Zigarettenmomente in Null-Geschwindigkeit

Gregor Hens umkreist in seinem Essay „Nikotin“ sein Leben mit der Sucht

Von Sarah PogodaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Pogoda

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gregor Hens hat sich das Rauchen abgewöhnt. Nach weit mehr als 100.000 Zigaretten. Zum wiederholten Mal. Und er hat ein Buch darüber geschrieben. Dessen Einband ist in lichtem Weiß gehalten, lediglich den unteren Rand säumen leichte Farbbögen in Orange, Rot, Gelb. Darin eingebettet der lapidare Titel „Nikotin“. Hier hat der Verlag nichts anderes als die Verpackung der „Kim red slim size“-Zigaretten nachgestellt, eine beliebte schlanke Zigarette, die vor allem in den 1970er-Jahren geraucht wurde. Ein schönes Cover, aber auch eine Referenz an den Text, denn von dieser Zigarettenmarke nahm Hens den ersten Zug seines Lebens, mit ihr erlebte er seine Initiation als Raucher. Diese ist seine allererste, zusammenhängende Kindheitserinnerung. Da war Hens gerade einmal fünf oder sechs Jahre alt. Er schildert hier ein Erweckungserlebnis, einen Moment von Bewusstheit von sich selbst und der Welt: „Nun, da sich der erste Schwindel gelegt hatte, erhielt meine Wahrnehmung eine neuartige, nie gekannte Klarheit, es war, als wäre ein Vorhang gelüftet, eine Nebelbank fortgeblasen worden. […] Ausgelöst durch das Nikotin […] spürte ich und sah, vielleicht zum ersten Mal, einen größeren Erfahrungszusammenhang.“

„Nikotin“ ist also keine Kulturgeschichte des Rauchens, sondern ein sehr persönlicher Essay über die Nikotinsucht und den Umgang mit ihr: „Ich rauche nicht mehr. Aber ich kann ja darüber schreiben. Und wenn ich schreibend das Thema meiner Sucht umkreise, das tatsächlich ein Lebensthema für mich ist, kann ich mir gleich einige Fragen stellen. Wie bin ich eigentlich zum Raucher geworden? Aus welchem Bedürfnis heraus? Haben die unzähligen Zigaretten, die ich in meinem Leben geraucht habe, dieses Bedürfnis gestillt? Wie bin ich mit meiner Sucht umgegangen?“

Und so folgt Hens den Spuren seiner Kindheit, Jugend und nahen Vergangenheit, ruft zentrale Erfahrungsmomente auf und entdeckt, dass sie alle immer auch Erinnerungen an Zigarettenmomente sind. Besonders anschaulich ist die Episode, in der Hens zum ersten Mal in die USA fliegt und die Freiheit nicht anders sinnlich zu greifen weiß, als in einem New Yorker Hostel auf dem Bett liegend eine Zigarette nach der anderen zu rauchen und die ganze Nacht verstreichen zu lassen. Er erzählt aber auch davon, wie er und seine Geschwister vom Vater früh in ein Internat geschickt wurden und er dort aus Langeweile und Einsamkeit nichts anderes zu tun wußte als zu rauchen und zu lesen.

Hens rekonstruiert wie nebenbei eine rheinische Kindheit und Jugend der 1970er-Jahre. In diesen Geschichten schimmert hier und dort die Entfremdung zwischen Vater und Sohn durch, die am Ende so weit fortgeschritten ist, dass der Vater einmal am Telefon den erwachsenen Sohn siezt. Grundlegend aber ist, dass Hens hier eben nicht nur Anekdoten sammelt, sondern beispielhafte Ausschnitte rekonstruiert, die ihm Anlass zum Nachdenken darüber geben, wie sich Suchtstrukturen zu alltäglichen Verhaltensmustern verfestigen: „Ich suche nach Bildern, nach Geschichten, nach den sinnlichen Aspekten meiner Sucht. Ich weiß aber auch, dass es nicht genügt, von ihnen zu erzählen. Ich muss umlernen.“

Bei diesem Umlernen greift eine weitere Dimension dieses Essays, die sich vor allem der Beschäftigung des Autors mit Moshé Feldenkrais verdankt, aus dessen Schriften Hens auch das Motto des Buches entnommen hat: „Eine Handlung negieren, das ist ungefähr, wie wenn man einem bewegten Körper eine andere Richtung gibt. Eine Unterbrechung, eine Null-Geschwindigkeit ist nötig im Augenblick des Wechsels von der einen zur anderen.“

Den Stillstand, den diese Null-Geschwindigkeit eigentlich meint, evoziert Hens in „Nikotin“ dadurch, dass er überwiegend im Präsens erzählt, das nur von einigen Rückblenden im Präteritum durchbrochen wird. Das Präsens verleiht den Erinnerungen die Zeitlosigkeit eines Augenblicks, der das Vergehen nicht kennt. Ein kluger Kunstgriff, der überzeugt. Die schwebende Unentschlossenheit eröffnet Hens zugleich einen Raum, in dem er verweilen kann, um sich seiner Sucht zu stellen. Besonders anschaulich wird dieses „Innehalten vor der mentalen Umkehr“ zum Nicht-Raucher, als Hens sich vorstellt auf seinem Schreibtisch läge ein grasgrünes Päckchen Salem No. 6: „Reglos stehe ich da, ich gebe dem Impuls, der mich in diesem Augenblick überfällt, nicht nach. Ich lasse, die Zeit, die ich mir genommen habe, verstreichen. […] Ich zögere, ich zaudere, ich verharre. Ich sage nicht ja und nicht nein. Die Zeit ist stehen geblieben. Nichts rührt sich. […] Ich trete nicht näher an den Tisch. Ich beuge mich nicht vor, ich greife nicht nach den Zigaretten. Ich sehe sie an, aber ich betrachte nicht sie, sondern mich selbst in dieser Situation. Was ich im Blick habe, ist mein Verhältnis zu dem erdachten Päckchen Salem“. Hens wird nicht rückfällig. Er gewinnt aus dieser hypothetischen Situation die Erfahrung von einer Freiheit in der Sucht: „Ich habe keinen Verzicht geleistet, ich habe mir nichts verweigert oder abgerungen. Ich habe mir selbst zugehört und eine Wahl getroffen.“

Wenn Hens in der Nachbemerkung zum Essay bangt, ob man es dem Buch anmerke – oder eben nicht anmerke –, dass er nicht mehr raucht, so wird der Leser zumindest doch sagen können, dass man diesem Buch die Freiheit des Autors in seiner Sucht anmerkt. Denn Hens evoziert auch sprachlich jene Null-Geschwindigkeit, in der er die Wahlfreiheit ausgemacht hat. Nichts ist zu spüren von einem schmerzvollen Ringen mit dem Verlangen nach Zigaretten. Hens unaufgeregte und lakonische Präzision verleiht dem Essay eine Leichtigkeit, die selbst die Schwermut des autobiografischen Rückblicks ausgleicht.

Die neue Freiheit, so vermutet man, erlaubt auch die Versöhnung mit der eigenen Raucherkarriere: „Ich bereue nichts. Jede Zigarette, die ich geraucht habe, war eine gute Zigarette.“ Das ist eine großzügige Geste, denn Hens beschönigt die Sucht nicht. Schließlich bezeichnet der Titel – auf dem reizvollen und deshalb auch klug pointierten Bucheinband – eben jenes Nervengift, das beim Raucher für Serotonin-, Dopamin- und Adrenalinausstöße sorgt und sein Gehirn unweigerlich konditioniert und immer wieder zur Zigarette greifen lässt, um solche Momente „absoluter Klarheit“ und „allergrößten Glücks“ nicht missen zu müssen. Mag Nikotin nur für (einstige) Raucher ein Lebensthema sein, „Nikotin“ hingegen ist ein Buch auch für jene, die noch nie eine Zigarette geraucht haben, denn wie Hens im Nachwort treffend konstatiert: „Jeder von uns ist süchtig, jeder hat zumindest eine Vorstellung davon, was es bedeutet, aus einem inneren Zwang heraus zu handeln, einen Willen zu spüren, der, fremd und vertraut zugleich, wie selbständig in uns wirkt.“ Hens’ Neuausrichtung des Willens im Zustand der Null-Geschwindigkeit ist also nicht nur lesens- sondern auch lernenswert.

Titelbild

Gregor Hens: Nikotin.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011.
188 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783100325839

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch