Betreutes Schnarchen oder: Es gibt keine „Normalen“ mehr

Friedrich Anis neuer Roman um Tabor Süden widmet sich den Randexistenzen

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine der besten Methoden ist das Schweigen, sehr effektiv. Dann sitzt er einfach da und wartet. Meistens fangen die Leute dann doch an zu reden. Sind patzig und verblüfft, verstört und verärgert. Aber sie reden. Andere halten es besser aus, aber auch sie fangen irgendwann an. Weil Tabor Südens Schweigen quasi alle Poren durchdringt, dem anderen keine Luft mehr lässt, ihn dazu zwingt, seine Geheimnisse zu teilen, seine Masken fallenzulassen. So geht es auch Ilona Zacherl. Denn sie tut zwar so, als wenn sie nichts wüsste, aber sie weiß doch etwas. Aber das passt eben nicht zu ihrer Rolle als verlassene, trauernde Ehefrau, als sorgenvolle Alleingelassene.

Vor zwei Jahren hat Raimund Zacherl sie verlassen, ist einfach gegangen und hat nicht einmal gesagt: „Ich bin dann mal weg.“ Jetzt wendet sie sich noch einmal an eine Detektei, und Tabor Süden, der einmal Polizist in München war, in der Vermisstenstelle, dann Kellner in Köln, macht sich auf die Suche. Aber erst einmal sitzt er da. Und dann setzt er sich auf den niedrigen Stuhl an der Theke, legt die Arme auf die Lehnen, faltet die Hände vor der Brust. Genauso hat es Zacherl getan, plötzlich, vor vier Jahren. War nicht mehr leutselig zu den Gästen, hat keine Späße mehr mit ihnen gemacht, wollte nur noch kochen, nicht mehr bedienen. Hat das Geschäft seiner Frau überschrieben, weil er mit den Behörden nichts zu tun haben wollte. „Er hat sein Leben geändert“, sagte Süden. Aber das versteht sie nicht, oder will es nicht verstehen, oder will es nicht wahrhaben: „Und warum? Sein Leben geändert! Macht man das? Setzt sich auf Stuhlkissen und sagt sich: Jetzt ändere ich mein Leben. Was für eine Änderung soll das sein?“

Natürlich steckt eine Frau dahinter, eine sehr viel jüngere Frau, die den Mann über 50 noch einmal aufrüttelt. Verliebt hat er sich, in die Kellnerin Carla, und sie sich in ihn. Sie war jung und konnte auch einfach mal was abbrechen, wie ihr Studium – sie, die auf Sylt geerbt hatte und eine Pension aufmachen wollte. Mit ihm, mit Mundl. Natürlich dauert es ein Weilchen, bis Süden aus den vagen Spuren etwas Handfestes entnehmen kann. Ein Weilchen und viele Biere dauert es, denn Süden ist in vielen Gaststuben Gast, nimmt lieber flüssige als feste Nahrung zu sich. Ein Weilchen und viele Bekanntschaften dauert es, denn Süden muss sich mit vielen unterhalten, mit zwei Bierfahrern, die schon lange mit Mundl befreundet waren, zwei großen Schweigern, die nur sparsam mit Informationen rausrücken. Muss sich mit Carlas Eltern unterhalten und mit den anderen Kellnerinnen und verliebt sich sofort in eine von ihnen, die ihn auch gleich in sein Bett zerrt (nicht, dass er sich sehr gewehrt hätte). Muss, nebenbei, auch seinen Vater suchen, der ihn plötzlich, nach 35 Jahren angerufen hat – und er findet ihn auch, aber anders, als er dachte.

Diese Spurensuche, so schön konstruiert sie auch ist, ist nicht das Wichtigste an dem neuen Roman von Friedrich Ani. Es ist seine recht melancholische Beschreibung der vielen Menschen, die alle ein wenig aus der Welt gefallen sind: die sich anschweigenden Bierfahrer, das ältere Ehepaar, deren Tochter bei einem Flugzeugabsturz gestorben ist, die Wirtin, die immer noch schwarz trägt, die Frau, die über ihr Sexabenteuer tagelang ihren kleinen Sohn Bennie vergisst, die auf dem Bahnhof herumstehenden Männer, die kein Zuhause mehr haben, auch wenn sie vielleicht wissen, wo sie abends schlafen – es gibt niemand „Normalen“ mehr. Sie alle schweigen über irgendetwas und öffnen sich nur Tabor Süden. Ein bisschen wenigstens. Wahrscheinlich weil sie spüren, dass er genauso ist, dass er auch Wunden mit sich herumträgt, die nicht heilen wollen. Dass er auch ein wenig beschädigt ist und ein wenig aus der Normalität verrückt. Wo er doch sowieso mit seinem toten Kollegen Martin Heuer redet, der sich vor Jahren in einem Müllcontainer erschossen hat, so wie der kleine Bennie mit seinen Fantasiegestalten redet, um nicht zu einsam zu sein.

So ist Anis Beschreibung von der Normalität eine Beschreibung des leichten Grauens. Sind wir so? Tragen in uns etwas herum, ohne es aussprechen zu wollen oder zu können? Und können dann eigentlich nur noch seltsame, überraschende Schritte unternehmen wie Mundl, der Koch, der aus seinem alten Leben aussteigen will, dem dann seine heimliche Geliebte stirbt und der dann mit niemandem darüber reden kann und einfach verstummt, auf einem Stuhl in seiner Kneipe. Bis er einfach geht. Radikal.

Was also tut uns die Gesellschaft an, was tun wir uns selber an? Das sind die Fragen, die Süden aufwirft, das ist die Folie, auf der Anis Roman „Süden“ ganz virtuos spielt, mit vielen Verknüpfungen und Verflechtungen, mit vielen Lebensgeschichten, Abstürzen und Aufrappeln, mit einem Neuverlieben und Abschiednehmen (vom Vater, von alten Beziehungen, die längst zu einem „betreuten Schnarchen“ geworden sind). In einer genauen, poetischen und sehr melancholischen Sprache, mit sparsamem, aber treffendem Humor, und nur manchmal in pathetischen Kitsch abrutschend, widmet sich Ani in seinem neuen Tabor-Süden-Roman wieder den Randexistenzen, den sozialen wie auch den psychologischen. Und das sind wir.

Titelbild

Friedrich Ani: Süden. Roman.
Droemersche Verlagsanstalt, München 2011.
364 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783426199077

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