„Ich möchte seicht sein“

Der Sammelband „Lob der Oberfläche“ von Thomas Eder und Juliane Vogel untersucht die (Ober-)Flächen im literarischen Raum von Elfriede Jelinek

Von Christine HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich möchte seicht sein“, beteuert Elfriede Jelinek in ihrem programmatischen Aufsatz zur Theaterästhetik 1983. Ein Plädoyer für ‚oberflächliches‘ Schreiben? Ja, genau das. Was dies für ihre Schreibweise bedeutet und wie sich diese Flächigkeit in Jelineks Werk konkret realisiert, dem gehen die AutorInnen dieses Sammelbandes nach, und sie singen dabei ein Lob auf die Oberfläche. Jelinek als ‚seichte Autorin‘ zu bezeichnen, scheint eher in (ab-)wertende Zeitungskommentare aus Vor-Nobelpreiszeiten zu passen. Hier ist ‚seicht‘ jedoch durchaus positiv konnotiert. Jelinek tritt in diesem Band als „Künstlerin der Oberflächen“ in Erscheinung: Ihre Sprachflächen widersprechen der Existenz eines Innen (im Gegensatz zu Außen); jeglicher ‚tieferen‘ Bedeutung, jedem ‚Tiefsinn‘ wird abgeschworen. Statt Substanz geht es ihr um „die anarchische Selbstbewegung der Texturen, Textilien und Membrane“, wie die Herausgeber in ihrer Vorbemerkung konstatieren. Diese Bewegung versuchen die Beiträge dieses Bandes nachzuzeichnen.

Oberfläche und Tiefe sind keine neutralen Pole, sondern mit Wertungen verbunden: Was klar ersichtlich an der Oberfläche liegt, scheint – so die landläufige Meinung – keiner Analyse zu bedürfen, während die ‚Tiefe‘ erst ergründet werden muss. Dass Oberfläche und Tiefe jedoch nicht notwendigerweise Gegensätze sind, sondern oftmals in ständigen Prozessen von Faltung und Entfaltung einander durchdringen, das zeigen die Beiträge dieses von Juliane Vogel und Thomas Eder herausgegebenen Sammelbandes überzeugend. Er versammelt Beiträge des gleichnamigen, von den Herausgebern konzipierten Symposiums zum 60. Geburtstag der Autorin (2006), das unter dem Leitkonzept der Oberfläche stand und die Frage nach der Oberfläche erstmals explizit zum Thema machte.

Ausgehend von Vogels richtungweisendem Artikel „Keine Leere der Unterbrechung“ (2006 in „Modern Austrian Literature“ erschienen), auf den in mehreren Beiträgen auch explizit Bezug genommen wird, betrachten sie die Werke Jelineks unter dem Blickwinkel der ‚Oberflächlichkeit‘ – und gehen in ihren Analysen durchaus ‚in die Tiefe‘. Um die Oberfläche zu rehabilitieren, wird auf Denkmodelle aus der Topologie zurückgegriffen, anhand derer Verformungen benannt und Fragen nach den räumlichen Beziehungen von innen und außen gestellt werden.

So untersucht im ersten Beitrag Juliane Vogel die Flächenkonzepte in Jelineks Texten und das „Flächigkeitsbegehren“ der Autorin, das sich in den Texten mittels „Verflachungsstrategien“, die Sprachflächen entstehen lässt, artikuliert. Während durch realistische Schreibweise eine Tiefenillusion erzeugt wird, vernichtet Jelinek diese dritte Dimension, und gleichzeitig damit einen möglichen ‚Tiefsinn‘ unter der Textoberfläche.

Die Elemente ihrer Prosa sind ‚Ausschnitte‘. Das zeigt sich buchstäblich schon in frühen Texten, wenn etwa auf dem Vorsatzblatt zu „Lockvögel“ der Leser mittels gestrichelter Linien zum Ausschneiden aufgefordert wird. Die ‚Flachheit‘ der Texte manifestiert sich auch durch die Kleinschreibung (oder plakative Großbuchstabierung), die den Text zu „gleichwertigen vertauschbaren Ausschnitten“ egalisiert. In späteren Texten ist es das Fernsehen, das nichts als „zweidimensionale Wahrnehmungsbilder“ hervorbringt, an die sich die Romanfiguren angleichen wollen und dafür allerlei „Plättungsprozeduren“ über sich ergehen lassen (Köpfe werden plattgeschlagen, Augen ausgestochen, sodass die Person nur mehr flächig sehen kann). Alles Dreidimensionale erweist sich als eine Täuschung, verliert Volumen und wird flächig.

In „Die Kinder der Toten“ kommt eine neue, dynamische Konzeption der Fläche zum Durchbruch. Hier wird, in Vogels Lesweise, das Flächenkonzept der Falte zur „Metapher einer Oberflächenästhetik“, die keine dauerhaften Konturen und Bedeutungen mehr zulässt, sondern „durch einen permanenten und unabschließbaren Umbildungsprozess“ bestimmt wird, in dem Oberflächen „ineinander und durcheinander durch“ gehen. Vogel erkennt hierin die Leibniz’sche und Deleuze’sche Denkfigur der Falte wieder: eine „Modulationsbewegung, welche in einem Wechselspiel von Faltung und Entfaltung die Vorgaben euklidischer Raumordnungen zerstört“. Damit ist jedes Modell, das sich auf die Differenz von Tiefe und Oberfläche gründet, passé. Die Wiedergänger kommen nicht aus der Tiefe, sondern „aus der Tiefe der Oberfläche“.

Auf ein anderes topologisches Konzept stützt sich der Kunsthistoriker Wolfram Pichler, der in seinem Beitrag eine Kunstgeschichte des Möbiusbandes skizziert, eine der populärsten topologischen Figuren, in der Gegensätze wie Innen und Außen, Vorder- und Rückseite kontinuierlich ineinander übergehen. An Beispielen wie einer Filminstallation aus zugleich projizierten Filmstreifen von Stan Douglas, Max Bills Skulptur „Unendliche Schleife“, anhand der unendlichen Feedbackschleifen eines Dan Graham, oder Arbeiten von Dieter Roth und Lygia Clark illustriert er überzeugend eine „Topologie des Bildes“, die aus der Auseinandersetzung mit den räumlichen Paradoxien des Möbiusbandes hervorgeht und damit auch eng mit dem Begriff der Oberfläche verflochten ist. Weniger deutlich ist hingegen der Zusammenhang mit Jelinek – erst als Abschluss seines Beitrages setzt Pichler diese Beispiele aus Film und bildender Kunst in Bezug zu Jelineks Werk: Beschreibt man nämlich die Oberflächen in Jelineks Werk (Körper- und Landschaftsoberflächen, sich verformende Sprachklischees) in topologischen Begriffen, so werden nicht nur Affinitäten zu Gilles Deleuze deutlich, sondern auch Bezüge zur Geschichte topologischer Modelle in der Literatur des 20. Jahrhunderts angedeutet, so Pichler.

Einen anderen Zugang wählt Evelyn Annub: Sie untersucht die Bühnenstücke Jelineks im Hinblick auf deren „Zweidimensionalität“. In Jelineks Theaterstücken werden der sprechenden Instanz die Konturen genommen, an die Stelle von Figuren treten Sprachflächen. Annub überträgt Vogels Befund über die „Kinder der Toten“ auf Jelineks Theatertexte: auch hier sind die Personen nicht mehr abgrenzbar und können ineinander ‚umkippen‘.

Daniela Strigl analysiert (in einer Neuauflage ihres Artikels aus „Modern Austrian Literature“, 2006) „Die Wand“ als „Fenster, Spiegel, Tafel“ und als Reflexionsfläche, die das eigene Leid zurückwirft und damit Sehen unmöglich macht. Letztendlich zeigt sich Strigl gegenüber dem geäußerten Lob der Oberfläche jedoch auch misstrauisch, denn die Tiefe werde wider Willen stets mitgedacht, sind doch Rhizome (als Gewebe von Verweisen) keine oberflächlichen Strukturen, sondern befinden sich oder führen in die Tiefe.

Fatima Naqvi wiederum widmet sich Jelineks kurzem Essay „Angst. Störung.“ (2006) und der darin ersichtlich werdenden paradoxen Topologie: Angst als zugleich „unbetretbarer und unentrinnbarer Abgrund“. Die Satzzeichen im Titel betonen einerseits als nachdrücklich gesetzte Punkte die Immobilität des Textes, andererseits „funktionieren die Punkte auch als Art Ellipse“, als Leerstelle: Es geht hier eben nicht um eine ‚Angststörung‘. Als Bild für die Bewegung des Textes um dieses „Loch inmitten der Worte“ verwendet auch sie die Möbiusschleife, auf der „der Weg nach Innen immer […] nach Außen geht“.

Im Beitrag von Inge Arteel treten „Die Kinder der Toten“ in Dialog mit Franz Kafka und Deleuze. Arteel versucht aufzuspüren, wie der Text eine dem Deleuze’schen Begriff des Nomadischen ähnliche Dynamik entfaltet, kommentiert und abwandelt. Deleuzes Nomade repräsentiert ein Denken, das nicht in die Tiefe geht und, anstatt den Dingen auf den Grund zu gehen, den festen Boden unter ihnen aufwühlt. So schieben sich die Zeitebenen ständig über und unter einander, ein Ereignis kann also auf verschiedenen Zeitebenen zugleich existieren, und auch die Textfiguren können sich auf unterschiedlichen Zeitebenen aufhalten, wobei durch die schnelle Bewegung der Figuren ein Eindruck von „Gleichzeitigkeit“ beziehungsweise sogar von „Stillstand“ erzeugt wird. Die Figuren werden so zu Projektionsflächen für die Untoten, zu Oberflächen, ähnlich einer Leinwand oder einem Bildschirm.

Auch Ralf Schnell widmet sich in seinem Beitrag der Problematik von Oberfläche und Tiefenstruktur in „Die Kinder der Toten“: Die Toten streben danach, sich von ihrer Nicht-Existenz zu befreien. Dies gelingt durch „Formen des Austauschs“, mithilfe derer sie die schwindenden Lebensimpulse von Verunglückten und Ermordeten in sich aufnehmen und die Schnell mit der Metapher des „Stoffwechsels“ bezeichnet. Derartige parallel ablaufende „Austauschprozesse zwischen unterschiedlichen Aggregatzuständen oder Energien“ ortet er im Roman in thematischer, historischer, erzählperspektivischer, kompositorischer und motivgeschichtlicher Hinsicht. Die Verdoppelung der Figuren findet dabei ihre Entsprechung in der Erzähltechnik (Perspektivenwechsel, Mehrdimensionalität, Reziprozität von Erzählverläufen). Auch die Intertextualität in Jelineks Werk und das Verhältnis zwischen Oberfläche und Tiefenstruktur sieht er als „Stoffwechselprozess“, als reziprokes Verhältnis von Elementen, „die einander durchdringen, miteinander kommunizieren, sich untereinander austauschen, ineinander übergehen, einander ersetzen und ablösen“.

Dass also die Tiefe an der Oberfläche liegt, machen die Beiträge dieses Bandes jeder auf unterschiedliche Weise deutlich. Der von den Beiträgern (nicht alle konnten hier erwähnt werden) verfolgte Ansatz erwies sich als fruchtbares Konzept für die Analyse der Werke Jelineks, der es ermöglicht, die bereits früher konstatierten „Textflächen“ sowohl im dramatischen, als auch im Romanwerk Jelineks konkret ‚greifbar‘ zu machen. Wenn auch in einigen Beiträgen die Oberfläche eher ‚konventionell‘ als Metapher beziehungsweise Motiv untersucht wird, so bieten doch die meisten der hier versammelten Analysen erhellende Relektüren und neue Perspektiven auf Jelineks Werk und demonstrieren nachvollziehbar und schlüssig, wie darin die ‚Oberfläche‘ die ‚Tiefe‘ aufbricht und durchsetzt. Dieser Band sei allen wärmstens ans Herz gelegt, die bereit sind, sich auf neue Perspektiven einzulassen und die Tiefe in der Oberfläche zu suchen. Es lohnt sich, denn, wie Jelinek in ihrer Rede zur Verleihung des Lessing-Preises sagte: „Wenn man in Österreich tief sagt, dann meint man das Gegenteil davon: seicht, aber so wahr, dass man darin ertrinken könnte.“

Titelbild

Thomas Eder / Juliane Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2010.
184 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783770550043

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