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Baudelaires „Blumen des Bösen“ – die Offenbarung der modernen Poesie – in einer Neuausgabe

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Charles Baudelaires dichterisches Hauptwerk „Les fleurs du mal“ („Die Blumen des Bösen“, 1857) ist jetzt in der Lyrik-Reihe im Haffmans Verlag bei Zweitausendeins in einer handlichen Ausgabe und in der Umdichtung von Stefan George erschienen. Dieses epochale Werk bereitete seinerzeit formal und thematisch die moderne europäische Lyrik vor. Im strengen Versmaß gereimter Alexandriner und meistens in Sonettform brachte der Dichter in symbolisch überhöhten Bildern das Morbide, Paradoxe und Abgründige in die Poesie ein und gestaltete als einer der Ersten die neuen Reize der Großstadt. In einer hässlich und banal gewordenen Welt wollte er das Schöne durch Imagination und Erinnerung in der Dichtung wiedergewinnen.

Baudelaire galt vor der Veröffentlichung der „Blumen des Bösen“ als ein „Möchtegern-Dandy“ und Bohèmien, hatte zwar hier und da ein Gedicht zustande gebracht, auch eine Übersetzung eines anderen merkwürdigen Kauzes namens Edgar Allan Poe. Aber Pläne, einen Roman oder ein Theaterstück zu schreiben, waren von ihm nicht ausgeführt worden. 1846 hatte er auf dem Umschlag des „Salons von 1846“ einen Gedichtband „Les Lesbiennes“ angekündigt, ein skandalöses Vorhaben, aber es gehörte zu den Spielen der Bohème, den Bürger zu erschrecken. Gott und Satan zu trotzen, war allerdings so neu nicht, das gehörte schon zu den spätromantischen Themen, doch wurden sie von Baudelaire völlig neu gewendet. Er verwarf die optimistische Lehre von der prästabilierten Harmonie der Welt, wie sie die Aufklärung vertreten hatte, und stellte ihr die pessimistische Auffassung von der prästabilierten Disharmonie des Daseins entgegen. Anstelle eines gütigen Gottes und eines letzten Endes guten Menschen setzte er ein dämonisches Wesen (Satan) und einen wissentlich und willentlich bösen Menschen. Nicht der Ruf nach einem Vernunftstaat oder Verheißungen eines irdischen oder himmlischen Paradieses, sondern Bilder fortwährender Zerstörung dominieren in seiner Dichtung. Der Renaissance-Philosoph und -Politiker Machiavelli galt ihm als der große Gegenspieler der herrschenden Fortschrittsideologie. Im freien Walten der Fantasie sah er eine unabdingbare Voraussetzung der Poesie. Aber der Freiheit und Souveränität der Imagination waren unüberwindliche, dämonische Grenzen gesetzt. Und doch – das Verlangen nach einer besseren Welt, der Wunsch, in fremde Länder zu reisen, die Sehnsucht nach Utopie, das Bedürfnis nach Begeisterung, Trunkenheit und Rausch, der Hang zur Bohème, übermächtige Träumerei – ohne diese Triebkräfte existiert für Baudelaire keine Poesie.

Baudelaire plante zunächst die Veröffentlichung der ab Anfang der 1840er-Jahre entstandenen Gedichte unter dem Titel „Les Lesbiennes“ oder „Les limbes“ („Die Vorhölle“). Zwei Monate nach Erscheinen musste sich der Verfasser der Gedichte nach einer polemischen Rezension vor Gericht wegen Verstoßes gegen die öffentliche Moral verantworten. Er wurde verurteilt, in der zweiten Auflage sechs Gedichte zu streichen. Spätere Auflagen enthalten dann noch zusätzliche Verse und auch die verbotenen Gedichte wurden wieder aufgenommen. Immerhin wurde ihm diese Verurteilung zugleich zur Auszeichnung, denn der Dichterfürst Victor Hugo schrieb ihm aus der Verbannung: „Ihre ‚Fleurs du mal‘ strahlen und blenden wie Sterne“.

Das einleitende Gedicht „An den Leser“ bezeichnet sarkastisch den Zyklus als Ausgeburt einer höllischen Fantasie. Sie sei notwendig, um den modernen Menschen aus dem Gefühl von Schwermut, Langeweile und Lebensüberdruss – zusammengefasst in „ennui“ – zu reißen. Ob aus der Übersättigung oder aus dem Verlust an Illusionen erwachsen, „ennui“ bildet eines der widerlichsten und gefährlichsten Gebrechen der modernen Zivilisation. Der Dichter nimmt die Pose desjenigen ein, der sich in Verstellung und Schein darstellt, Mime, Saltimbanque, Bouffon und Bohèmien sind seine erratischen Identifikationsfiguren.

Die Gedichte der ersten, umfangreichsten Gruppe „Spleen et idéal“ (von Stefan George mit „Trübsinn und Vergeistigung“ übersetzt) spiegeln das Ringen des Dichters wider, seine Aufschwünge, Stürze und seine Resignation. Dem „ennui“ beziehungsweise „spleen“, den Walter Benjamin als „Katastrophe in Permanenz“ definierte, stellt Baudelaire die Sehnsucht nach dem Ideal, das „Streben nach dem Grenzenlosen“ entgegen. Die moderne Zivilisation ist für ihn eine entfremdete Welt, in der kaum einer die Erfüllung seines Lebenssinns findet. In den Hymnen auf die dunkle Geliebte und ihre Attribute – es sind rund 20 Gedichte von den 100 der ersten Ausgabe – sind die während der Schiffreise von 1841/42, die der damals 20-Jährige Dichter unternahm, auf den ostafrikanischen Tropeninseln gemachte Entdeckung einer antikanonischen, bizarren, regelwidrigen Schönheit eingeflossen, die den heimgekehrten Dichter zu einer Liaison mit der Mulattin Jeanne Duval veranlassten.

Dass der Dichter zu Schiff ausfährt, hindert ihn nicht, die Geliebte, diese „tanzende Schlange“ – so der Titel eines anderen Gedichts – ihrerseits mit einem Segler zu vergleichen. Unter dem Titel „Das schöne Schiff“ verbirgt sich das Porträt einer Frau – diesmal der Schauspielerin Marie Daubrun: Die schwingenden Röcke entsprechen den geblähten Segeln. Zu den Paradoxien dieser Verschmelzungspoetik gehört es auch, dass der Schiffsvergleich dann jäh wieder aufgehoben wird, die Brüste der Gefeierten werden mit einer „herrlichen lade“ verglichen, „mit blanken schildern geschmückt“. So kann man mit Werner Ross das Gesetz dieses neuen Dichtens in der Weise formulieren, dass, was auch immer der Gegenstand sei, die Verse ihm nicht dienen, sondern ihn nur umspielen, den eigenen Leitmotiven folgend: Frau und Schiff, Gang und Fahrt, Trägheit und Trunkenheit. Das stärkste dieser Leitmotive, das Wiegen der schreitenden Frau und des segelnden Schiffes, ist der Urrhythmus, dem das Gedicht als rhythmisches Gebilde antwortet – bis zu dem Grade, dass sich die Strophen in bestimmter Gesetzmäßigkeit wie Wogen wiederholen.

Die unter dem Titel „Tableaux parisiens“ („Pariser Bilder“) zusammengefassten Gedichte begründeten Baudelaires Ruhm, als erster die zivilisatorischen Reize der modernen Großstadt in die Poesie einbezogen zu haben. Die Gedichte enthalten Bilder, Träume und Visionen von Paris, der „schrecklichen Landschaft“, die bevölkert wird von Blinden und Bettlern, Buckligen und Greisen. Selbst das Grauen kann den müßigen „flaneur“ faszinieren. Haussmanns, des Präfekten von Paris unter Napoleon III., neue Boulevards mit ihren glatten Bürgersteigen und asphaltierten Straßenflächen erzeugten überhaupt erst jenes Großstadt-Durcheinander, die schiebende und geschobene Menge, ohne das Baudelaires Gedicht „Einer Vorübergehenden“ nicht hätte entstehen können: „Es tost betäubend in der strassen raum“. Seine Hassliebe zur Zivilisation befähigt Baudelaire, nicht nur das Elend der Großstadt, sondern auch die menschliche Größe im Elend, nicht nur das Hässliche, sondern auch die Schönheit im Hässlichen zu erkennen.

In den Gedichten der Gruppe „Le vin“ („Der Wein“) geht der Dichter den bewusstseinserweiternden Wirkungen von Rauschgiften nach und singt dem Wein ein Loblied, da er das Elend vergessen ließe und die Liebenden in das Paradies der Träume führe. Doch letztlich bringt auch die Flucht in den Rausch keine Erlösung. Aus den Gedichten der Gruppe „Fleurs du mal“ und den blasphemischen Versen der „Révolte“ („Aufruhr“) spricht die Stimme der Verzweiflung, aus der kein Weg mehr hinauszuführen scheint. Die Gedichte „La mort“ („Der Tod“) und „Le voyage“ („Die Reise“) beschreiben die letzte Reise in den Tod, die Erlösung bringen soll vom „ennui“. Der Dichter unternimmt diese Reise, ganz egal, ob sie zum Himmel oder zur Hölle führt, da er auf dem Grund des Unbekannten Neues zu finden hofft.

Baudelaires Sensibilität analysiert die neue Epoche nicht mehr nach dem üblichen Schema – wie Fortschritt oder Verfall –, sondern im Erspüren der Atmosphäre, im Wahrnehmen ganz neuer sozialer und seelischer Befindlichkeiten, im Bewusstsein, dass eben nur dieses gleichzeitig exakte und intuitive dichterische Erkundungswagnis das Bild der Zeit liefern würde, nicht die wissenschaftliche oder pseudowissenschaftliche Beschreibung, wie sie Honoré de Balzac angestrebt hatte und wie sie Emile Zola von neuem vornehmen sollte. Er zerriss die Träume von einem bürgerlichen Reich der Vernunft, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenliebe, Harmonie und Schönheit und schilderte stattdessen die Kehrseite dieser Illusionen: die Herrschaft des Egoismus, der Rohheit und Sinnlichkeit. Er zerschlug das Traumbild einer schönen Natur, in der sich die Menschen in Harmonie und Glück begegnen. Als Gegenbild führte er in die Dichtung die Welt der bürgerlichen Zivilisation ein, welche die ganze Existenz, auch die Natur durchwaltet und die Menschen sich fast nur noch in der Enge der Stadt zu Hause fühlen lässt. Die Gestaltung der Entfremdung zwischen den Menschen verlangte den Verzicht auf eine den unmittelbaren Kontakt von Mensch zu Mensch herstellende Gefühlslyrik, statt der „Poesie des Herzens“ wurde eine „fühllose“, kühle Dichtung gefordert.

Mit Baudelaire beginnt die Entpersönlichung der modernen Lyrik, auch die Tendenz der Verdinglichung, die Neigung, Personen Dinge anzuverwandeln. Das unmittelbare Erleben, die individuelle Sicht wird zurückgedrängt. Durch die Lösung von der Unmittelbarkeit, der Gewalt der Gefühle und Eindrücke erlangt der Dichter die Freiheit, seine Stoffe beliebigen literarischen Mustern zu unterwerfen und sie artistisch auszuformen. Die Allegorie, eine Versinnbildlichung oder Personifikation von Abstraktem, zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht – wie die Metapher und das Gleichnis – die Idee in einem lebenden Bild ausdrückt, sondern dass sie das Bildhafte nur in Stücken einsetzt, um die Idee nur gerade ein wenig zu schmücken, keineswegs aber zu einem blutvollen, poetischen Wesen zu verdichten.

Baudelaires literarische Mittel waren solche der Verfremdung: Störung des Vertrauten und Gewohnten, Unterbrechung des freien und natürlichen Stroms der lyrischen Vorstellungen durch prosaische Eingebungen, Einbringen von Niedrigem und Abstoßendem in große und erhabene Zusammenhänge, störende Vergleiche, Zurückdrängung organischer und natürlicher zugunsten abstrakter, überraschender und befremdender Bilder.

Der Erfolg des Gedichtbandes war zu Lebzeiten Baudelaires eher gering. Erst spätere Dichtergenerationen wie die Symbolisten und die Surrealisten erkannten die neuartige suggestive Sprachmagie der Lyrik. Baudelaires entscheidender Einfluss ist im Werk nachfolgender Dichter wie Paul Verlaine, Arthur Rimbaud und Stéphane Mallarmé, Paul Valéry, Georg Trakl, Rainer Maria Rilke oder Paul Celan erkennbar. Der Gedichtband wurde mehrfach ins Deutsche übertragen, erstmals von Stefan George (1901), und dass sich die vorliegende Ausgabe gerade dessen Übertragung bedient, dürfte verständlich sein. George forderte vom Gedicht „rein ellenmäßig“ Kürze, durch „Konzentration“ sollte das Gedicht wieder zu mehr als einer Emanation von Gefühlen oder Meinungen werden: nämlich zu einem Kunstgegenstand. Und trotz dieser Gegenständlichkeit „umspielt“ die George’sche Übertragung souverän die Dinge, bringt die suggestiven Bilder und Metaphern, die rhythmische Sprache und die poetische Kraft der Symbole zum Erklingen.

Titelbild

Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen.
Übersetzt aus dem Französischen von Stefan George.
Zweitausendeins, Frankfurt, M. 2011.
190 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783942048354

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