„Jeder ist frei, aber in der Form der Gesamtheit“

Michel Foucaults „Einführung in Kants Anthropologie“ bereitet die Bühne für das andere Denken der Endlichkeit

Von Thomas EbkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Ebke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angenommen, man berichtete Ihnen, dass eine romanische Abtei vor den Toren Caens, die seit Mitte der 1990er-Jahre als Archiv für die Nachlässe von Literaten, Historikern und Philosophen fungiert, in ihrem Herzen unter anderem eine Abhandlung über Immanuel Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ beherbergt, die 1961 als thèse complémentaire eines jungen Doktors der Philosophie präsentiert wurde: Würde diese Notiz Sie besonders aufhorchen lassen?

Wohl kaum. Fügt man aber dieser zunächst wenig spektakulären Nachricht hinzu, dass irgendwann in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends eine nicht autorisierte englische Übersetzung der besagten Studie zu kursieren begann, und dies, obgleich ihr unterdessen verstorbener Verfasser in seinem Testament die posthume Herausgabe unveröffentlichter Arbeiten ausdrücklich untersagt hatte, dann würden Sie vielleicht doch beginnen, Rückschlüsse auf die Güte der fraglichen Schrift oder die Prominenz ihres Autors zu ziehen. Und richtig: Hinter diesem Traktat, dessen Thema so akademisch-nüchtern anmutet, verbirgt sich ein durchaus glamouröser Urheber, ein veritabler philosophischer „Star“: Michel Foucault.

Seit 1997 war Foucaults Text über Kants „Anthropologie“, der als Komplement zu „Wahnsinn und Gesellschaft“ seine Dissertation formal vervollständigte, im Institut Mémoires de l’édition contemporaine einsehbar gewesen. Zu einer Publikation war es, der testamentarischen Verfügung Foucaults gemäß, nie gekommen. Erst als eine unerlaubte englische Übersetzung im Internet durchzusickern begann, rangen sich die Nachlassverwalter, François Ewald und Daniel Defert, mit Zustimmung von Foucaults Familie doch zu einer offiziellen Veröffentlichung durch, die 2008 in der Reihe Libraire Philosophique bei Vrin schließlich auch erschien. An gleicher Stelle war bereits 1964 die von Foucault höchstselbst vorgenommene französische Übersetzung der Kant’schen „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ publiziert worden, die zudem eine sehr knappe, auf historische Erläuterungen beschränkte Einleitung Foucaults in Kants Schrift enthielt.

Pünktlich zum Frühjahrsprogramm 2010 hat der Suhrkamp Verlag die deutsche Ausgabe von Foucaults thèse complementaire vorgelegt. Besonders die hiesigen Literatur- und Kulturwissenschaftler sind ja, im Unterschied zu der noch immer weitgehend zögerlichen philosophischen Zunft, einem hartnäckigen Foucault-Fieber erlegen, das auf die Erschließung und Übersetzung selbst noch der beiläufigsten Gelegenheitstexte und Interviewstatements aus dem Munde des Meisters drängt. Angesichts dieser erdrückenden Präsenz Foucaults in der deutschen Diskussion, die hierzulande traditionell mit einer arglosen Marginalisierung jener französischen Autoren einhergeht, die Foucaults Epistemologie genuin beeinflusst haben – wie etwa Jean Cavaillès, Gaston Bachelard oder Jean Hyppolite –, darf man getrost fragen, ob Foucaults frühe Auseinandersetzung mit Kant für die Forschung wirklich eine so unentbehrliche Bereicherung markiert, dass ihre Veröffentlichung schlicht unumgänglich war.

Natürlich wäre es eine verfehlte Erwartung, sich von diesem Buch eine Revolutionierung des bisherigen Verständnisses von Foucaults Positionen zu erhoffen. Zentrale Thesen aus der „Ordnung der Dinge“ (1966) und der „Archäologie des Wissens“ (1969) sind in der Kant-Studie bereits ebenso deutlich vorgezeichnet wie die Zielscheiben der Kritik und die methodischen Pointen, die einige Jahre später diese Hauptwerke Foucaults bestimmen sollten. Damit ist klar, dass in Foucaults kritischem Blick eine genau umgrenzte epistemologische Konstellation steht, deren Zirkularität er herausarbeitet und als Problem benennt: Diese Konstellation postuliert den Menschen gleichzeitig als Gegenstand und als transzendentale Quelle eines positiven Wissens, als eine paradoxe Gestalt, die sich in den Erkenntnissen, die sie in Bezug auf sich selbst generiert, permanent selbst voraussetzt. Ohne Zweifel bildet dieser Rahmen nicht nur den Entstehungskontext für die Humanwissenschaften, die sich in einer ausweglosen Situation der Selbstverweisung befinden: Er hängt, Foucault zufolge, zugleich mit einer fatalen Anthropologisierung des Denkens zusammen, die sich in der nachhegelschen Philosophie auf breiter Front durchgesetzt hat.

Unter dem Eindruck dieser strukturellen Kritik der Anthropologie, die Foucault ab Mitte der 1960er-Jahre mit Nachdruck artikuliert hat, ist es nun allerdings faszinierend, seinen Umgang mit Kants pragmatischer Fassung von „Anthropologie“ zu untersuchen. Denn bei Kant, so Foucault, sei Anthropologie keineswegs zu Transzendentalphilosophie vereinheitlicht; sie falle nicht mit dem Geschäft der Kritik zusammen. Mit anderen Worten: Kant verläuft sich nicht in der Falle des anthropologischen Zirkels, da er jene Hypostasierung von Anthropologie zu Kritik, die sich in der auf ihn folgenden phänomenologischen Tradition (sowohl im Sinne Hegels als auch Husserls) perfektioniert, nicht mitträgt. Ebenso wenig beziehe sich der springende Punkt von Kants Anthropologieverständnis auf die berühmte vierte Frage seiner „Logik“ („Was ist der Mensch?“), welche die Fragen der Metaphysik („Was kann ich wissen?“), der Moral („Was soll ich tun?“) und der Religion („Was darf ich hoffen?“) in sich einzuschließen scheint.

Wie aber verhält sich nun bei Kant, in Foucaults Rekonstruktion, die Leistung der Anthropologie im Verhältnis, das heißt in Differenz zur Kritik? Im Bereich der Anthropologie geht es Foucaults Darlegung nach „nicht darum, das Gedächtnis zu studieren, sondern [um] die Art und Weise, in der man sich seiner bedient. Nicht zu beschreiben, was der Mensch ist, sondern, was er aus sich machen kann“. Diese Formel, von Foucault prägnant definiert, entspricht dem Standpunkt Kants, wonach der Horizont der Anthropologie das innerweltliche Verhalten des Menschen angeht und letztlich normativ auf die Ermöglichung klugen weltbürgerlichen Handelns ausgelegt ist. Während das Projekt der „Kritik der reinen Vernunft“ die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung absichert und damit ein Niveau herstellt, auf dem das zentrale Problem der modernen Philosophie, nämlich das Phänomen der Endlichkeit der Vernunft und des Menschen, erst transparent werden kann, versteht sich die pragmatische Anthropologie eher als existenzielle Illustration dieser Verfassung der Endlichkeit. Eigentümliche Funktion der Anthropologie sei es, die Kritik „auf der populären Ebene des Ratschlags, des Berichts und des Beispiels“ zu wiederholen, wodurch sie „das Kantsche Denken insgeheim zu einer begründenden Reflexion“ führe.

Man kann aus dieser Aufteilung, die sich hier nur schematisch konstatieren lässt, erahnen, in welcher Hinsicht Kants „Anthropologie“ für Foucault womöglich ein sich durchhaltendes Muster geblieben ist, um die Vermengung von Empirischem und Transzendentalem im anthropologischen Zirkel durch ein anderes Denken des Endlichen beziehungsweise eine Idee von Freiheit zu kontrastieren. In seinem Spätwerk hat sich Foucault mit den sogenannten Praktiken des Selbst, der Sorge um sich und der Kultivierung des Leibs befasst, um damit eine Sphäre zu berühren, die nicht mit der empirisch-transzendentalen Dublette und ihrem intrinsischen Gewaltfaktor zusammenfällt. Es ist erhellend, diese werkgeschichtliche Wende bei Foucault mit jener Episode aus Kants „Anthropologie“ zu verbinden, in der Kant das freie Handeln des Weltbürgers am Beispiel der Geselligkeit einer Bankettgesellschaft verdeutlicht: Foucault erkennt in den sprachlich reglementierten Verkehrsformen des bürgerlichen „Gastmahls“ eine Situation, in der „sich im geregelten Element der Sprache die Artikulation der Freiheiten und die Möglichkeit der Individuen, ein Ganzes zu bilden, ohne Intervention einer Gewalt oder einer Autorität, ohne Verzicht noch Entfremdung organisieren“ können. Indem Foucault den Kern von Kants Verständnis des Weltbürgers in der zwanglosen, freien Rationalität sprechender Individuen entdeckt, greift er in gewisser Weise bereits der in „Sexualität und Wahrheit“ artikulierten Relation zur Wahrheit vor, die sich nicht auf der Ebene der episteme, sondern in den Formen der Sorge eröffnet: „Jeder ist frei, aber in der Form der Gesamtheit“.

Alles in allem ergänzt Foucaults frühe Kant-Deutung in sehr wertvoller Weise die Perspektiven der Forschung auf sein kritisches Schaffen. Für Leser, die einen ersten Einstieg in die Auseinandersetzung mit Foucault suchen, ist der Text freilich nicht besonders zu empfehlen. Ohne eine grundsätzliche Vertrautheit mit Kants anthropologischer Schrift und den wesentlichen Etappen von Foucaults eigenem Gesamtwerk dürfte sich die Lektüre eher mühsam gestalten. In diesem Fall sei jedoch wiederum auf Andrea Hemmingers ebenso brillantes wie zugängliches Nachwort verwiesen.

Titelbild

Michel Foucault: Einführung in Kants Anthropologie.
Übersetzt aus dem Französischen von Ute Frietsch.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
140 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783518585474

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