Neue Unmittelbarkeit?

Hans Ulrich Gumbrecht versucht, mit Stimmungs-Lektüren einen neuen ,turn’ auf den Weg zu bringen

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine kontrastreiche Schwarzweißfotografie, die eine Landstraße mit Weidezaun in gebirgiger Landschaft zeigt – in der Erwartung, es mit Literatur zu tun zu haben, denkt man angesichts des Coverbilds der vorliegenden Essaysammlung unwillkürlich an eine Schwarzwaldlandschaft, wo es im schöngeistigen Kontext auch immer etwas heideggert. Doch falsch – es handelt sich um eine nordkalifornische „Landstraße nach dem Regen“ des US-amerikanischen Fotografen Ansel Addams, eine beiläufige Huldigung des bekennenden Wahlamerikaners Hans Ulrich Gumbrecht.

Dieses Missverständnis führt mitten hinein in das, worum es diesem Autor in seinem Buch über eine „verdeckte Wirklichkeit der Literatur“ geht: Die Stimmung, welche diese Fotografie vermittelt, ist unabhängig vom Wissen um die in ihr gezeigte Wirklichkeit und bedarf auch nicht der Deutung, um heute auf uns zu wirken wie vor fünfzig Jahren. Man tut gut daran, all das zu vergessen, woran man bei „Stimmung“ zunächst denkt, führt Gumbrecht in seiner fast dreißigseitigen Einleitung diesen Schlüsselbegriff doch auf methodologisch hohem Niveau ein, mehr theoriestrategisch als „phänomenologisch“. Als eine dritte literaturontologische Position soll der „stimmungsorientierte“ Lektüreansatz aus dem Repräsentationismus herausführen, dem sowohl Dekonstruktion als auch „Cultural Studies“ verhaftet sind: in der einmal verweigerten, ad absurdum geführten, zum anderen übertrieben und unbekümmert gehandhabten Wirklichkeitsreferenz.

Es ist allerdings mehr als fraglich, ob mit dieser konstruierten Alternative die Praxis der Literaturwissenschaft heute zutreffend beschrieben ist. Gumbrecht versucht, die „Wirklichkeit der Literatur“ zu denken (so der Untertitel der Einleitung), indem er diesen Genitiv als Genitivus subiectivus, nicht obiectivus, liest, so könnte man sagen. Die so verstandene Wirklichkeit ist also nicht das, was Literatur abbildet, sondern was sie ohne Entzifferung und Deutung vermittelt, worin sie uns geradezu körperlich berührt. Im Stimmungsaspekt ähneln Texte in ihrer Wirkung der Musik und dem Wetter. Impuls für diesen Ansatz einer neuen Unmittelbarkeit ist offenbar eine gewisse Theoriemüdigkeit, ein Überdruss am Suchen nach tieferen Bedeutungen.

Doch so einfach ist es nicht. Wofür „Stimmung“ steht, wird deutlich, wenn man sich Gumbrechts hermeneutikkritische und kulturphilosophische Streitschrift „Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz“ von 2004 anschaut, auch wenn der Verfasser diesen Zusammenhang seltsamerweise zu bagatellisieren sucht. In der Intention nicht viel anders als Susan Sontags berühmter Essay „Against Interpretation“ (was nur keiner bemerkt hat), nur weitaus schwerer philosophisch instrumentiert, plädiert Gumbrecht in Anlehnung unter anderem an Martin Heidegger für ein körperliches, vorhermeneutisches und nichtinterpretatives Weltverhältnis, wenn er „Sinnkulturen“ und „Präsenzkulturen“ unterscheidet.

Der vorliegende Essay versucht dieses „präsentische“ Weltverhältnis, in etwas kleinerer Münze gleichsam, nun auf literarische Texte und andere Artefakte zu übertragen und damit zu konkretisieren: die „Sehnsucht nach Stimmung“ sei eine „Variante der Sehnsucht nach Präsenz“.

Stimmung ist das, was uns – ohne Entzifferungsbemühungen und philologisches Beiwerk – in einem Text mit seiner Zeit verbindet, was ihn für uns heute noch lebendig macht, worin er uns unmittelbar anspricht als „Teil einer substantiellen Präsenz von Vergangenheiten“. Dennoch müssen Stimmungen aufgezeigt und freigelegt werden, was die eigenartige Formulierung „Stimmungen lesen“ andeutet, worunter Gumbrecht keineswegs ein Entziffern verstanden haben will – ein Lesen offenbar, das ebensowenig ein Entziffern ist wie Hans-Georg Gadamers Verstehen ein Übersetzen. Es heißt, „sich affektiv und auch körperlich auf sie [die Stimmungen] einlassen und auf sie zeigen“. Das gelinge, wie Gumbrecht in Rechtfertigung seiner nicht streng-wissenschaftlichen Schreibweise, die ohne jegliche Fußnoten auskommt, betont, nur in essayistischer Annäherung, nicht in interpretierender Methode, der es um das Freilegen einer (begrifflich-propositionalen) Wahrheit zu tun sei. Hierin hat der Stimmungskonzept seine lebensphilosophische Pointe: der „Text als Teil des Lebens seiner Gegenwart“.

Dieses Bild von Interpretation mutet doch recht holzschnittartig an – so als stünde die Texthermeneutik noch ganz methodengläubig auf der Stufe vor Gadamer, der diesen Lebensbezug jeder Auslegung im Horizont ihrer Zeit ja vor nunmehr einem halben Jahrhundert geltend gemacht hat.

Inhaltlich hat sich, wie der Verfasser weiter ausführt, der Stimmungsbegriff universalisiert und ist nicht mehr wie im 18. Jahrhundert auf Harmonie und Stimmigkeit festgelegt. Dafür können Stimmungen Signaturen historischer Zeiten sein; Gumbrecht nennt hier die frühe Neuzeit, die Romantik und das späte 19. Jahrhundert; man könnte an den „Weltschmerz“ der Byron-Zeit und die melancholisch-elegische Grundstimmung des Fin-de-siècle denken. Entscheidend ist nun, dass der Stimmungsbegriff sein Profil durch eine mehrfache Absetzung gewinnt: als (körperliche) Präsenz von der Repräsentation von Sinn, als ästhetische Singularitätserfahrung von begrifflicher Interpretation; im Werkganzen schließlich scheint er eine Art Platzhalterbegriff zu sein für all die Wirkfaktoren, die außerhalb des Intelligiblen, etwa der Handlung, liegen. Diese Oppositionen sind nicht unbedingt konvergent, sondern liegen auf verschiedenen Argumentationsebenen. Ein derart theorieüberfrachteter Begriff muss notgedrungen schillern.

Die Anwendungsfälle sind denkbar weit gestreut, historisch wie auch medial: von Walther von der Vogelweide bis Janis Joplin, auch Caspar-David-Friedrich-Gemälde sind dabei. Darüber hinaus werden in einem Abschnitt der Surrealismus (letztlich eine Fußnote zu Walter Benjamins Surrealismus-Aufsatz), die 1920er-Jahre und – in einer theoriegeschichtlichen Miszelle – die Dekonstruktion Jacques Derridas und Paul de Mans „stimmungsorientiert“ erhellt, was am allerwenigsten überzeugt. Bei der Vielzahl der Werke, Werkgruppen und Genres samt ihren Poetiken, quer durch die Zeiten, ist nun nicht zu erwarten, dass das, was als „Stimmung“ herausgelesen wird, ein einheitliches Phänomen wäre. Es verwundert, dass bei der behaupteten Musikaffinität der Stimmung die Lyrik so schwach vertreten ist und das Prosodische in den Lektüren kaum eine Rolle spielt. Bei Walthers Liedern ist es die fragile Stimmung einer Irritierbarkeit des Ich vor dem Hintergrund seiner Zeit, bei William Shakespeares Sonetten die Stimmung als „komplexe Einheit von Tönen“; dass beide vom Rubrum „Stimmungslyrik“ denkbar weit entfernt sind, mag man noch hinnehmen. Eine gattungsgeschichtliche Skizze zum spanischen Picaro-Roman legt den Fokus wiederum auf ein Lebensgefühl; bei Denis Diderots „Rameaus Neffe“ wird ein Zeit- und Milieukolorit als Stimmung angesprochen. In Thomas Manns Venedig-Novelle – dem einzigen Text, den wohl jeder Leser spontan mit Stimmung assoziiert – ist die Konvergenz von Gefühls- und Wetterlagen stimmungsbildend.

Die stimmungsorientierten Lektüren sind durchaus erhellend, gerade auch bei den weniger bekannten Werken wie von María de Zayas oder Machado de Assis, doch wird nichts aufgeschlossen, das nicht auch ohne einen so hohen theoretischen Aufwand in den Blick treten könnte. Auch wird keine historische Linie, wie von Gumbrecht anfangs selbst angedeutet, herausgearbeitet; dafür sind die Gegenstände einfach zu disparat, der Begriff der Stimmung zu offen (was der Verfasser selbst einräumt) und konturlos. Als heuristische Regel drängt sich hier auf: Je diffuser der Leitbegriff ist, umso begrenzter und durchdachter müsste das Applikationsfeld sein. Eine mögliche genauere Konturierung – nämlich Heideggers Begriff der Stimmung als Zeitverhältnis – klingt zwar an mehreren Stellen an, wird aber nicht konsequent genutzt. Wie so etwas aussehen könnte, hat übrigens Emil Staiger in seinen Gedichtanalysen „Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters“ aus den 1930er-Jahren mit einem anderen scheinbaren Allerweltsbegriff, Zeit, vorgeführt.

Ein weiteres Leitmotiv: Michel Foucaults „Krise der Repräsentation“ gekoppelt mit Niklas Luhmanns „Beobachter zweiter Ordnung“ kehrt als epistemologische Figur ebenfalls immer wieder, ohne in seinem strukturellen Potenzial zur historischen Situierung entfaltet zu werden, um etwa Texte zueinander in Beziehung zu bringen. Das würde freilich einen viel systematischeren Aufbau der Beispielreihe erfordern. Diese ist sichtlich persönlichen Vorlieben geschuldet. Was jedoch im Falle einer Stimme wie der Janis Joplins, welcher der Verfasser eine kleine Hommage widmet, plausibel ist: dass sie uns auch noch über einen Zeitabstand so unmittelbar anzusprechen vermag wie zu ihrer Zeit, will bei literarischen Texten nicht überzeugen. Wäre es anders, bräuchte es tendenziell keine Philologie.

Allenfalls in ihrer prosodischen Schicht mögen Texte unmittelbar wirken; zur Stimmung wird das aber erst durch Semantisierung, und damit kommt wieder die Zeichendimension ins Spiel, die Gumbrecht zu unterlaufen trachtet. Texte, die Sinn ergeben, statt Sinn haben – etwa Konkrete Poesie – transportieren keine Stimmung, obwohl sie der Musik am nächsten kommen. Stimmung ist quasi parasitär zu etwas Nicht-Stimmungshaftem. Und wo Stimmungen vorkommen, sind sie – anders als Gumbrecht glaubt – nichts Bedeutungsfreies, das sich unterhalb der Schwelle des Intelligiblen und des bewussten Verstehens quasi körperlich auf den Rezipienten übertrüge.

Was an den Beispielen vorgeführt wird, ist nichts anderes als Interpretation – was sollte auch schlecht daran sein? Es hat nicht nur nicht die Substanz zu einem neuen literaturwissenschaftlichen turn (vielleicht einem emotive turn?), sondern löst die Erwartungen an die von Gumbrecht theoretisch aufwändig anvisierte Lektüreoption nicht ein. Jede ernst zu nehmende Textdeutung, die im Literaturwerk nicht nur Belege für etwas Anderes sucht, hat immer schon das im Blick gehabt, was Gumbrecht als eine „verdeckte Wirklichkeit der Literatur“ zu entdecken meint – jenseits der Alternative von philosophischer Allegorese und schlichtem plot-orientiertem Lesen.

Ist das nicht zu streng geurteilt? Wohl nicht – will man nicht dem Verfasser sein essayistisches Schreiben als Freibrief für Ungenauigkeit und Kaschierung mangelnder Stringenz und Aufschlusskraft auslegen, was ein schlechter Dienst an der Sache wäre. Es gibt nun allerdings wirkungsästhetische Phänomene im Sinne der Gumbrecht’schen „Präsenz“, wo uns Literatur und andere Artefakte gleichsam körperlich „wie von innen berühren“, wie Gumbrecht mit Toni Morrison sagt: es sind thrill und suspense im Kriminalgenre sowie die Lustgefühle der Pornografie. Diese näher zu untersuchen, wäre freilich ein ganz anderes Vorhaben.

Titelbild

Hans Ulrich Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
181 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235045

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