Der Schatten in den Dingen

Herta Müller beschreibt den Verlust der Selbstverständlichkeit

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der "Fremde Blick" gilt als maßgebliche Qualität literarischen Schaffens: Der Schreibende nimmt das Leben von einem ver-rückten, fremden Standpunkt aus wahr und unterscheidet sich somit von den Nicht-Schreibenden. Das verleiht dem Schriftsteller einen prominenten Status; ein solcher Blick wird schließlich als besondere Last verstanden, die der Autor tugendhaft auf sich nimmt. Auch Herta Müller wurde dieser "Fremde Blick" bescheinigt, zumal ihre Wahrnehmung als Rumäniendeutsche in doppelter Hinsicht gebrochen scheint. Doch Herta Müller sieht in dieser Darstellung ihrer Schreibart eine unzulässige Vereinfachung, die den wahren Ursachen für ihren "Fremden Blick" nicht gerecht wird. "Ein fremdes Auge kommt in ein fremdes Land - mit dieser Feststellung geben sich viele zufrieden, außer mir. Denn diese Tatsache ist nicht der Grund für den Fremden Blick. Ich habe ihn mitgebracht aus dem Land, wo ich herkomme und alles kannte." Wie kommt es also, dass Müller bereits in einem Land, in dem sie 1953 in Nitzkydorf geboren wurde, in dem sie aufgewachsen ist, in dem ihr alles vertraut war, den Alltag nicht mehr in der natürlichen Selbstverständlichkeit erleben und wahrnehmen konnte?

Die Antwort auf diese Frage erteilt Müller in ihrem Buch "Der Fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne", das als schmaler Band der "Göttinger Sudelblätter" im Wallstein Verlag erschienen ist. Das Buch mit dem wunderbar wahren Titel beschäftigt sich wie bereits ihre Trilogie "Der Fuchs war damals schon der Jäger" (1992), "Herztier" (1994) und "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" (1997) mit dem Leben in der Diktatur, mit dem Trauma der Überwachung und dem Verlust des Privaten im Ceausescu-Regime.

Mit den regelmäßigen Verhören der Sekuritate und den deutlichen Spuren des Terrors in sicher geglaubten Räumen schwindet das Vertrauen der Schriftstellerin in das Selbstverständliche und weicht einem permanenten Gefühl des Misstrauens und der Angst. Sei es der tägliche Gang zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Friseur - überall lauert der Verfolger der Staatspolizei, und wenn er nicht körperlich anwesend ist, so sitzt er als "Schatten in den Dingen" des Alltags: "er hat das Fürchten hineingetan ins Fahrrad, ins Haarebleichen, ins Parfum, in den Kühlschrank und gewöhnliche, tote Gegenstände zu drohenden gemacht. Die privaten Gegenstände des Bedrohten personifizieren den Verfolger." Angesichts der rigiden Unterdrückungsmechanismen ist für Herta Müller der "Fremde Blick" kein literarisches Phänomen, keine stilistische Besonderheit oder bloß Folge einer fremden Umgebung. Er resultiert aus dem Verlust von Vertrautheit, dem Verlust der Selbstverständlichkeit und gehört damit ursprünglich in die außerliterarische Welt. Im rumänischen Alltag war es Herta Müller nicht mehr möglich, ihren Freunden und ihrem Besitz mit einem natürlichen Blick zu begegnen, weil sie überall tatsächliche Spuren von Überwachung erkannte oder vermutete. Der tägliche Gang durch die Wohnung geriet zum misstrauischen "Kontrollgang" - ein Zustand, in dem man sich sogar den Wahnsinn herbeiwünscht, weil man in ihm eine neue Art der Selbstverständlichkeit zu finden erhofft.

Auf knappstem Raum, auf weniger als 30 Seiten vermittelt Herta Müller eindringlich ihr Verständnis von einem "Fremden Blick", führt fragmentarisch an ganz banalen Beispielen vor, wie unerträglich brutal die staatliche Kontrolle unter Ceausescu funktionierte. Sie macht begreiflich, was es heißt, das natürliche Vertrauen in die Dinge zu verlieren und der Umwelt nicht mehr Selbstverständlichkeit begegnen zu können. Doch es scheint gerade diese deformierte Sicht zu sein, der es Müller möglich macht, hiervon so scharfsinnig und analytisch zu berichten.

Titelbild

Herta Müller: Der Fremde Blick oder das Leben ist ein Furz in der Laterne.
Wallstein Verlag, Göttingen 1999.
48 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3892443599

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