Wie Paulo Coelho einmal beinahe Selbstmord begangen hätte

J. Alexander Bareis und Frank Thomas Grub versammeln in ihrem Band „Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ Spielweisen des metafiktionalen Erzählens

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Vorwort der Herausgeber wird mit den fast zwei Jahrzehnte alten Worten Werner Wolfs das Problem der Metafiktionsforschung benannt: Noch immer, heißt es da, entbehre Metafiktion einer Definition, „die alle unter ‚Metafiktion‘ subsumierten Phänomene erfassen würde und gleichzeitig ein Ausufern des Begriffs und seine indifferente Applizierbarkeit auf alles und jedes verhindern könnte“. Neben dieser Definitionslücke und der Gefahr einer unterdefinierten inflationären Anwendung, die keine Unterschiede mehr herausarbeiten kann, gibt es mindestens ein weiteres großes Problem mit der Metafiktion: Sie metaisiert einen Begriff, der seinerseits einer zufriedenstellenden Definition entbehrt: Denn was ist Fiktion?

„Die verschiedenen theoretischen Prämissen führen zwangsläufig zu unterschiedlichen Definitionen und damit einhergehenden Begriffen: Selbstreflexivität, Selbstreferentialität, Metanarration, Metafiktion, Metaisierung und Potenzierung sind nur einige der terminologischen Vorschläge, die im Kontext des jeweiligen theoretischen Modells unterschiedlich gebraucht werden.“ Angesichts dieser Definitionsvorschläge könnten hier viele weitere „was ist“-Fragen aneinandergereiht werden. Die Sammelband-Herausgeber Bareis und Grub machen aus dieser Definitionsnot eine Tugend, indem sie die unterschiedlichen Ansätze nicht zu vereinheitlichen suchen, sondern in den einzelnen Beiträgen die ganze Palette der Auseinandersetzungen mit dem Begriff Metafiktion vorzuführen gedenken.

Dieses (Nicht-)Konzept zeitigt zwar einerseits bisweilen Redundanzen, da die Lektüren dann doch immer wieder an die selben Zitate aus der Metafiktions-Theorie anknüpfen. Andererseits sind mit den zwölf präsentierten Interpretationen Texte entstanden, die in ihren ‚praktischen‘ Teilen auf sehr interessante, aufschlussreiche und lesenswerte Weise tatsächlich die unterschiedlichen Funktionsweisen metafiktionalen Erzählens in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – von Wolfram Fleischhauer und Wolf Haas über Daniel Kehlmann und Giwi Margwelaschwili bis hin zu Walter Moers und Christa Wolf – ausloten und das Analysepotential des Metafiktions-Rasters erproben. Besonders hervorzuheben ist dabei die metafiktionale Poetologie Margwelaschwilis, die Frank Thomas Grub untersucht. Das Schaffen von Reflexionsräumen in der Literatur wird hier nicht nur als Schreibstrategie, sondern weit darüber hinaus als Überlebensstrategie eines Schriftstellers deutlich, dessen Biografie in besonderer Weise von der schieren Unmöglichkeit gezeichnet ist, Fiktion und Wirklichkeit auseinanderzuhalten.

Was wird angesichts dieser Schwierigkeit Metafiktion sein können? Und auf welche Wirklichkeit könnte sie noch verweisen, wenn mit jedem Sprechen schon eine Fiktionalisierung der Wirklichkeit stattfindet, wie es Jan Wiele anhand der Journale und Romane Peter Handkes zeigt? So kommt die Problematik des Rasters in den Lektüren immer wieder zum Vorschein.

Ein Problem wird allerdings unterschlagen – obwohl Sonja Klimek Wolfram Fleischhauers Campus-Roman „Der gestohlene Abend“ kommentiert, der auf den Fall Paul de Mans verweist (oder auch nicht): Es gab einmal eine Zeit, in der das „über“, das „meta“ auf eine Weise problematisiert wurde, dass man sich vom „meta“ schon verabschieden zu können glaubte. Eine Theorie, die Dekonstruktion genannt wird, spielte da eine gewisse Rolle: Diese war sich ja so gar nicht sicher, ob ein „meta“, ein „Schreiben über“, eine Einteilung der Schrift beispielsweise in Metaschrift und Objektschrift überhaupt möglich ist – eine notwendige Verbeugung vor der Sprache als Literatur.

Wenn Metafiktion es allerdings erlaubt, dass sich Paulo Coelho in Kehlmanns Roman „Ruhm“ eine Pistole in den Mund hält, oder dass in „Die Vermessung der Welt“ Carlos Fuentes, Gabriel Garcia Márquez, Mario Vargas Llosa und Julio Cortázar die Ruderer Humboldts sind, dann sollte man vielleicht doch sehr dafür sein, dass das „meta“ möglich ist.

Titelbild

J. Alexander Bareis / Frank Thomas Grub (Hg.): Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2010.
256 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783865991027

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