Des alten Knaben Wunderhorn

In seiner legendären Sendung „Theme Time Radio Hour“ lässt Bob Dylan die gute, alte Zeit der US-Musikkultur wieder aufleben

Von Heinrich DeteringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinrich Detering

1. Fortsetzung folgt

Radio is the shortened name for radiotelegraphy“, erläutert der Sprecher, denn das Medium scheint noch nicht allgemein bekannt. „We’re speaking through an all-metal-type tube, a highly efficient resonating device.“ Ort des Geschehens ist ein kleines Studio in einem Haus namens The Abernathy Building im Zentrum von Washington, D.C.; und eingeführt worden ist der Sprecher, wie in jeder Woche, durch die Beschwörung einer nächtlichen Großstadtszenerie. „It’s nighttime in the big city“, raunt eine rauchige Frauenstimme, wenn die Sendung beginnt (es ist, wie erst nach Monaten enthüllt wird, die Stimme der Schauspielerin Ellen Barkin). Dann folgen, während aus dem Hintergrund das Rauschen und Lärmen des Verkehrs heranbrandet, zwei Sätze, die wie eine Szenenbeschreibung zu einem film noir klingen oder zu einem Gemälde von Edward Hopper. „Fog rolls in from the waterfront. A nightshift nurse smokes the last cigarette in the pack. It’s Theme Time Radio Hour with your host Bob Dylan.“ Diese Zweizeiler ändern sich in jeder Woche (auch wenn sich einzelne im Laufe der Zeit wiederholen): „Newly weds make love on a roof. A ringing phone goes unanswered.“ Oder: „A writer stares at an empty sheet of paper. A writer stares at an empty sheet of paper. “ Und so fort. Nur der Rahmen bleibt immer gleich, ein verheißungsvoll-dunkler Refrain. Immer ist es Nacht in der großen Stadt, und immer begrüßt uns in ihr ein Moderator namens Bob Dylan zur Stunde des Radios.

Unverkennbar gehört dieser akustische Schauplatz in die 1930er- bis 1950er-Jahre. Mit jedem ersten Satz beginnt eine Zeitreise zurück in ein vergangenes Amerika, in dem die Radiotelegrafie gerade erfunden und das Mikrophon noch ein metallener Trichter ist. Achtundvierzig einstündige Sendungen und zwei Doppelausgaben hatte Dylan in der Zeit vom Mai 2006 bis zum April 2007 absolviert, insgesamt 52 „Radio Hours“. Der erklärende Zusatz „Theme Time“ bezeichnet das Prinzip der Sendungen: Jede von ihnen bildet eine thematische Anthologie. Und jede ist zugleich die Parodie einer Anthologie, so unsystematisch und überraschend wie das Wetter draußen vor dem Abernathy Building: „Here we’re just like the New England weather: If you don’t like what you hear, stick around, it’ll change in a minute. “

Die vorerst letzte Sendung der „Theme Time Radio Hour“ wurde dann am 18. April 2007 in alle Welt ausgestrahlt, über Satellit, wie die 49 Folgen zuvor. „I can’t believe it“, sagt ein hörbar erstaunter Bob Dylan, „I can’t believe we’ve done fifty of these.“ Viele Kritiker hatte die Aussicht, ausgerechnet ihn, den notorisch Wortkargen und Mürrischen, als Radiomoderator zu hören, eher skeptisch gestimmt. Schon nach dem Debüt aber trauten sie ihren Ohren kaum. Der Kritiker- und vor allem der Publikumserfolg von Dylans „Radio Show“ hat selbst den Sender überrascht, der es längst gewohnt war, bekannten Musikern ihre eigene Spartensendung einzuräumen, für Fans und Freunde. „XM Radio“ ist der erfolgreichste Satellitensender der USA, ein werbefreies Pay Radio mit annähernd 7 Millionen zahlenden Abonnenten. Besonders verblüfft zeigte er sich darüber, dass unter Dylans Hörern die eingefleischten Dylanianer offenbar nur eine kleine Gruppe darstellten. Kritiker wie die des „Sunday Telegraph“, des „Spectator“ und anderer Zeitungen – namentlich diejenigen, die den Songwriter ausdrücklich nicht gerade zu ihren Hausheiligen zählten –, überschlugen sich vor Begeisterung und erklärten die Sendung zum Besten, was nicht nur Dylan, sondern auch XM Radio seit Jahren gemacht habe. Mit annähernd 2 Millionen zahlenden Zuhörern rechnete der Sender bereits nach einigen Folgen, mit steigender Tendenz; nicht eingerechnet die Ungezählten, die sich weltweit die Aufzeichnungen über das Internet herunterladen. Der Imagegewinn für den Sender ist unbezahlbar. Schon als die 50, den ursprünglichen Planungen zufolge endgültig letzte Folge ausgestrahlt wurde, stand fest, dass der Sommer nur eine Sendepause bedeuten würde. Im September 2007 lief die zweite Staffel an, auffallender positioniert und diesmal als besonderes Markenzeichen des Senders. Es folgte ein dritte Staffel, deren letzte Folge im April 2009 gesendet wurde.

2. Radio Days

Nacht, Großstadt, Vergangenheit: Die über 100 Stunden der „Theme Time Radio Hour“ ergeben ein großes und komplexes Pastiche. Entschlossen und ironisch erinnern sie an jene Radio Days, denen Woody Allen in seinem gleichnamigen Film ein Denkmal gesetzt hat und in denen der junge Bob Zimmerman in Minnesota aufwuchs. Damals war das Radio für den introvertierten Kleinbürgersohn ein Zauberteppich, der ihn nachts aus dem Kinderzimmer in eine Wunderwelt aus Songs und Stimmen führte, der Zeit und Raum überwand. Dylans Sendung zitiert die Formen dieser nächtlichen „Radio Shows“ bis ins Detail hinein, in einer Selbstironie, die Nostalgie oder gar Sentimentalität gar nicht erst aufkommen lässt. Einmal fragt eine Hörerin, was sie tun solle, da ihr Freund sich durch die Sendung gestört fühle, die sie doch so gern hören möchte. Dylan rät ihr, das Radio unters Kopfkissen zu stecken und dann ihr Ohr auf das Kissen zu legen: „Denn dafür sind Radios gemacht.“ In der Tat, dies ist Radio für den Kopf; und es erweist sich, gerade in seiner Sehnsucht nach der verlorenen Naivität, rasch als ein ziemlich offensives Unternehmen. Es ist die Avantgarde, die hier die Vergangenheit inszeniert.

In jedem seiner wöchentlichen Spiele mit dem anthologischen Prinzip folgen Dylans thematische Querschnitte den Maserungen des Materials. Durchaus glaubwürdig versichert er, er lasse sein Programm von den Songs bestimmen, die er im Laufe der Jahrzehnte gesammelt habe, nicht umgekehrt (und bekanntlich hat er seit den 1950er-Jahren alle Popularmusik der USA gesammelt, die ihm in die Finger kam) – eine schon für sich genommen bemerkenswerte Hingabe an die Überlieferungen, an ihre Vitalität, ihre Eigenbewegungen. So entstehen Sendungen zu Themen wie „Coffee“ oder „Dogs“, „Bible“, „Women’s Names“, „Shoes“, „Friends and Neighbors“ und, weil das in der „Theme Time“ natürlich nicht fehlen darf, „Time“. Je länger es dauert, desto häufiger beziehen sich die Sammlungen aufeinander, in Querverweisen und Nachträgen zu früheren Shows bis hin zu kompletten Reste-Stunden, aber auch in thematischen Sequenzen. Dass etwa auf die „Mother“- eine „Father“-Sendung folgte, war zu erwarten. Dass aber „Wedding“ sich eine Woche später fortsetzte in „Divorce“, war eine Pointe – freilich eine, die sich aus dem Materialbefund ergab.

Eine kalkulierte Provokation war schon die erste Folge, im Mai 2006. Ganz Amerika redete von George W. Bush. Nur Bob Dylan, ausgerechnet, redete vom Wetter. „Weather“ lautete sein Thema, und es war vom ersten Satz an klar, dass er das vollkommen ernst meinte – das allerdings auf eine unerwartete Weise. „Curious about the weather?“ fragt er gutgelaunt und empfiehlt: „Just go over to your window or take a walk outside!“ Und während er unterschiedlichste Songs der 1940er-, 1950er- und 1960er-Jahre aus seiner Plattensammlung hervorzieht, erzählt er von einer korrupten Justiz und von der Art, in der diese Songs darauf geantwortet haben: Indem sie vom Wetter sprachen, zum Beispiel. (Worauf er dabei mit keinem Wort eingeht, ist der Umstand, dass zu den Musikern, die in den 1950er-Jahren „Theme Time“-Sendungen wie diese moderierten, auch sein eigener Lehrmeister Woody Guthrie gehörte. Das Thema der ersten Sendung lautete damals: „Weather“.)

Ganz nah am Mikrophon ist Dylans Stimme dabei (wie jedesmal), so dass ihre Nähe physisch zu spüren ist, und doch weit entfernt in einer Welt, die außerhalb unserer Gegenwart liegen muss. Es ist die rauhe und heisere Stimme eines in Würde gealterten Bluesmannes, dabei im Laufe der Wochen erstaunlichen Schwankungen unterworfen, manchmal garstig fauchend, manchmal einschmeichelnd sanft. Stets bis an den Rand der Manier überartikuliert, kostet er jedes Wort aus. „The Santa Ana winds“, flüstert er in der Fortsetzung seines Wetter-Berichts, „are like the winds of the apocalypse“. Man muss hören, wie er das letzte Wort zischen lässt, um die Verwandtschaft zu ahnen zwischen Dylans „Weather“-Sendung und dem Vers des gleichnamigen Rockpoeten von 1965: „You don’t need a weatherman to know which way the wind blows.“

Auch die Musikauswahl selbst war eine Überraschung und eine Provokation von der ersten Sendung an. Da ließ Dylan die Carter Family, in sparsamer Besetzung und in knisternder Schellack-Qualität, ihren wunderbar naiven Country-Klassiker „Keep On the Sunny Side“ singen; dann spielte Jimi Hendrix sein rockverträumtes „The Wind Cries Mary“, und Judy Garland sang musicalbeschwingt „Come Rain, Come Shine“. Sie alle redeten vom Wetter; und wer Ohren hatte zu hören, kam aus dem Vergnügen nicht heraus. Geradezu demonstrativ macht die Songauswahl keinen Unterschied zwischen Big-Band-Klängen und archaischen Bluesnummern, zwischen Dinah Washington und Billie Holiday, Cab Calloway und Charles Aznavour, und auf Prince folgt Judy Garland. Judy Garland? Allerdings: denn „just like Prince, she’s from Minnesota.“ Ach so, darum.

Ganz überwiegend speist sich die Auswahl aus Schallplatten der jeweiligen musikalischen Gründerzeiten einer Stilrichtung – von King Olivers Jazz der 1920er-Jahre über den Swing der 1930er- und 1940er- bis zum frühen Rock’n’Roll. Die Figur des Ursprungs fesselt Dylan wie keine andere; Fortschritte sind ihm eigentlich nur denkbar als dessen Wiederholung. „Back to the Starting Point!“ hieß seine Devise nicht erst auf „Planet Waves“. Deshalb werden jeweils neue Kapitel der populären Musikgeschichte für ihn nur dann, dann aber auch unbedingt interessant, wenn sie einen Neuanfang markieren, eine Wiederkehr des Anfangs (wie der frühe Punk) oder eine neue Transformation alter Musikidiome wie der Rockabilly der 1950er-Jahre, den man „nicht verstehen kann ohne die Big Bands“, weil er „die Big Band des armen Mannes“ gewesen ist.

Wie man bemerkt, verfolgt die unterhaltsame Sendung ein entschieden erzieherisches Ziel; halb spaßhaft benennt Dylan es mit einem Zitat als Versuch, „to expand the musical tastes of the listeners“. Das schließt auch das Bemühen ein, die bekannten Namen zurückzustellen gegenüber den vergessenen. Weil jeder „Time Is on My Side“ mit den Stones verbindet, spielt Dylan die originale Version von Irma Thomas; weil alle Welt Aretha Franklin liebt, erinnert er an ihre singende Schwester. Jeder kennt „Hound Dog“ von Elvis, sagt er in der „Dogs“-Sendung; viele kennen auch das Original von Big Mama Thornton. Aber wer weiß noch, dass es eine andere Version von Mamas Song gab, die Elvis überhaupt erst auf die Idee brachte? Die Band, die sie aufgenommen hat, hieß „Freddie Bell and the Bellboys“, und kein Mensch erinnert sich an sie. Nun bekommen wir lebendig zu hören, was seit 50 Jahren gestorben war: das Missing Link zwischen Blues und Rock’n’roll, vital intoniert von den dankbaren Toten. Denn wirklich, Freddie Bell lässt die Glocken läuten. Der Satz „you don’t hear records like that anymore“ ist Dylans ceterum censeo.

Diese Neugier richtet sich vor allem auf eine verlorene Einfachheit; auf die Alten und die Modernen: „Muddy Waters is one of the ancients now, that all modern praise“. „KISS“ lautet ihre Devise, Dylan zufolge: „Keep it simple, stupid!“ Denn die Alten, „the ancients“, wussten nicht nur, was sie zu spielen hatten, sondern auch, was sie weglassen sollten; die reduzierten Produktionsmöglichkeiten kamen dem entgegen. Die Gegenwelt, das ist der technisch-industrielle Komplex der avancierten Musikindustrie und die Verführungskraft ihrer Angebote: „Heute kannst du Aufnahmen mit über hundert Tracks machen. Es wäre schön, nur drei davon zu benutzen.“ Allerdings gehört es zu den konsequent verfolgten Prinzipien der Sendung, kein Prinzip konsequent zu verfolgen. In jenem Moment, in dem seine Hörer sich auf weitere Jazztitel einrichteten, legte er unvermittelt Songs von LL Cool J und Blur auf, oder eben von Prince.

Was damit im Laufe der Sendungen zusammengekommen ist, ergibt ein American Songbook, eine bis an den Rand der musikgeschichtlichen Dokumentation ernsthafte Anthologie aus lauter sehr spielerischen Einzel-Anthologien. Unverkennbar gilt Dylans Vorliebe den Musikrichtungen, mit denen auch seine eigenen Alben sich auseinandergesetzt haben, Blues und Country, Rock’n’Roll und Western Swing; aber seine Neugier kennt eigentlich keine Grenzen. Im Laufe der Zeit gibt es Salsa und Ska zu hören, Reggae und Rap, Big Bands und Bebop. Nicht nur die erwartbaren Gospelsongs werden ausgegraben, sondern auch frühe Aufnahmen afroamerikanischer Gottesdienste, deren Verkündigung in beschwörende Gesänge übergeht. Einmal präsentiert Dylan ein ägyptisches Lied, das ihm gerade über den Weg gelaufen ist, ein andermal (zum Thema „Springtime“) einen Ausschnitt aus Igor Stravinskys „Sacre du Printemps“ („Strawinsky: madman with a fountain pen“), dem dann ein Song von Elvis Costello folgt.

Oft und ausführlich erzählt er dabei von der Entstehung der Songs, von Fassungsunterschieden, vom Leben und Sterben der Musiker. So anekdotisch sich diese kleinen Stories oft ausnehmen, immer kreisen sie um große amerikanische Themen. Von den Sklavenmärkten und vom Rassismus erzählt Dylan, von einem schwarzen Jungen, der einer weißen Frau in die Augen gesehen hat und dafür ins Gefängnis gekommen ist, und von einem Musiker, der seine Frau erschossen hat. Von drogensüchtigen Sängern, die zugrunde gegangen, und von solchen, die zu vorbildlichen Sozialarbeitern wurden. Er erzählt von tragischen Opfern und von komischen Typen, von Erfolg und Misserfolg, von Plattenproduzenten und Songautoren. Und jedesmal gehen diese Bemerkungen beiläufig über in eine Anatomie der Popularkultur der USA.

Wie mit alldem eine eigenwillige Geschichte der amerikanischen Songtraditionen zusammenkommt, so auch eine Dylan’sche Version des amerikanischen Poesiealbums. Denn kaum haben die Hörer sich an Dylans musikästhetische Erziehung gewöhnt, erweitert er sie um eine literarische. Zwischen den Songs und Kommentaren beginnt er Gedichte zu rezitieren – von Emily Dickinson und Bertolt Brecht, William Blake, Sylvia Plath und immer wieder Shakespeare, Lord Tennyson und Lord Byron, Percy Shelley und e.e. cummings („the most profound poet of the 20th century“) und natürlich Dylan Thomas, in einem ergreifenden Vortrag von „Do Not Go Gentle Into That Good Night“.

Den Baseball-Schlager „Take Me Out to the Ball Game“ singt er schräg und schön a capella; Robert Burns’ „Auld Lang Syne“ hingegen, das man ja doch immer nur gesungen kennt, rezitiert er, als habe er es gerade erst entdeckt – aufmerksam, in einem aufgeräumt-jovialen Ton und zufrieden über seinen Fund. Edgar Allan Poes Ballade „Annabel Lee“ beginnt er in einer neugierig-forschenden Haltung vorzutragen, die nach einigen Strophen in einen achselzuckend-akzeptierenden, dann in einen gewissermaßen erläuternden Tonfall übergeht. Nach einigen Strophen unterbricht er sich: „Boy, that’s a long poem“ – und liest geduldig weiter bis zum Schluss. Auch T.S. Eliot ist unter den rezitierten Poeten, während Pound nur in Lawrence Ferlinghettis eingespielter (und pointensicherer) Lesung seines „Baseball Canto“ parodiert wird. Schließlich kommt auch die Prosa zu Wort, mit Ausschnitten aus Texten von Stephen Crane und Charles Dickens, F. Scott Fitzgerald, Saul Bellow und „our old buddy Mark Twain“. Manchmal tut es auch schon das Wörterbuch allein. Dylan liebt Wortlisten und Synonyme. So rezitiert er die zehn Namen des Teufels, kostet zehn, zwanzig Ausdrücke für einen Drink aus, sucht Bezeichnungen seltener Musikinstrumente oder erfreut sich an unbekannten Blumennamen. Unter den letzteren ist auch die „Victoria Sorghum“, die, wie er rasch hinzufügt, gar nicht existiert: Wenn es ein schönes Wort nicht gibt, dann muss man es eben erfinden. Und wie Dylan sich hier den populären und nicht ganz so populären Bildungstraditionen widmet, so sagt er auch Merkverse und Abzählreime auf, liest zu Weihnachten den Kinderzimmer-Klassiker „‘t was the Night Before Christmas“ vor (eine Art amerikanisches Gegenstück zum „Knecht Ruprecht“) – und dann erklingt „Stille Nacht“, in einer karibischen Mambo-Version.

Doch selbst in der Verbindung von Musik, Poesie und Kulturgeschichte erschöpft sich die universalpoetische Energie des Unternehmens noch nicht. Zum konsequenten Radiospiel gehören auch die Entspannungsübungen, zu denen der Moderator in seiner Sport-Sendung einlädt, oder die Putztips, die er in „Springtime Cleaning“ gibt („Wischen Sie immer von oben nach unten und von innen nach außen!“). In der Weihnachtssendung beginnt er, nachdem er zuvor zum Bereitlegen von Papier und Bleistift aufgefordert hat, geduldig ein Puddingrezept zu diktieren; es dauert minutenlang und ist tatsächlich ein Puddingrezept. Und natürlich fehlt auch die Reklame der alten Tage nicht, die freilich ökonomisch längst zwecklos, gerade so aber dem ästhetischen Genuss verfügbar geworden ist. Auch in der „Theme Time Radio Hour“ also, im werbefreien „XM Radio“, gibt es Jingles und Werbespots. Nur werben sie jetzt für Produkte und Firmen, die es längst nicht mehr gibt, wiederholen Original-Durchsagen aus dem Kalten Krieg („In the event of atomic bombing – don’t use the phone!“) oder präsentieren Ausschnitte aus Kinofilmen, die seit einem halben Jahrhundert in keinem kommerziellen Kino mehr aufgeführt worden sind. Nichts und niemand aber weist darauf hin, dass überhaupt Zeit vergangen ist, seit dies alles aufgenommen wurde: Im kalkulierten Verschwimmen der amerikanischen Epochen wird es alles gleich gegenwärtig.

Die Unterschiede zwischen Poesie und Songs ebenso zu überspielen wie die zwischen Hoch- und Popularkultur: man kann verfolgen, wie dieses Vorhaben im Laufe des ersten halben Jahres zum leitenden Prinzip wird. Schon von den ersten Sendungen an behandelt Dylan gerade die naivsten Texte der Songs, die er vorstellt, mit demselben Ernst wie die Poesie Eliots und Dickinsons. Und wo nötig, verfremdet er das allzu Bekannte, indem er Texte von der ersten in die dritte Person transponiert, Verse herauslöst oder zusammenfasst und so eine Poesie entdeckt, von der die großen Anthologien nichts wissen. „Let’s hear one now from the poet laureate of love in Texas“, sagt er zur Einführung von Buddy Hollys Klassiker „Peggy Sue“. Und wenn der Song zu Ende ist, hebt er zwei Verse des poeta laureatus hervor, in einem ernsthaft staunenden Tonfall: „If you knew Peggy Sue / Then you knew why I feel blue.“ Und für einen blitzhaften Moment tritt Peggy Sue neben Annabel Lee: Es ist derselbe Ton, in dem Dylan beide rezitiert.

3. Ironie

„Dreams, themes and schemes“, lautet der immer wiederholte und variierte Slogan, den Dylan für seine Sendung erfunden hat: „This is Theme Time Radio Hour, where our dreams are just as important as our schemes (and that’s our theme).“ Der Slogan bildet die Kurzform ihres romantischen Programms. Träume und Entwürfe sind es, die sich hier zu thematischen Arabesken verschlingen, als eine progressive Universalpoesie im elektronischen Medium und imprägniert von einer zutiefst romantischen Ironie.

Am auffälligsten wird das in den rituellen Paraphernalia, die den stabilen Rahmen jeder Sendung bilden. Denn zu den Grundeinfällen, die aus dieser Radio-Reihe ein Konzeptkunstwerk machen, gehört nicht nur das Prinzip der schrägen Anthologie. Mindestens ebenso wichtig ist deren fiktionale Inszenierung. Jedesmal, wenn Ellen Barkin ihre neuen Zeilen aus dem Prosagedicht über die Großstadtnacht gesprochen hat, stellt Dylans rauhe, geschmeidige und übergenau artikulierende Stimme das Thema der Sendung vor. Manchmal sagt er es einfach an („Today’s Subject: Flowers“), manchmal lässt er es auch sich selbst ansagen. „Mister announcer, who are you?“ singt es dann zum Beginn der Sendung fröhlich von einer kratzenden alten Schallplatte (denn das Thema ist diesmal „Radio“), und dann murmelt eine wohlbekannte Stimme heiser in die Aufnahme hinein: „Howdy ev’rybody, this is Bob Dylan.“ Aber der lustige Sänger im Hintergrund fragt weiter: „Tell me the station I’m listening to!“ Dylan, knarzig: „The XM network. Satellite radio.“ Gesungene Frage: „How ‘bout telling the time to me?“ Dylans Antwort: „Time for Theme Time Radio Hour.“ Schließlich: „And what’s the weather gonna be?” Da seufzt Mister Announcer, denn draußen vor dem Abernathy Building geht gerade ein harter Regen nieder.

Dieses Abernathy Building ist ein ebenso unentbehrlicher Teil des Setting wie das Mikrophon. Dylan, so hat der Musiker und Musik-Archäologe T-Bone Burnett treffend bemerkt, habe für seine Radio Show „eine Art mythischer Stadt erfunden, in der dies alles passiert“. Erbaut ist sie aus Materialien einer 1940er-Jahre-Ikonografie. Jede Sendung spielt mit der Fiktion eines zugleich rumpeligen und urbanen alten Aufnahmestudios, des „Studio B“ im Abernathy Building eben. Vor sich hat der Moderator das Trichtermikrophon, neben ihm tickt „that old clock on the wall“, ihm gegenüber sitzt der Toningenieur, mit dem er sich manchmal ein Späßchen erlaubt. Und aus seinem Fenster blickt er hinaus über die nächtliche „big city“ – in der Weihnachtssendung etwa auf das Dach, auf dem gerade der Schlitten von Santa Claus landet.

In Wirklichkeit nimmt Dylan die Sendungen natürlich fast nie im Studio, sondern irgendwo unterwegs in der Welt auf, während der Never Ending Tour, in dem Reisebus, der seinen Hauptwohnsitz darstellt. (Immerhin hat er in den elf Monaten seiner wöchentlichen „Radio Show“ auch sein neues Album produziert und rund hundert Konzerte gegeben.) Von dort aus schickt er sie ans Studio, wo sie technisch bearbeitet und über Satellit und Internet weltweit verbreitet werden. Der Gegensatz zwischen der altmodischen Medienfiktion und den realen Produktions- und Distributionsformen der Sendung, die Spannung also zwischen Radio Days und „XM Radio“, ist eine der Pointen des Unternehmens. Dylans Radiostadt existiert nur in der Fiktion, und sie gibt das auch deutlich zu erkennen. Erst in der Fantasie der Hörer soll das Vergangene wieder lebendig werden – im Bewusstsein der Fiktion. „I’ll let you be in my dreams, if I can be in yours“, hat Dylan in einem seiner frühesten Songs geschrieben. Seine Radio Hour macht das Traumspiel zur ironischen Wirklichkeit.

Am Ende steht regelmäßig das Bedauern, dass doch tatsächlich schon wieder eine Stunde vergangen ist, weil auch im Rundfunk jegliches seine Zeit hat. „Well“, schnarrt der Moderator, „the old clock on the wall says it’s time for me to go!“ Und dann folgt ein je nach Thema wechselnder, stets aber launiger Ausblick auf den Rest des Abends: Nach der „Telephone“-Sendung muss der Moderator noch rasch telefonieren gehen, am Ende von „Dogs“ den Hund ausführen, und nach „Drinks“ wird er sich in der Bar gegenüber endlich einschenken, was er hier im Studio nur beschreiben durfte („ich werde schon beschwipst, wenn ich bloß davon rede“). Nicht auf diesen Pointen selbst liegt der Akzent, sondern darauf, dass sie eben jene Scherze variieren, mit denen die legendären Moderatoren der Radio Days ihre Sendungen zu beenden pflegten.

Demselben Muster folgend, meldet sich endlich im Abspann ein zweiter alerter Gentleman zu Wort, mit denselben Wendungen, mit denen sich eben seinerzeit die durchs Abendprogramm führenden Radioansager vorstellten: „This is your announcer, Pierre Mancini – speaking!“ Und während im Hintergrund schon ein Jazzpiano die beschwingte Titelmelodie intoniert, spricht Mr. Mancini (hinter dem sich niemand anders als Eddie Gorodetsky verbirgt, der Produzent der Sendung) allen Beteiligten seinen Dank aus – ganz besonders „Sampson’s Diner“, wo sich alle später noch treffen werden und den es mutmaßlich gar nicht gibt.

Die Folie dieser Fiktionen ist die Allgegenwart des Fernsehens (wie die des kommerziellen pop-chart-radio). Wenn es dennoch eigentlich kein Ressentiment dagegen gibt, dann nur deshalb, weil der spielerisch-heitere Ton für dergleichen überhaupt keinen Platz lässt. Gegen das Kommerzielle hat Dylan am wenigsten einzuwenden, schon weil es zu den Triebkräften der Popularkultur gehört. Seine Feinde sind das Vergessen und die Übermacht der Bilder, die das Gehör betäuben, die Worte und Klänge überblenden. Sein Unternehmen soll den Furien dieses Verschwindens begegnen – und zwar am wirkungsvollsten, indem es sie anlächelt.

Einmal liest Dylan eine Passage aus den Lebenserinnerungen von Billie Holiday vor. Darin schildert die Sängerin, wie sie unter Heroineinfluss nichts lieber getan habe als stundenlang fernzusehen und wie sie sich dann in eine Entzugsklinik begeben habe. Tja, bemerkt Dylan, indem er das Buch wieder zuschlägt, vom Heroin könne man so loskommen. „But TV has ruined the brains of many young Americans.“ Pause. „And it’s legal.“

Die kulturkonservative Fernseh-Kritik wird hier freilich gebrochen durch eine mediale Selbstsubversion von hohen Graden. Allein die E-Mails! Keine Sendung ohne diese kleine Briefkastenecke, in der sich das Spiel mit den Medien und Zeiten am vergnüglichsten verdichtet. „I love emails“, bekennt Dylan einmal. „I just miss the postman. I used to like it when he would come by and tell me what my neighbours were doing. Oh well, times change.“ Gewiss, die Zeiten ändern sich. Aber doch nicht soweit, dass man nicht noch Post bekäme. Nur ist sie jetzt elektronisch, und wer da noch einem Postmann begegnen möchte, der muss sich wohl oder übel selbst ein Mützchen aufsetzen. „Werfen wir einen Blick in unseren E-Mail-Korb“, sagt Dylan also in jeder Sendung. „Let’s see –“, Rascheln und Blättern; man sieht ihn förmlich vor sich, wie er die Umschläge öffnet und ihnen die E-Mails entnimmt. „Dear Theme Time“, beginnen sie, manchmal auch „Dear Bob“; und sie sind fast alle offensichtlich dreist erfunden. Bei den Absendern handelt es sich entweder um völlig unbekannte oder um sehr populäre Zeitgenossen. So lässt einmal George Clooney schön grüßen und erkundigt sich, warum in der Show nie Songs seiner lieben Tante zu hören seien, der Pop- und Jazz-Sängerin Rosemary Clooney (die tatsächlich seine Tante war) – und wer beschreibt Dylans freudige Überraschung, da er doch gerade eine Platte ebendieser Tante in der Hand hält. Blättern und Rascheln, dann findet sich Post von „einem gewissen M. Scorsese“. „Well alright, M.!“ antwortet Dylan, da ja der Absender seinen Vornamen im Dunklen gelassen hat – ein Scherz, der ihm so gut gefällt, dass er ihn mit anderen prominenten Einsendern wiederholt. Manchmal gerät das Spiel zur lakonischen Nonsense-Performance. Einmal will zum Thema „Father“ ein gewisser Johnny Depp wissen, wer eigentlich „the father of communism“ gewesen ist. Das lässt sich nun ganz knapp und klar beantworten: „Well Johnny“, doziert Doktor Bob, „Karl Marx was the father of communism”; Ende der Durchsage. Erst in der vorletzten Show kommt die ganze Rubrik einem Frager verdächtig vor. Er habe das Gefühl, schreibt er, all diese Mails seien doch bloß fiktiv. „Hm-hm“, überlegt Dylan. „Wenn sie fiktiv wären – wie könnte ich dann Ihre Mail hier vorlesen? Haha! Jetzt hab ich Sie!“

Das Trichtermikrophon, durch das zu sprechen dieser Moderator vorgibt, und „the old clock on the wall“: sie bilden ein doppeltes Leitmotiv. Es ist ein Spiel mit den Medien, mit der Zeit und den Zeiten. Schon die Titelbegriffe deuten das unauffällig an, „Theme Time“ und „Radio Hour“. Und wenn Dylan in einer späten Folge überraschend bemerkt, der Tod sei „a subject we visited in every episode“, dann spricht er eine schlichte Tatsache aus. Man hätte es beinahe nicht bemerkt hinter all dem schönen Schein. Und doch ist es tatsächlich nicht übertrieben. Dylans Träume handeln von Schein und Zeit; in der alten Uhr an der fiktiven Studiowand tickt eine Vergangenheit, die nicht vergehen soll.

4. Neue Mythologie

Was Dylan in diesen Songexpeditionen und Text-Sondagen unternimmt, sind akustische Kreuz- und Querschnitte durch das kulturelle Archiv der USA. Wollte man Skeptikern erklären, was mit der Rede vom „kulturellen Archiv“ eigentlich gemeint ist, die seit einigen Jahren in den Kulturwissenschaften kursiert – die „Theme Time“ gäbe das einleuchtendste Beispiel.

Es ist ein spezifisch amerikanisches Archiv, das Dylan allwöchentlich eröffnet, amerikanisch in den Themen wie in der Struktur. Die Popularkultur, die Dylan inszeniert, trägt nicht anders als die Literatur dazu bei, eine Art nationaler Identität zu stiften – aus der Vielstimmigkeit ihrer Traditionen heraus, und unter deren entschiedener Wahrung. Sie artikuliert sich in gemeinschaftsbildenden und -stabilisierenden heiligen Büchern und profanen Ritualen, Gebrauchsgegenständen oder Raum-Vorstellungen. Um „Baseball“ geht es also (diese Sendung ist denn auch umgehend in die Bibliothek der „Baseball Hall of Fame“ aufgenommen worden) und um „The Bible“, um den Kult der „Cars“ und um das labyrinthisch verzweigte Straßensystem, auf dem die Trucker, wie vor ihnen die Pioniere der Landnahme, den Raum der Nation durchmessen („Maps“).

Jedes dieser Themen trägt zu der einen, gemeinsamen mythischen Geschichte bei – so wie jede Landschaft, jede soziale Gruppe, jeder Staat beiträgt zu dem, was America heißt. Deshalb widmet Dylan einigen der für die Song-Kultur produktivsten Staaten der Union jeweils eine eigene Episode: New York, Texas, Tennessee; deshalb weiß er von der geografischen, sozialen und kulturellen Herkunft jedes Musikers zu erzählen, kennt die Routen seiner Wanderwege (denn vielgewandert sind sie alle, Dylans musikalische Helden) und nennt die Labels, auf denen die Songs erschienen und von denen in den Pioniertagen noch jedes ein eigenes Programm bedeutete. So entsteht die Landkarte einer kulturellen Diversifikation, die mit der Zeit geschrumpft ist.

Die jedesmal wieder verblüffende Vielfalt von Dylans Anthologien entspringt darum nicht nur der rastlosen Neugier eines musikalischen Scouts (auch wenn dieser Antrieb hier ebenso vital ist wie in seinem amerikanischen Song-Werk). Sondern sie folgt auch dem Streben nach Repräsentanz einer Nation, die hier ganz und gar als Kulturnation erscheint, als Popular-Kultur-Nation – „from the redwood forests to the gulf stream waters“. Diesem Vorsatz verdankt dieses Programm seinen Drive. Jeder Blues, jeder mexikanische Song in spanischer, jeder Cajun-Titel in französischer Sprache läuft – was immer er sonst noch zu sagen hat – hinaus auf die ungeschriebene bottom line: „This land is your land, this land is my land.“

Der eigentümliche Patriotismus dieser Sendungen ergibt sich aus Dylans romantischer Vision der Popularkultur: ein amerikanischer Traum der Gemeinsamkeit, geträumt von einem Einzelgänger. Das fällt vor allem dort auf, wo sich die sonst so anarchisch verspielten Sendungen betont auf national verbindende Anlässe beziehen: Um „Heart“ geht es am Valentinstag, um „Fools“ am Fools’ Day; Weihnachten, der Frühjahrsputz und der Abgabetermin für die Steuererklärung ergeben eigene Themen. Am Horizont von Dylans Shows erscheint so nicht weniger als eine Neue Mythologie der amerikanischen Popularkultur – freilich eine, die allein durch die Kunst erzeugt wird und am Ende auch nur in ihr besteht. „But you’re never lonesome, as long as you listen to Theme Time Radio Hour“, versichert der Moderator einmal, und der Witz ist, dass er das wörtlich meint.

Was hier erklingt, ist mehr als ein mit Gedichten und anderen Wort-Spielen angereichertes Songlexikon. Es ist des alten Knaben Wunderhorn. Nur dass die Volkslieder, die alten ebenso wie die hinzugedichteten, nicht mehr auf dem Papier gesammelt und verteilt werden, sondern auf Tonträgern und über Satellit, und dass – im Gegensatz auch zu ethnografischen Vorgängern wie John und Alan Lomax oder Harry Smith – der Konstruktionscharakter des Rekonstruktionsversuchs nicht mehr verdeckt, sondern ausgestellt wird.

Das spezifisch Dylaneske an dieser akustischen re-birth of a nation liegt in dem einen magischen Wort, in dem alles, worauf es ihm ankommt, kondensiert ist. Es lautet: songs. Dylans Amerika ist, von seinen frühesten Aufnahmen bis in diese Radio Shows hinein, ein Effekt seiner Songs. Bei aller Liebe zu den großen Stars und den kleinen Vergessenen – nicht die Sänger sind die Helden der mythischen Welt, sondern die Gesänge. Nur weil und insoweit sie dies verstehen, können dann auch die Sänger Helden werden. Der romantische Zauber der Songs bindet wieder, was die akademische Mode streng geteilt: Musik und Historie, Literatur und Reklame, Hochkultur und Alltag. Im Song sind hier nicht nur Musik und Poesie, sondern auch Poesie und Wissen noch ungeschieden. Er ist die archaische, in mehrfachem Sinne reine Ausdrucksform einer anonymen Popularkultur selbst, und er ist es als elementares Medium der Information, Kommunikation und Selbstverständigung.

Ausdrücklich und nachdrücklich erinnert Dylan deshalb daran, dass noch im frühen 20. Jahrhundert Worksongs, Balladen, Field-Hollers nicht nur der Arbeitserleichterung (oder gar nur der gemeinsamen Unterhaltung), sondern buchstäblich der Nachrichtenvermittlung gedient haben. John Henry, der Schienenleger, oder der Eisenbahnheld Casey Jones: sie sind auf diese Weise zu Helden geworden, aus den Songs, die die Nachrichten von ihren Heldentaten waren. Als diese Nachrichten noch von den Arbeitern von Feld zu Feld weitergesungen wurden, da konnten sie zu Gesängen werden.

Die Sänger sind, darauf kommt alles an, derselben vergangenen Welt entsprungen wie ihre Helden und ihre Hörer. Weil sie teilhaben an der Western-Welt, von der sie erzählen, deshalb können sie die Ursprünge, die sich immer weiter in Zeit und Raum verlieren, in ihren Songs festhalten. Und weil diese neuen Liebes- und Arbeits-, diese Götter- und Heldenlieder im Westen der USA mitten in der Moderne entstehen, können sie in akustischen Speichermedien aufbewahrt und durch die neuerdings aufgekommenen Radioapparate verbreitet werden, „highly efficient resonating devices“. Die Radio Days begreift Dylan als historisches Verbindungsglied zwischen der archaisch-oralen Unterschichtkultur, aus der die Songs heraufkommen, und den modernen und postmodernen Medienwelten. Im Radio vereinen sich, wie er einmal in Abwandlung seines Slogans scherzt, „dreams, schemes and post-modern screams“.

Dylans Homer heißt also Blind Willie McTell („nobody can sing the blues like Blind Willie McTell“), seine wandernden Rhapsoden sind Countrysänger wie Jimmie Rodgers, dessen Verbundenheit mit den Pionier-Eisenbahnen schon sein Beiname beglaubigt („the Singing Brakeman“), oder Woody Guthrie, der Wanderarbeiter als wandernder Sänger. Es sind singende Prediger wie der geheimnisumwobene Washington Phillips, dessen Spur sich nach unwirklich schönen Gospelaufnahmen der frühen 1920er-Jahre irgendwo zwischen Himmelsharfen und Straßenstaub verliert. Es sind straßenerfahrene Intellektuelle wie Jack Kerouac oder Chuck Berry, dessen Songs die Pionierzeit hinüberführen in die Rebellion des Rock’n’roll.

Dylan kann diese Konstellationen so souverän hörbar machen, weil er selbst ja die Reihe der Wandernden fortsetzt; auch dies gehört zu seiner Radio-Rolle. So kommt es vor, dass er einen Sänger mit dem beiläufigen Satz einführt: „I met him once, on the road“. Die Grundspannung zwischen den beiden Rollen-Ichs, die er für seine Inszenierung braucht, entspricht genau dieser archetypischen Doppelrolle, die er aus seinen Traditionen übernimmt: Als Plaudereien eines gemütlich-ortsfesten Radiomoderators im Abernathy Building gibt Dylan aus, was er als einsamer Hobo unterwegs aufnimmt. Die Welt seiner „Theme Time Radio Hour“: das ist ein Amerika, das vielleicht zu keiner Zeit so ganz existiert haben und hinter dem die Wirklichkeit immer etwas zurückgeblieben sein mag. Und doch ragt es immer wieder, im Augenblick eines gelungenen Songs, in sie herein. Aus diesen Augenblicken baut Dylan seine mythische Stadt.

Anmerkung der Redaktion: Dies ist die etwas modifizierte und aktualisierte Fassung eines Beitrages, der unter dem Titel „Des alten Knaben Wunderhorn: Dylans Radio im Merkur 61 (2007), H. 10, S. 916-927, erschienen ist. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung. Bei Reclam erschien 2009 Heinrich Deterings Einführung zu Bob Dylan in 3., durchgesehener und erweiterter Auflage und 2008 eine von Detering kommentierte Auswahl von Songtexten (Bob Dylan: Lyrics) in englischer Sprache.