kann man wieder drüber reden.“

Joshua, der rebellische „Punk“, ist eine von acht Figuren, aus deren wechselnden Perspektiven „Last Exit Volksdorf“ erzählt wird. Dabei nehmen diese Figuren unterschiedlich großen Raum ein, die wichtigsten Erzählstimmen gehören neben dem 18-jährigen Joshua dem etwas jüngeren Schüler Finn und der zunehmend ihrer Demenz erliegenden Klara Voss. In diesen mal kürzeren, mal längeren Passagen werden Volksdorf, das Biotop der Gutbürgerlichkeit, und seine Schattenseiten beschrieben. Die personale Erzählhaltung wird konsequent eingehalten, gebrochen wird diese Perspektive nur, wenn eine Figur aus der Sicht einer anderen gestreift wird – eine Komposition, die den Reiz und die Spannung dieses Romans ausmachen. Denn während die Figuren doch eher an der Oberfläche bleiben und teilweise sehr klischeehaft gezeichnet sind, bis hin zur Karikatur (Iris und die Darmgeräusch-Diagnostik), offenbart sich insgesamt das Psychogramm einer Gesellschaftsschicht, die Lebensform „Einfamilienhaus, gut situiert“ wird durch eine Art Kaleidoskop betrachtet und in allen Facetten seziert.

Und dabei bleibt so gut wie nichts heil. Hinterm Rhododendron lauert das Grauen in jedweder Form, von Verlogenheit und Selbstbetrug über Alkohol und Drogen in diversen Formen bis hin zu Missbrauch und Vergewaltigung. Das größte Verbrechen aber ist die Art und Weise, wie die Beteiligten mit dem Verbrechen umgehen und die völlige Isolation des Opfers.

Letztlich werden alle Figuren (mit Ausnahme von Klara) demontiert beziehungsweise demontieren sich selbst. Sogar der „Punk“ trägt eine Ray-Ban-Sonnenbrille (wenn auch „das pornomäßige Pilotenmodell“) und rast mit dem Geburtstagsgeschenk seines Vaters (allerdings kein Golf, sondern ein Opel Corsa) bei hundert Stundenkilometern ohne zu bremsen in die Kurven. Aus der Enklave Volksdorf scheint es kein Entkommen zu geben.

Ein Happy End gibt es auch für den Roman selbst nicht. Aufgrund einer Unterlassungserklärung hat der Verlag das Buch aus dem Handel zurückgezogen, der Titel erscheint weder auf der Website des Beck-Verlags noch auf der Homepage der Autorin.

Kein Bild

Tina Uebel: Last Exit Volksdorf. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2011.
301 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406612695

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