Der tiefe Fall

Irène Némirovskys Roman „Die Familie Hardelot“ ist das Porträt eines Standes

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irène Némirovsky, 1903 als Tochter eines jüdischen Bankiers in Kiew geboren, 1917 vor der Revolution mit ihrer Familie nach Paris geflohen, hinterließ mehrere Romane, die erst Anfang des 21. Jahrhunderts wiederentdeckt wurden. In der Zwischenkriegszeit genoss die junge Autorin mit ihren Romanen, in denen sie das Bürgertum scharf und ungeschminkt kritisierte, hohes Ansehen. Alles änderte sich für die Jüdin mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges – dass sie noch zum Katholizismus konvertiert hatte, nützte ihr selbstverständlich nichts. Sie floh mit ihren Töchtern in die Provinz, wurde 1942 verhaftet und verstarb in Auschwitz völlig entkräftet. Ihr Mann wurde in Auschwitz ermordet. Die beiden Töchter jedoch konnten sich einer Gefangennahme immer wieder entziehen und überlebten.

Knapp ein Dutzend Romane sind seit „Suite française“ (2005) auf Deutsch erschienen, mehrheitlich übersetzt von Eva Moldenhauer. 2010 erschien „Die Familie Hardelot“, eine typische Némirovsky-Familiengeschichte. Sie setzt ein mit dem Feuerwerk, das Pierre und Agnès, die Eltern der beiden sowie Pierres Verlobte Simone an einem Herbstabend am Ufer des Ärmelkanals bewundern. Und eine Geschichte, die mit zwei Frauen und einem Mann beginnt, kann nicht gut enden. Simone ist die Frau, die für Pierre bestimmt worden ist, doch sie will ihm immer weniger gefallen, „seit einiger Zeit lag sie ihm im Magen wie ein zu mehliges, zu süßes Gericht“. Aber es lag nicht an ihm zu entscheiden, als „Sohn der Papierfabrik von Saint-Elme“ hatte er zu gehorchen, und zwar nicht in erster Linie seinem Vater, der gehorchte auch nur, sondern seinem Großvater. Weil Agnès’ Eltern nur Bierbrauer waren, kam sie, die er liebte, nicht infrage. Bis sich die Mutter von Agnès einschaltete und Pierres Eltern dort traf, wo es schmerzte: Sie suchte sie auf und erklärte ihnen, dass man wisse, dass sich ihr Pierre mit Agnès heimlich treffe. Damit machte sie das Unmögliche möglich, nämlich dass die Verlobung aufgelöst wurde und Pierre und Agnès zusammenfanden, wenn auch enterbt und entehrt. Erst bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges sollte Pierres Mutter ihren Sohn wieder sehen – „und gleich wieder verlieren“. Mit dem Krieg begannen nicht nur für Pierre die schrecklichen Zeiten, auch Saint-Elme befand sich bald mitten im Kriegsgeschehen, die Papierfabrik wurde zerstört, der alte Hardelot war der Einzige, der sich nicht vertreiben ließ. Was ihm ein knappes Vierteljahrhundert später sein Sohn nachmachen wird, wenn während des Zweiten Weltkrieges einmal mehr alles zerstört wird.

In all den Jahren bleibt Simone nicht untätig. Es gelingt ihr nicht nur, einen Ehemann zu gewinnen – einen Bonvivant aus Paris –, sondern diesen auch bei Großvater Hardelot als Ersatz für Pierre unterzubringen. Damit bleibt das Schicksal von Pierre noch viel unausweichlicher von Simone abhängig, als dies im Rahmen einer Ehe gewesen wäre. Und Simone weiß dies auszunutzen. Dass er sie verschmäht hat, zahlt sie ihm gnadenlos heim. Und die Verbindungen werden nochmals verschärft, als Guy, der Sohn von Pierre und Agnès, und Rose, die Tochter von Simone, heiraten.

Wie bei früheren Romanen von Nemirovsky entwickelt auch „Die Familie Hardelot“ einen Sog, der uns das Buch kaum zur Seite legen lässt, bevor es zu Ende gelesen ist. Zum einen ist es die wunderschön farbige Sprache, die Ereignisse, aber auch die hochgehenden Emotionen in Bildern im Kopf aufleben lassen. Wunderschön, mit welcher Ironie etwa die Autorin die beiden Mütter – Madame Florent, die Mutter von Agnès, und Madame Hardelot, die Mutter von Pierre – ihr Bad nehmen lässt. Sie mieten zusammen eine Kabine, nur heimlich und verstohlen werfen sie Blicke auf die andere, immer vergleichend und darüber nachdenkend, welchen Vorteil doch die reiche Simone, die als Waisenkind alles in die Familie, in die sie heiraten würde, mitbringen konnte, für die Hardelots haben werde, und ihr gegenüber Agnès, die damit rechnen musste, nie einen Ehemann zu finden. Das Gespräch, das die beiden Mütter dann doch führen, ist von solcher Höflichkeit, dass die Wörter auf den Lippen einzufrieren drohen. Denn in diesen Kreisen haben die Worte immer auch noch eine andere Bedeutung, und es kann verheerend sein, etwas falsch zu verstehen oder aber falsch zu formulieren. Ehrlichkeit ist keine Tugend. Dass Pierre sich diesem Verhalten verweigert, macht ihn zu einem edlen Menschen, bringt ihn jedoch um sämtliche materiellen Güter, sodass er und Agnès echte Schwierigkeiten im Alltag haben. Denn Großvater Hardelot ist ein Mann mit Prinzipien, wenn er den Nachkommen mal verstoßen hat, bleibt es dabei, daran ändert auch ein Weltkrieg nichts.

Atemlos auch verfolgt man die Flucht der schwangeren Agnès und ihrer Schwiegermutter Rose, während Pierre – wie seinerzeit sein Vater – in Saint-Elme bleibt, wo ihn Rose findet, wenigstens das. Und der Roman endet mit dem Satz: „Sie würden ihr Leben gemeinsam beenden.“

Es sind solche Geschichten, die die Faszination dieses Romans ausmachen. Und dabei immer im Kopf zu haben, dass die Autorin ihn im Frühjahr 1940 begann, schärft die Lektüre noch mehr. Gerade die Darstellungen der Kriegshandlungen und wie sehr die Zivilbevölkerung davon betroffen ist, haben eine Unmittelbarkeit, die äußerst nachdenklich macht. Vor unseren Augen entfaltet sich im Roman der Niedergang einer Familie, einer Gesellschaftsschicht – der Bourgeoisie – und letztlich eines ganzen Landes. Ein Krieg – und erst noch, wenn er auf allen Ebenen stattfindet – hinterlässt Verletzungen und Zerstörungen, die nicht unbedingt zu vernünftigem Handeln im nächsten Fall führen müssen. Auch das ist nachzulesen in Némirovskys Romanen.

Titelbild

Irène Némirovsky: Die Familie Hardelot. Roman.
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Knaus Verlag, München 2010.
252 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813503753

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