„Im Sündenschrank darüber reden?“

Der Elsässer Pierre Kretz’ taucht mit seinem Roman „Ich, der kleine Katholik“ tief in seine kindliche Glaubenswelt ein

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pierre Kretz, 1950 im zentralelsässischen Sélestat geboren, legte 2005 seinen autobiografischen „Roman“, so der Untertitel, „Quand j’étais petit, j’étais catholique“ vor, dem 2009 „Le Gardien des âmes“ – ebenfalls in Straßburg bei La Nuée Bleue/DNA erschienen – folgte.

Der erzählerische Erstling des ehemaligen Rechtsanwalts Kretz, der heute in Sainte-Marie-aux-Mines in den Vogesen lebt, ist nun, hervorragend übersetzt von Irène Kuhn, beim Tübinger Klöpfer & Meyer-Verlag erschienen. In 34 kleinen Kapiteln erinnert sich Kretz seiner Kindheit, die weitgehend mit seinem Leben als Katholik zusammenfällt, Ende der 1950er-Jahre in einem „Sünderdorf“ im Elsass.

Der Text setzt ein mit dem Hinweis: „In der Kirche des Dorfes, in dem der kleine Katholik wohnte, war der Beichtstuhl hinter dem Altar verborgen“ und endet mit der Emanzipation des „kleinen Katholiken“, als er dem Dorfpfarrer selbstbewusst über seine Lektüren Auskunft gibt: „Als er die Namen der Autoren hörte, die derjenige las, für den er so viel gebetet hatte, erstarrte sein Gesicht in einem Ausdruck, den der kleine Katholik sein Leben nicht vergessen würde. Und dann, langsam, unaufhaltsam wurde der kleine Katholik groß.“

Doch bis dahin sind es jene Regeln und Glaubenssätze, jene Traditionen und kirchlichen Praktiken, die ihr Zentrum allzu sehr in jenem „Sündenschrank“ hinter dem Altar haben, die das Leben des kindlich-frommen Knaben und seiner Umgebung dominieren. Dabei gilt es auch Verstörendes beiseite zu schieben, wenn ein vermeintlicher „Todsünder“ behauptet, dass es bei den Protestanten mit „eine[r] Art gemeinschaftliche[r] Beichte“ erheblich leichter sei: „die Gläubigen seien im Gotteshaus versammelt, jeder einzelne denke ganz fest an alle seine Sünden und mache sich deretwegen bittere Vorwürfe, und dann segne der Pastor alle und erteile ihnen die Absolution – und das war’s! Die Birne ist geschält, so lautete ein im Dorf gängiger Ausdruck.“

Aus heutiger Warte mag man bei vermeintlichen ‚Glaubensweisheiten‘, wonach Peugeotfahren evangelisch, Renaultfahren hingegen katholisch sei, genauso schmunzeln wie vielleicht noch bei der Überzeugung, dass Frankreich „die älteste Tochter der Kirche“ sei. Das Schmunzeln verkehrt sich leicht ins Gegenteil, wenn sich der fromme Knabe immer wieder nach einer möglichen Unkeuschheit befragen lassen muss, ohne genau zu wissen, was gemeint ist. Umso mehr mögen beim Leser unserer Tage leicht Zorn und Wut, zumindest Trauer und Enttäuschung entstehen, wenn Kretz die Seelenqualen andeutet, die der kleine Katholik empfindet, als sich ihm ein Pariser Pfadfinderpfarrer nähert: „Im Sündenschrank darüber reden? Aber wie? Der kleine Katholik hatte bestimmt Schuld auf sich geladen, da wir ja allzumal Sünder sind. Und Gérard, dieser bewunderungswürdige Pfarrer, der tagtäglich für seine kommunistischen Feinde betete, konnte nicht gesündigt haben, da er ja Priester war.“

Dennoch: Kretz hat keine Abrechnungsgeschichte, kein Klagebuch oder eine „Gottesvergiftung“ geschrieben. „Ich, der kleine Katholik“ ist ein poetisch leises, teilweise melancholisch-heiteres Erinnerungsmosaik, schlicht „eine wunderbar-wundersame Geschichte vom Großwerden“, wie sein Schriftstellerkollege Walle Sayer auf dem Klappentext zitiert wird.

Titelbild

Pierre Kretz: Ich, der kleine Katholik. Erzählung.
Übersetzt aus dem Französischen von Irène Kuhn.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2010.
170 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783940086860

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