Ein Traum zu zweit

Zum Tod von Teofila Reich-Ranicki

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Am Freitag, dem 29. April 2011, ist Teofila Reich-Ranicki gestorben. Tosia, wie Marcel Reich-Ranicki sie nannte, wurde im selben Jahr wie er geboren. Sie war eine polnische Jüdin und wie er liebte sie die Literatur. Die erste, entscheidende Begegnung stand nicht im Zeichen der Literatur, sondern des Todes. Schon in der zweiten Phase gegenseitiger Annäherung jedoch waren Liebe und Literatur eng assoziiert. „Wir erzählten uns gegenseitig unser Leben […], wir lasen Gedichte von Mickiewicz und Tuwim, von Goethe und Heine. Sie wollte mich für die polnische Poesie gewinnen, ich wollte sie zur deutschen Dichtung bekehren und verführen. So gewannen wir einander, und bisweilen unterbrachen wir die Lektüre.“ Zum 21. Geburtstag, am 2. Juni 1941, schenkte sie ihm eine mit eigener Hand abgeschriebene und illustrierte Auswahl aus Erich Kästners Gedichtband „Lyrische Hausapotheke“. Sie erschien 2000 als Faksimiledruck.

Zusammen mit der Literatur und der Musik, so beschreibt es Reich-Ranicki in seiner Autobiographie „Mein Leben“, wurde die Liebe zu einem „Narkotikum, mit dem wir unsere Furcht betäubten – die Furcht vor den Deutschen.“ Als im Sommer 1939 die deutschen Truppen Polen überfielen und Warschau besetzten, beraubten und erniedrigten, schikanierten und quälten sie die Juden. Einer von ihnen hieß Langnas. Er hat die ihm zugefügten Beschämungen nicht ertragen. In Lodz war er Besitzer einer Fabrik gewesen, die er nun nicht mehr betreten durfte. Wenig später wurde er auf offener Straße von einem deutschen Soldaten geohrfeigt. In den folgenden Wochen sprach er viel von Selbstmord. Nachdem er zusammen mit der Familie nach Warschau geflüchtet war, redete er davon nicht mehr, zeigte jedoch Merkmale einer tiefen Depression. Am 21. Januar 1940 gingen seine Frau und seine Tochter für kurze Zeit außer Haus. Als sie zurückkehrten, hatte sich Herr Langnas an seinem Hosengürtel aufgehängt. Der Tochter gelang es nicht, den Gürtel zu durchschneiden. Als die Mutter des jungen Reich von dem Geschehen in der Nachbarschaft hörte, bat sie ihren Sohn, sich um die junge Frau, die Teofila hieß, zu kümmern. Er tat es – so fing eine die folgenden Jahrzehnte überdauernde Liebes- und Ehegeschichte an.

Teofila Langnas wurde am 12. März 1920 in Lodz geboren. Der Vater war Mitinhaber einer Textilfabrik. Das geplante Kunst-Studium in Paris verhinderte nach dem Abitur im Jahre 1939 der Kriegsausbruch. Im Dezember 1939 floh die Familie Langnas aus Lodz nach Warschau, später musste sie in das Getto umziehen. Dort war Teofila Langnas als Graphikerin tätig. Das Elend in dem Getto hielt sie in Form etlicher Aquarelle fest, die mit „T. Reich“ gezeichnet sind. Sie wurden im Jahr 2000 in dem zusammen mit Hanna Krall verfassten Buch „Es war der letzte Augenblick. Leben im Warschauer Getto“ veröffentlicht und später in mehreren  Ausstellungen gezeigt. Nach Kriegsende begann Teofila Reich an der Warschauer Kunsthochschule zu studieren, brach das Studium jedoch bald ab, arbeitete in der Polnischen Presseagentur und danach als Redakteurin im Polnischen Rundfunk. In Polen übersetzte sie zwei Romane aus dem Englischen, in Deutschland später Kinderbücher und Filmskripte aus dem Polnischen ins Deutsche.

Als Marcel Reich-Ranicki 1950 wegen „ideologischer Entfremdung“ aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde, legte man seiner Frau nahe, sich von ihm scheiden zu lassen. Kurze Zeit später erlitt sie einen schweren Nervenzusammenbruch. Ihr Leben lang musste sie seither in medizinischer Behandlung bleiben. 1958 flog Teofila Reich-Ranicki mit ihrem Sohn nach London, während sich ihr Mann auf die endgültige Ausreise in die Bundesrepublik vorbereitete. Von London aus kam sie wenig später ebenfalls in die Bundesrepublik.

Reich-Ranickis Autobiografie gab der Geschichte dieser Liebe ein literarisches Motto. Mit zwei Versen aus Hofmannsthals „Rosenkavalier“, die der junge Reich sich im Warschauer Getto vor der Polizeistunde auf dem Weg von der Geliebten nach Hause immer wieder vorsagte, ohne recht wahrzunehmen, was sich um ihn herum abspielte, beendet er seine Lebensgeschichte: „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein,/  daß wir zwei beieinander sein.“

Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. 50 Gedichte im Warschauer Getto aufgeschrieben und illustriert von Teofila Reich-Ranicki.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2000.

Teofila Reich-Ranicki / Hanna Krall: Es war der letzte Augenblick. Leben im Warschauer Getto. Aquarelle und Texte.
Übersetzt aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2000.