Jugendliches Genie und ewiger Dilettant

Über Bob Dylan

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Mit der Stimme hat alles angefangen. Schon auf dem zweiten Album, „The Freewheelin’ Bob Dylan“, war sie da, unverkennbar und unvergesslich. Es war die Stimme eines jungen Mannes, aber sie klang wie die eines alten. Es war keine ausgebildete Stimme mit großen Volumen, wohl aber eine mit ungewöhnlicher Ausdruckskraft. Schmerz, Trauer, Empörung, Übermut: Das alles schwang in ihr mit. Sie war müde, rau, schneidend, frech, aber auch warm und ausgelassen, fast fröhlich.

Mit der Stimme waren die Worte da. Es waren, ungewöhnlich für einen Sänger damals, die eigenen. Alle Lieder hatte er selbst geschrieben, mit Ausnahme von „Corrina, Corrina“. Es war für lange Zeit das letzte Stück eines anderen, das er aufnahm. Manche der 12 eigenen Lieder sollte er, zeitweilig widerwillig, für den Rest seiner Karriere immer wieder singen: „Blowin’ in the Wind“ etwa, auch „Masters of War“.

Die Musik war mit Gitarre und Mundharmonika einfach instrumentiert. Nur einmal kamen Bass und Schlagzeug hinzu, bei „Corrina, Corrina“. Die Melodien, ob schnell oder langsam, klangen alt – und manche waren es auch. Aber das wussten damals noch nicht alle, die sie hörten. Die einen erinnerten sie an Folk-Songs, die anderen an Blues. Dass auch ein bisschen Country ins Repertoire hinein gemischt war, wurde erst später offensichtlich.

Das alles zusammen war neu, auf eine spröde Weise ehrlich: Musik, wie sie von den großen Konzernen sonst nicht produziert wurde. Doch wie es war, blieb es nicht lange. Die Stimme, die Worte, die Musik änderten sich schnell: zunächst die Worte, dann die Musik und dabei zunehmend hörbar auch die Stimme. Bob Dylan wurde ein anderer Bob Dylan.

Auf dem nächsten Album „The Times They are A-Changin’“ gab es ähnliche Themen, Liebe und Politik vor allem, aber andere Melodien, auch wenn sie noch vertraut klangen, vor allem jedoch andere Worte. Ein Lied, neben dem sprichwörtlich gewordenen Titelstück, fiel auf: „When the Ship Comes In“. Es waren aber nicht die Anklänge an die Bibel, die aufmerken ließen; die hatte es auf dem vorherigen Album auch schon gegeben, in „Masters of War“ und „A HardRain’s A-Gonna Fall“. Wer Brecht kannte, musste sich vielmehr an eines seiner Lieder erinnert fühlen: an das „Lied der Seeräuber-Jenny“. Auf der Rückseite der Schallplatten-Hülle standen Gedichte in freien Versen, „11 Outlined Epitaphs“ überschrieben, die, gegen Ende, von großen Namen wimmelten. Nicht nur „Woody“, also Woody Guthrie, wurde da erwähnt, auch Johnny Cash und Pete Seeger, Brendan Behan, Allen Ginsberg, François Villon und Brecht: „as I stumble on lost cigars / of Bertolt Brecht“. Ein Witz und ein Signal: Dieser junge Sänger aus Hibbing, Minnesota, kannte Brecht. Er hatte literarischen Ehrgeiz, der nach und nach offensichtlich wurde. Die Lieder wurden wortreicher („Chimes of Freedom“), raffinierter, anspielungsreicher, dabei auch schwieriger („My Back Pages“), nicht nur stellenweise rätselhaft.

Auf dem übernächsten Album, „Bringing It All Back Home“, war auch die Musik anders. „Johnny’s in the basement / Mixing up the medicine / I’m on the pavement / Thinking about the government“: Mit diesen Versen beginnt „Subterranean Homesick Blues“, das erste Stück. Ein metallischer Sound aus elektrischer Gitarre, Schlagzeug, Bass und Mundharmonika, ein rasanter Rhythmus, gut 70 Verse ohne Refrain, aber alle gereimt, Slang und Hochsprache gemischt, jede Strophe voll knapper, sarkastisch-frecher Sätze.

Das Ganze dauerte nicht einmal zweieinhalb Minuten: So etwas hatte man noch nicht gehört. Bei diesem wortreich-wortspielenden Rocksong wusste man nicht, was unerhörter war: der Text oder die Musik. Das Ganze war offenbar ein Gedicht, das der Autor sang, als wäre er ein Rock’n’Roller. Oder sang hier ein Rock’n’Roller, als wäre er ein Dichter?

Was man aus diesem schnellen Stück heraushörte, hing vom Bildungsniveau ab. War das ein Stück Straßen-Musik, eine dreiste Ballade über das Leben gesellschaftlicher Außenseiter oder ein raffiniertes Kunstlied? Spielte der Titel auf Jack Kerouacs „The Subterraneans“ an? Oder doch eher auf Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“? Klang da nicht manches sogar nach James Joyce („Maggie comes fleet foot / Face full of black soot“) – und zugleich nach Chuck Berrys „Too Much Monkey Business“?

Keiner der zehn anderen Songs des Albums klang ähnlich wild; aber die Texte waren nicht weniger elaboriert. „She Belongs to Me“, das zweite Stück, war ein Blues, traditionell in der Form, aber schon im ersten Vers literarisch anspruchsvoller, als man es vom Blues gewöhnt war. „Love minus Zero“, das nächste Liebeslied, setzte sogar in der Art einer modernen Montage Paradoxien und Sentenzen neben Situationsbeschreibungen – das Ganze ein Porträt der Geliebten als einer Künstlerin des Lebens.

Die zweite, die B-Seite schließlich wartete mit zwei geradezu epischen Balladen auf: „Mr. Tambourine Man“ und „Gates of Eden“, beide fünfeinhalb Minuten lang. Die Fans, die Dylans Wandlung vom Folk zum Rock misstrauisch verfolgten, konnten „Mr. Tambourine Man“ noch als einen ‚alten‘ Dylan-Song nehmen, zu akustischer Gitarre und Mundharmonika vorgetragen, mit einer Stimme, die noch einmal klang wie die Woody Guthries. In Wirklichkeit hatte „Mr. Tambourine Man“, über die Instrumentierung hinaus, nicht mehr viel mit dem früheren Repertoire Dylans gemein. Von der Tradition des Folk-Songs weit entfernt, weder ein Protest-Lied noch eine Ballade, ist es subjektive Lyrik: ein visionäres Gedicht, träumerisch und voll poetischer Bilder. „Take me for a trip upon your magic swirlin’ ship“, „Then take me disappearin’ through the smoke rings of my mind“: Solcher Verse wegen gilt es bis heute als Drogen-Dichtung. Das ist es sicher auch, aber nicht nur. „Mr. Tambourine Man“ ist ein Lied über Musik, die verzaubert und befreit. Die Freiheit, die es beschwört, ist die musikalischer Imagination: die Freiheit der Fantasie.

Mit dem nächsten Album dann, „Highway 61 Revisited“, tat Dylan seinen letzten, entschlossenen Schritt auf die elektrisch verstärkte Musik zu. Er ließ sich von einer Gruppe begleiten, elektrische Gitarre, Bass und Schlagzeug gehörten nun zu seinem Sound, gelegentlich eine Orgel, er selbst spielte weiterhin Gitarre und Mundharmonika, auch Klavier. Gleich der erste Song ist in seiner eloquenten Länge, seiner hämischen Härte und in seinem vollen, wenn auch anfänglich etwas ungeordneten Klang legendär geworden: „Like A Rolling Stone“. Mit „It Takes a Lot to Laugh, It Takes a Train to Cry“ gelang Dylan ein moderner Eisenbahn-Blues, eines seiner schönsten langsamen Lieder. „Highway 61 Revisited“, der Titel-Song, nicht weniger rasant als „Subterranean Homesick Blues“, ist ein sarkastisch-pointiertes Lied, sowohl mit satirischen Passagen wie mit apokalyptischen Anspielungen. „Desolation Row“ schließlich, das letzte Stück auf der zweiten Seite, ist mit gut 11 Minuten bis dahin Dylans längster Song gewesen – und sein literarisch ehrgeizigster: ein surreales Panoptikum, in dem Albert Einstein, Adolf Hitler, Casanova, Ophelia, Ezra Pound und T. S. Eliot auftreten.

Nur Monate später kam schon das nächste Album heraus: „Blonde on Blonde“, die erste Doppel-LP der populären Musik. Es brillierte mit Liebesliedern: dem schwungvoll-schnellen „I Want You“, dem verächtlich-langsamen „Just Like a Woman“, dem epischen „Sad-Eyed Lady of the Lowlands“. Der Klang war voller als auf „Highway 61 Revisited“, weniger metallisch, fast durchgängig schwerer, ja düsterer. Letztlich jedoch enttäuschte dieses Album – mit seinem karnevalesk-rumpeligen Eingangssong „Rainy Day Women“, einem überdrehten „Leopard-Skin Pill-Box Hat“ und noch unfertig anmutenden Stücken wie „Most Likely You Go Your Way and I Go Mine“ und „Obviously Five Believers“.

Und doch: Nachdem Bob Dylan im Sommer 1966, ausgelaugt von einer strapaziösen Welttournee und zermürbt von einem oft feindseligen Publikum, nach einem schnell dramatisierten Motorradunfall von der Konzertbühne für Jahre verschwand, hatte er ein Œuvre geschaffen, das die populäre Musik verändert hatte, ohnegleichen unter seinesgleichen.

Mit den drei Alben, die Dylan 1965 und 1966 innerhalb von etwas mehr als einem Jahr herausbrachte, hat er sich einen ersten Rang innerhalb der populären Musik des späten 20. Jahrhunderts gesichert: Mit ihnen hat er sie revolutioniert. Bewandert in der traditionellen amerikanischen Musik von Folk und Blues, war er zugleich entschlossen, sie zu modernisieren. Erkennbar literarisch ambitioniert, hat er sie an die avancierte Poesie der Zeit herangeführt. Er hat eine Musik geschaffen, die populär war, ohne Pop zu sein.

Die populäre Musik war darauf kaum vorbereitet; über das – wenn das Wort in diesem Zusammenhang erlaubt ist – literarische Niveau der Beatles und Rolling Stones mit ihren teils flotten, teils frechen, teils frivolen Zwei- oder Drei-Minuten-Songs war sie kaum hinaus. Während die Beatles noch „I Want To Hold Your Hand“ sangen, hatte der junge Dylan schon daran gearbeitet, als Dichter und Musiker die moderne Lyrik und den Rock’n’Roll zusammenzubringen. Er wurde der erste populäre Dichtersänger des späten 20. Jahrhunderts, den anderen nicht nur zeitlich voraus.

Mit ihm fängt eine kurze, aber außerordentlich fruchtbare Blütezeit populärer amerikanischer Musik zwischen 1965 und 1975 an, zu der als singers und songwriters außer ihm etwa auch Leonard Cohen, Joni Mitchell, Randy Newman, Judy Collins, Neil Young, James Taylor, Gene Clark, Steve Goodman und Don McLean beigetragen haben. Ohne Dylan hätte es sie kaum gegeben.

Manche folgten ihm erkennbar, indem sie seine Lieder interpretierten. Schon Peter, Paul and Mary hatten „Blowin’ in the Wind“ populär gemacht, das dann fast jeder sang. Im Juni 1965 aber brachten The Byrds eine elektrische Version von „Mr. Tambourine Man“heraus, die als der Beginn des Folk Rock gilt. Sie war mit zweieinhalb Minuten nicht einmal halb so lang wie Dylans Original und wurde ein Hit. Im August ließen The Byrds das gleichnamige Album folgen, unter anderem mit drei weiteren Songs von Dylan: „Spanish Harlem Incident“, „All I Really Want to Do“ und „Chimes of Freedom“. Seine alte Begleitgruppe, die sich nun The Band nannte, machte sich selbständig und brachte 1968 ihr erstes Album „Music from Big Pink“ heraus mit drei Songs von Dylan: „Tears of Rage“, „This Wheel’s on Fire“ und „I Shall be Released“. Joan Baez nahm ein ganzes Album mit Dylan-Songs auf: „Any Day Now“. Judy Collins, Odetta, Richie Havens und viele andere hatten Lieder von ihm in ihrem Repertoire. Jimi Hendrix spielte vor seinem frühen Tod unter anderem eine virtuos-schwindelerregende Version von „All Along the Watchtower“ ein. Zwischen 1965 und 1970 stand Dylan im Zentrum der neuen populären Musik.

Manche entwickelten erst literarischen Ehrgeiz, nachdem sie ihn kennengelernt hatten, John Lennon etwa, auch Gene Clark, der Sänger und Schreiber der frühen Byrds. Sie folgten Dylans Beispiel und veränderten ihr Repertoire: Sie sangen nicht mehr alte Folk-Songs, sondern neue eigene Lieder wie Joni Mitchell, die die confessional poetry in die populäre Musik einführte. Sogar Joan Baez und Judy Collins, von Haus aus keine songwriters, auch ein Arlo Guthrie versuchten sich mit eigenen Texten. Leonard Cohen, der wiederum von Haus aus Lyriker und Romancier war, traute sich nun, seine Gedichte zur Gitarre vorzutragen. Dylans Erfolg hat eine neue Kreativität in der populären amerikanischen Musik freigesetzt.

Nach 1966 hat Dylan nicht mehr so viel seinem frühen Ruhm hinzufügen können, wie manche erwartet oder erhofft hatten. Auf ihm kamen unerwartete Erfolge und zumindest für ihn ebenso unerwartete Misserfolge zu, ein kommerzielles und künstlerisches Auf und Ab bis heute. „John Wesley Harding“, 1967 sein erstes Album nach zwei, sein erstes akustisches seit drei Jahren, bestach durch musikalische Einfachheit und Klarheit und durch zumeist düstere, verschlüsselte Balladen. „Blood on the Tracks“, 1975 erschienen, blieb für lange Zeit, vielleicht bis heute, sein letztes großes Album, wiederum akustisch, wiederum balladesk, wortreich und wortgewandt wie die Lieder aus der Mitte der 1960er-Jahre, nur weniger forciert. Ähnlich überzeugend waren später nur noch „Oh Mercy“, vielleicht noch „Time out of Mind“. Musikalisch nicht ausgereift und trotzdem faszinierend waren „The Basement Tapes“ mit einem Teil der lange nur als Raubpressungen habhaften Lieder, die Dylan 1967 mit The Band vor allem im Keller ihres Wohnhauses aufgenommen hat. Allerdings wurden sie nicht von Dylan selber zusammengestellt, der inzwischen dem Material gleichgültig gegenüber zu stehen schien, sondern von Robbie Robertson, dem Gitarristen der Gruppe, der sie, zu seinen Gunsten, nachträglich bearbeitete und spätere Aufnahmen der Band hinzufügte.

Ansonsten präsentierte Dylan manch Mittelmäßiges, auch Missratenes, nicht nur in seiner berüchtigten Gospel-Phase. „Nashville Skyline“ war kaum mehr als schwungvoll-nett, „Self Portrait“ in der Zusammenstellung von routinierten Cover-Versionen, darunter auch das eine oder andere Glanzstück, und zweitklassigen Live-Aufnahmen unglücklich. Die beiden Alben mit The Band, der Wiedervereinigung wegen umjubelt, enttäuschten: auf „Planet Waves“ singt Dylan meist neben der Gruppe, wie er früher manchmal neben oder gegen Joan Baez gesungen hatte, auf „Before the Flood“ entwickelten sie einen seltsam abgeschliffenen Klang, der beiden, Sänger und Gruppe, nicht ganz angemessen war.

Danach kam 1976 „Desire“ heraus, mit Höhen und Tiefen, zwischen beidem der begeistert begrüßte Protestsong „Hurricane“, der allerdings wohl den falschen Helden verherrlichte. Danach stellte Dylan auf dem noch wechselhafteren „Street Legal“ einen neuen Big-Band-Sound vor, mit Hintergrundsängerinnen und Bläsern, den er auch auf „Live at Budokan“ pflegte. Nicht nur der Glitzeranzug mochte manchen an den späten Elvis erinnern. Es folgten 1979 „Slow Train Coming“, auf dem selbst das Gitarrenspiel Mark Knopflers gegen manche eifernden Texte nicht ankam, und 1980 das nicht zuletzt in seiner Christlichkeit vollends übertriebene „Saved“. Mit ihnen hat Dylan seinen in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre stetig gewachsenen Ruf wieder verspielt: Er hatte den Gipfel erreicht und stürzte gleich darauf ab.

Aus dem jungen, rebellischen Dichtersänger wurde nun ein Heils- und Wanderprediger, dessen Musik, den mitunter inbrünstigen Gesang eingeschlossen, so forciert war wie seine Botschaft, zudem oft auch noch schlecht produziert. Kritiker verhöhnten ihn, das Publikum wandte sich von ihm ab. Erst mehr als zehn Jahre später gewann er es wieder zurück, zuerst mit alten Blues- und Folkstücken, die er, wie in seinen ersten Jahren, auf „Good as I Been to You“ und „World Gone Wrong“ nur mit Gitarre und Mundharmonika, aber mit schon nachlassender Stimme einspielte, dann auch mit „Time out of Mind“ und „Love and Theft“: gut produzierten und routiniert eingespielten Alben, die allerdings künstlerisch nicht an die früheren Höhepunkte anknüpfen konnten, gleichwohl das Publikum versöhnten.

Alle Alben Dylans seit den späten 1980er-Jahren fehlt, vielleicht nicht in jedem Song, aber doch im Ganzen, die literarische Klasse – und die Stimme. Seine Stimme hat sich ständig verändert, nicht selten von einer Platte zur nächsten, so etwa von „John Wesley Harding“ zu „Nashville Skyline“, und ist doch immer wiederzuerkennen gewesen. Bob Dylan: Das ist vor allem eine Stimme. So wie seine Stimme gibt es allerdings nicht seine Musik. Wie sie klang und klingt, hing und hängt immer auch von den Gruppen ab, mit denen er zusammenspielte. Manche waren glänzend.

Inzwischen ist Dylans Stimme hörbar verbraucht, zu nicht viel mehr als einem heiseren, ja oft nur krächzenden Sprechgesang ohne großes Ausdrucksvermögen fähig. Verantwortlich dafür dürften nicht zuletzt die allzu vielen Auftritte sein, die er, seit Jahrzehnten, auch im Jahr seines 70. Geburtstags, auf einer unendlichen Tournee, absolviert. Die Aufnahmen von ihr, offizielle Live-Mitschnitte wie illegale, erfreuen sich unter seinen Anhängern großer Beachtung. Dylan hat jedoch in späteren Jahren nicht oft seine Studioaufnahmen im Konzert übertroffen, zumindest nicht auf den offiziell veröffentlichten. Vieles hat er, ohne erkennbaren künstlerischen Sinn, nur zersungen, der veröffentlichten Versionen offenbar müde, vielleicht auch unfähig, sie zu bewahren.

Dylans Bedeutung für die populäre Musik ist unübersehbar; sie ist historisch. Er ist ein moderner Troubadour, der die alte, schon aus der Antike bekannte Einheit von Dichter und Sänger unter den Bedingungen der populären Musik des 20. Jahrhunderts wiederhergestellt hat. Seit dem späten Mittelalter, in dem sie noch ein François Villon repräsentierte, ist sie nach und nach verloren gegangen, fast ganz in der Moderne, in der Lyrik und Musik, und besonders die populäre, meist unverbunden nebeneinander existierten. Dylan hat das beendet.

Die moderne Lyrik, die nicht zu Unrecht als elitär galt, hat er, allerdings in gemäßigten Formen, populär gemacht, Hörern nahegebracht, die nicht unbedingt ihre Leser geworden wären. Der populären Musik wiederum hat er künstlerischen Ehrgeiz und Ernsthaftigkeit verliehen, die sie vorher nicht besaß. Er hat dabei nicht nur den Mut gehabt, dem Publikum anspruchsvolle, lange und rätselhafte Texte zuzumuten. Er hat seine Musik auch einer modernen Ästhetik der Häßlichkeit unterworfen, die er vor allem Mitte der 1960er-Jahre gepflegt hat. Dabei hat er mit dem bel canto der politisch progressiven, aber ästhetisch konservativen folk music gebrochen, die in Pete Seeger und Joan Baez seine bekanntesten Vertreter hatte und noch immer hat.

Dem Populismus der populären Musik, dem nicht jeder soviel Charme geben konnte wie die frühen Beatles, hat er sich verweigert. Im Gegenteil hat er seinem Publikum schon früh manches zugemutet. Immer wieder brach zwischen ihnen Feindschaft aus, geradezu dramatisch in seiner Rock- und in seiner Gospel-Phase. Und auch das war eine Zumutung Dylans: dass er seinen Hörern bedeutete, dass er sich ihrem Geschmack nicht fügen würde. Dylan hat fast immer eigensinnig auf seiner Souveränität beharrt.

Dabei hat er sich an das Prinzip moderner Poetik gehalten, das Ezra Pound in die Formel „Make it new!“ verknappt hat. Der modernistische Anspruch ständiger Innovation hat sein Werk lange bestimmt. Dylan hat es, fast von Album zu Album, neu gemacht: die Musik, mehr noch die Texte. Er hat sein Repertoire fortlaufend erweitert, nicht selten gegen alle Erwartungen. Das ist am deutlichsten in den großen Sprüngen seiner Karriere zu erkennen: vom Folk zum Rock, vom Rock zu Country, von der confessional poetry zum Gospel, vom Gospel zum Blues und so weiter.

So viele und so schnelle Veränderungen hat der Markt nicht erzwungen. Gleichwohl hat er sie immer wieder gern aufgenommen. Schon bald, schon 1965, als der Musiker Dylan gerade auf der Höhe war, wurden ‚neue Dylans‘ ausgerufen, ‚new Dylans‘, als die etwa ein Donovan, ein Arlo Guthrie, ein Kris Kristofferson, ein Don McLean und andere zurecht wieder Namenlose gehandelt wurden. Immer neuer Dylans hätte es aber kaum bedurft, denn der ‚alte Dylan‘ blieb nie lange der alte. Von Zeit zu Zeit hat er sich wieder neu gemacht – ein typisch moderner Neuerer und Erneuerer auch seiner selbst.

Was ihn dazu befähigt hat, ist ebenso deutlich wie das, was ihm als Künstler fehlt. Er ist, als Musiker wie als Autor, ein rezeptives Talent von großer Aufnahmebereitschaft. Mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit hat er sich immer wieder Neues anverwandelt, musikalisch und literarisch. Die Kehrseite seiner Fähigkeit zur raschen Verarbeitung ist jedoch ein Mangel an Geduld. Seine Verwandlungen haben etwas von Experimenten mit ungewissem Ausgang. Seine Dynamik, obwohl sie auch Programm ist, hat nicht immer mit artistischem Kalkül zu tun, oft bloß mit Unrast. Nicht nur die Technik, auf die ein Sänger und Musiker nicht verzichten kann, auch die Kunst kam dabei oft zu kurz. Der ständige Neueinsatz, reizvoll, mitunter auch provokativ, verhinderte Entwicklung. Vieles hat Dylan nur ausprobiert, angefangen, aber nicht vollendet. Lange Zeit wirkten selbst seine Studioalben improvisiert.

Bei allem offensichtlichen Selbstbewusstsein, das ihn die meiste Zeit durch seine Karriere getragen hat, fehlt Dylan Sicherheit im Umgang mit den eigenen künstlerischen Mitteln. In vielem ist dieser ‚Rimbaud des Rock‘, wie er als jugendliches Genie genannt wurde, ein Dilettant geblieben, nicht nur in seiner unglücklichen Liebe zu Film und Malerei. Auch seine Konzerte leiden darunter. Ihre große Zahl, die nicht von wirtschaftlicher Not diktiert sein kann, verrät eine Abhängigkeit des alternden und alten Dylan von Auftritten, deren eine Ursache wohl die Angst vor einem neuerlichen Verlust des Publikums – und die andere vielleicht der Wunsch nach Kompensation einer nachlassenden Kreativität ist.

Seine Zuhörer danken ihm solche Präsenz mit wieder wachsender Verehrung. Seit die Princeton University ihm den Ehrendoktortitel verliehen hat, sind ihm viele Auszeichnungen zuteil geworden. Inzwischen wird er auch für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Dass seine längst nicht mehr innovativen Texte dem Nobelpreiskomittee zusagen und dessen Kriterien entsprechen könnten, ist jedoch kaum anzunehmen. Er selbst braucht den Preis nicht, und er hätte ihn auch nicht verdient. Ein großes literarisches Werk, das für sich bestehen könnte, hat er nicht geschaffen. Seine Texte lassen sich zwar lesen; aber sie müssen vorgetragen werden, wenngleich nicht notwendig von ihm. Dylan ist vor allem ein Sänger, Autor ist er erst danach: Seine Texte gehören zu seiner, zu einer Stimme.

Die Musik der 1960er- und 1970er-Jahre, die Dylan geprägt hat, mag inzwischen Geschichte sein; doch die Verbindung zu ihr hält er bis heute aufrecht. Er ist ihr Begründer, ihr Veteran und dienstältester Repräsentant. Die meisten anderen hat er nicht zuletzt durch seine Energie und Dynamik übertroffen. Dabei hat er das ganze Risiko auf sich genommen, das in der ständigen Innovation liegt: nicht anzukommen bei sich, sich womöglich unterwegs zu verlieren. Eine Zeitlang, eine für seine Anhänger qualvolle Zeit lang, schien er sich ganz verloren zu haben in seinem steten Drang, sich immer wieder neu zu erfinden.

Inzwischen mag es etwas leichter fallen, ihn wiederzuerkennen, ohne dass man genau zu sagen wüsste, wer er denn sei. Dass es von ihm das große Alterswerk geben könnte, in dem man ihn endgültig hätte, ja dass es überhaupt so etwas wie künstlerische Reife bei ihm geben könnte, ist nicht zu erwarten. Vielleicht hat er sie längst hinter sich, schon früh, für ihn vielleicht qualvoll früh, erreicht. Vielleicht ist es aber auch einfach unangemessen, bei diesem Sänger an Reife zu denken. Er ist unterwegs, in der Kunst wie im Leben, ein Nomade, ein Vagabund, ein travelling musician: das Muster eines modernen Künstlers in einer Branche, in der man jemanden wie ihn nicht erwartet hätte.