Ein grandioses Schauspiel der Verwahrlosung

Moritz von Uslar nimmt den Leser in „Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung“ mit in das Hartz-IV-Milieu einer ostdeutschen Kleinstadt

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Moritz von Uslar hat im Sommer 2009 ein Experiment gewagt: Der ehemalige Internatsschüler und Theaterstücke schreibende Journalist verließ seinen elitären und Champagner trinkenden Berliner Freundeskreis für einige Wochen und verbrachte die Zeit als Reporter in einer Kleinstadt in Brandenburg – in „Plattenbautow, Trostlosow“, genau dort, „wo Leute in strahlend weißen Trainingsanzügen an Tankstellen rumstehen und ab und zu einen Spuckefaden zu Boden fallen lassen!“ „Deutschboden“ ist die Niederschrift der Gespräche und Eindrücke Uslars in diesem „Hardrockhausen“. Es ist die Verdichtung seiner offen teilnehmenden Beobachtungen, seiner Erlebnisse mit arbeitslosen Trinkern, die in tiefer gelegten Autos mit „Pitbull Germany“-Heckscheiben aus Langeweile auf den immer gleichen Straßen der Stadt im Kreis fahren. Die Menschen, die er kennenlernt, entsprechen seinen Erwartungen. Sie haben eine Skinhead-Vergangenheit und sind „maximal stumpf, dumm, frustriert, grantig, sauer, hohl, behämmert und komplett erloschen in der Birne“. Doch Uslar entwickelt eine empathische Begeisterung für den Alltag in der ostdeutschen Kleinstadt.

Denn der Autor stößt auf die Perfektionierung des Nichtstuns: „Dumm rumsitzen. Quatschen. Dusselig labern. Fernsehgucken. Playstation spielen. Leuten auf’n Sack gehen. Von morgens bis abends saufen.“ Dass dieser Kreislauf des Nichts vermutlich nie durchbrochen wird, ist den Arbeitslosen jener Kleinstadt bewusst. Sie überspielen die fehlende realistische Perspektive einfach mit unrealistischen Zielen: Man ist zwar überzeugt, dass man nicht wegziehen könne, weil man sich beispielsweise in Berlin nur verlaufen würde („Die Leute, das Chaos, der Verkehr. […] Nein, Berlin sei nichts für ihn.“), doch als Ziel wird das Auswandern ins Ausland angegeben: „Im Ausland habe man noch Chancen.“ Der Leser ist sich sicher, dass niemand der beobachteten Gruppe ins Ausland ziehen wird. Und Speedy, einer der Trinker, bestätigt sogleich und schränkt ein: „Ich bin etwa fünf Jahre zu spät dran, ich hab es im Gefühl.“ Wird ein scheinbar unrealistisches Ziel dann doch erreicht, findet sich auch ein Ausweg: Die Bemühungen, einen LKW-Führerschein zu erhalten, münden – als die dritte Theorieprüfung dann überraschenderweise doch bestanden wird – in der Überzeugung, dass man kein Kraftfahrer sein könne. Das Leben in einer Fahrerkabine fernab der Heimat sei einfach nichts (oder wie Raoul, einer der Arbeitslosen, im besten Brandenburgisch per SMS schreibt: „nüscht“). Es ist die Hoffnung, die zur Selbstlüge anstachelt, wenn Rampa, dessen Knie „kaputt“ sind und der in der Band „5 Teeth Less“ spielt, fantasiert, dass demnächst die Debüt-CD herausgebracht wird – „vielleicht dauerte es aber auch noch ein paar Wochen, bis die CD fertig sei, vielleicht auch Monate“.

Uslar taucht in die Gruppe ein, geht in die Kneipen und an die Tankstelle, er nimmt die Vulgarismen der Beobachteten an und nutzt sie selbst. Ständig kommentiert er das Geschehen „fasziniert“ von einem „Assi und sein[em] Kind“, wenn er etwas Interessantes sieht, dann ist das – „alte Kacke“ – „geil“. Als „Kegel-Kalle“ am Tresen seine Hüften hin- und herschwingt, „als nähme er eine Frau von hinten“, da urteilt Uslar, das sei ein „großer, ein unvergesslicher Auftritt des Kegel-Kalle gewesen“. Er steigert sich zu wahrer Begeisterung für die an Koprolalie grenzende Sprache der „Assis“. Am Tresen der Pilskneipe „Schröder“ lässt er sich nach einigen Gläsern Bier dazu hinreißen, die DDR als „Scheißstaat“ zu bezeichnen, um gleich darauf zu staunen, dass die Atmosphäre friedlich bleibt und die Hartz-IV-Empfänger die kompliziert zu werden drohenden Diskussionen stets mit einem „herrlichen Pilstrinkerspruch“ beenden: „Der Kommunismus, sage ich immer, ist von der Sache her ja das Beste, was es gibt. Ist aber leider nicht umsetzbar“. So schließt Heiko das Thema ab.

Uslar schreibt mit der Begeisterung des Unwissenden, völlig begeistert scheint er von einem kleinen Geschäft, das „nichts und gleichzeitig alles“ anbietet. „Nicht die Nachfrage, sondern das Angebot bestimmte hier das Angebot.“ Seit der DDR hat sich hier also wenig verändert. Und „so hatte man sich auch die Zukunft des Einzelhandels in der ostdeutschen Kleinstadt vorzustellen“. Anfangs freut er sich noch stets, einen neuen Proleten zu finden, den er beobachten und interviewen kann. Aber nach einiger Zeit verebbt der Sog der Neugierde, der Faszination und Freude. Uslar merkt, „dass der Antrieb, die Faszination, die es in all den Wochen immer gegeben hatte, einfach nicht mehr da“ sind. Hinzu kommt, dass er sich seinen Beobachtungsobjekten so sehr nähert, dass Gefühle der Freundschaft und Zuneigung entstehen, was den Autor regelrecht erschreckt. Er kehrt zurück nach Berlin und setzt sich sofort an die Abschrift der mitgezeichneten Gespräche. Entstanden ist eine Ode an die „Asozialen, das Kroppzeug, Gesocks, Geschmeiß, die Ex-Knackis, Alkoholiker, die Vollidioten“. Aufzählungen wie diese fordern den Leser heraus, sie erzeugen Emotionen. Zugleich angewidert und begeistert kann man das Buch kaum aus den Händen legen. Was Uslar da verfasst hat, ist sowohl eine Beschreibung der heilsten Kleinstadtidylle, als auch der kaputtesten, verrottetsten Tristesse. „Deutschboden“ ist ein grandioses Schauspiel der Verwahrlosung. In der Hauptrolle spielen die Prolls, die in allen – und ganz sicher auch in den meisten westdeutschen – Kleinstädten gefunden werden können. Es ist ein Genuss, sich diesem Sog hinzugeben und Uslars Schritten durch die scheinbar fremde und doch so nahe Welt zu folgen.

Titelbild

Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
320 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-13: 9783462042566

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