Das Wuchern der Fußnoten

Violetta Waibel seziert das Verhältnis zwischen Hölderlin und Fichte

Von Ralf HertelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Hertel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Violetta Waibels Studie "Hölderlin und Fichte. 1794 - 1800" ist eine sehr deutsche Dissertation. Sie ist erschöpfend in jedem Sinn. Kenntnisreich und unter Einbeziehung einer Vielzahl von Briefen, Gesprächsäußerungen und anderen Dokumenten wird hier das Verhältnis zwischen dem allgemein als prototypisch- romantisch angesehenen Philosophen Fichte und Hölderlin, dem Außenseiter unter den Dichtern der Zeit um 1800, aufgedröselt. Waibels Ausführungen sind dabei vor allem gründlich. Unter anderem rekonstruiert sie aus Hölderlins brieflicher Korrespondenz recht genau die Zeiträume, in denen dieser mit verschiedenen Schriften und Vorträgen Fichtes bekannt geworden sein muss. Verdienstvoll ist vor allem auch ihr Bestreben, nicht allein den Einfluss Fichtes auf Hölderlins Denken aufzuzeigen, sondern auch die Beeinflussung Fichtes durch Hölderlins Kritik. So ist ihre knapp vierhundert Seiten starke Studie keine weitere literaturwissenschaftliche Studie à la "Hölderlin und ...", sondern bietet einen Einblick in einen spannungsreichen Dialog zweier überaus komplexen Denkern um 1800.

So erschöpfend Waibels Studie jedoch die Quellenlage sondiert, so erschöpfend ist ihre Untersuchung leider auch zu lesen. Nicht nur ihr penibles Quellenstudium entspricht so ganz dem Klischee, dass man im Ausland gerne von Deutschen Arbeiten in der Literaturwissenschaft hat; auch der überbordende, den eigentlichen Text mitunter verdrängende Fußnotenapparat trägt nicht gerade zu gesteigerter Lektürelust bei. Der Leser hätte sich überdies gewünscht, Waibel würde sich nicht allein auf detaillierte Textinterpretationen beschränken. Man vermisst ein einführendes Kapitel, das dem Leser erst einmal mit dem Grundlegendsten vertraut macht: Wie sah das Umfeld in Jena aus, in dem Hölderlin zum ersten Mal Vorlesungen des Philosophen hörte? In welche geistesgeschichtliche Strömung ist der Dialog der beiden Denker einzuordnen? Wie verhält sich die fruchtbare Auseinandersetzung zu den epochalen Strömungen der Klassik und Romantik? Wie sah Hölderlins Entwicklung aus bis zu dem Zeitpunkt, da er auf Fichtes Ideen stößt, wie diejenige Fichtes? Man kann nicht davon ausgehen, wie Waibel dies tut, dass jeder Leser - und sei er auch mit Hölderlin oder Fichte vertraut - jede Briefstelle, jede Anmerkung umstandslos in den Kontext der jeweiligen Vita, des jeweiligen Werkes einordnen kann. So aber sieht sich der Leser bereits auf der dritten Seite des irreführend mit "Einleitung" betitelten ersten Kapitels mit Sätzen konfrontiert wie dem Folgenden:

"Hölderlins Vernunftbegriff ist wesentlich dadurch bestimmt, Ganzheitlichkeit in allem Einzelnen und im Besonderen ein Allgemeines mitzudenken, eine Konzeption, die in Kants regulativen Ideen ein Pendant zu haben scheint. Der Orientierung auf ein Ganzes räumt Hölderlin durchgängig eine zentrale Bedeutung ein und verknüpft damit eine Theorie der Totaleindrücke und Totalvorstellungen, die weniger mit Kants Erkenntnistheorie in Zusammenhang steht als mit Reinholds Theorie der Total- und Partialvorstellung sowie Fichtes "StrebungsKategorien", den Ideen und Zwecken, die die Intentionalität des Erkennens und Handelns begründen und eine letzte und umfassende Orientierung geben."

Man muss Waibel jedoch zugute halten, dass sie einen Beitrag dazu leistet, Hölderlin trotz des Fehlens eines systematischen philosophischen Werkes als Philosophen ernst zu nehmen. Schade ist allerdings, dass ihre Arbeit darüber recht einseitig wird - wer nur Waibels Studie kennt, käme nie auf den Gedanken, dass Hölderlin vor allem als Dichter Höchstes geleistet hat. So kenntnisreich Waibel auch den feinsten Verzweigungen des Hölderlinschen Denkens nachspürt, die Brücke zu dessen literarischem Schaffen sucht man vergebens. Welchen Einfluss haben Fichtes Gedanken auf Hölderlins Lyrik? Lassen sich Hölderlins Gedichte vielleicht gar als eine lyrische Auseinandersetzung mit dem Konzept des absoluten Ichs verstehen? Waibel lässt Fragen wie diese unbeantwortet und damit viel Raum für weitere Studien, die den Philosophen Hölderlin nicht mehr vom Dichter Hölderlin trennen sollten.

Titelbild

Violetta Waibel: Hölderlin und Fichte. 1794-1800.
Schöningh Verlag, Paderborn 2000.
384 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3506795201

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