„Two kindred souls from worlds apart“

Wole Soyinka, Joseph Brodsky und die globalisierte Lyrik

Von Markus KesselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Kessel

Enzensberger – Jahn – Enzensberger

Ein Kerngedanke in Hans Magnus Enzensbergers Vorwort zum „Museum der modernen Poesie“ von 1960 betrifft das „Einverständnis, das wie nie zuvor die nationalen Grenzen der Dichtung aufgehoben und der Idee der Weltliteratur zu einer Leuchtkraft verholfen hat, an die in anderen Zeiten nicht zu denken war.“ Es ist interessant, worin Enzensberger die Quelle dieses Einverständnisses sieht. Zwar spricht er von der im 20. Jahrhundert geradezu unbeschränkten Verfügbarkeit des künstlerischen Materials durch die modernen Reproduktionstechniken und von der gegenseitigen Rezeption unter den „führenden Köpfen der modernen Poesie“. Indes ist ihm die Benennung unmittelbarer Einflüsse und Abhängigkeiten nicht nur zu „subaltern“, er hält sie auch nicht für maßgeblich für die Entstehung der poetischen Weltsprache. Aber wie konnte sie sich dann überhaupt entwickeln?

Als die eigentliche Triebkraft der konstatierten poetologischen Entwicklung macht Enzensberger die „Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte“ aus, mit welcher die internationale Lyrik Schritt halte. Dies lässt zunächst an historisch-materialistische Widerspiegelungstheorie denken, jedoch soll dieser Verdacht sogleich zerstreut werden durch die Empfehlung, den Zusammenhang zwischen Poesie und Ökonomie „nicht zu rasch zu verstehen.“ Ökonomische Determination sieht Enzensberger insofern nicht am Werk, als die moderne Poesie der industriellen Produktion feindlich als eine „Anti-Ware“ gegenüberstehe, sich also im Widerspruch zum Bestehenden konstituiere und gerade darin zugleich ihren poetischen Charakter erweise.

Dennoch nimmt Enzensberger den Zusammenhang zwischen der modernen Lyrik und ihrem sozialgeschichtlichen Kontext ernst genug, um daran eine entscheidende Einschränkung seines Gedankens von der „Weltsprache der Poesie“ festzumachen: Deren Zentren seien mit den Zentren der technischen Zivilisation identisch, und eben darum fehlten im „Museum“ große Teile Asiens und Afrikas, die bis 1945 weder von der Industrialisierung noch von der modernen Poesie erreicht worden seien. An eben diesem Aspekt von Enzensbergers Konzeption entzündet sich die Kritik eines anderen deutschsprachigen Vermittlers internationaler Lyrik, nämlich Janheinz Jahns. Jahn war ein Privatgelehrter und stand sein Leben lang außerhalb des universitären Establishments. Dennoch war er bis zu seinem Tod im Jahr 1973 der einflussreichste Kenner, Sammler und Herausgeber afrikanischer, karibischer und afro-amerikanischer Literatur in der Bundesrepublik. Jahn freundete sich in den 1950er-Jahren mit dem senegalesischen Dichter und späteren Staatspräsidenten Léopold Sédar Senghor an und veröffentlichte 1954 mit dem „Schwarzen Orpheus“ eine wichtige und auch beim Publikum sehr erfolgreiche Gedichtanthologie. Bekannt wurde er vor allem durch sein Konzept einer „neoafrikanischen“ Literatur, die sich durch Vermischung traditioneller afrikanischer mit modernen westlichen Einflüssen zu einer eigenständigen Stilrichtung entwickelt habe und deren Einfluss sich auf beide Seiten des Atlantiks erstrecke.

Die zentralen Gedanken dieser Theorie legte er 1966 in seiner „Geschichte der neoafrikanischen Literatur“ dar, und darin bezieht er sich auch explizit auf Enzensbergers sechs Jahre zuvor erschienenes „Museum der modernen Poesie“. Dem Grundgedanken eines bemerkenswerten Einverständnisses unter den „westlichen“ Lyrikern stimmt Jahn zunächst ausdrücklich zu, und seine Kritik bezieht sich auch nicht eigentlich auf das Fehlen der neoafrikanischen Lyrik im „Museum“. Problematisch erscheint Jahn vielmehr Enzensbergers literarische „Modernisierungstheorie“, also die Voraussetzung einer zwar nur allmählichen und zum Teil verspäteten, aber infolge der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung letztlich doch unvermeidlichen Integration sämtlicher Regionen und Kulturen in die „Weltliteratur“ – eine Idee, die bereits bei Johann Wolfgang von Goethe angelegt sei.

Für Jahn bedeutet die Idee einer poetischen lingua franca letztlich die weltweite Einebnung lyrischer Ausdrucksweisen. Ein solches nivellierendes Potenzial spricht er der Industrialisierung jedoch ab. Dabei beruft er sich ausgerechnet auf Enzensberger und betont ebenfalls den Charakter der Dichtung als „Anti-Ware“, die sich den außerhalb ihrer selbst wirkenden ökonomischen Kräften widersetze. Und da andere Kulturen auch andere Werte zu verteidigen hätten als „der Westen“, werde es auch künftig nicht zu einem weltweiten Einverständnis unter den Dichtern kommen. Freilich steht dieses Insistieren auf der Eigenständigkeit unterschiedlicher moderner literarischer Konstellationen unmittelbar im Zusammenhang mit Jahns Konzeption einer ausschließlich anhand stilistischer Merkmale abzugrenzenden neoafrikanischen Literatur und seiner Programmatik zur Begründung der Neoafrikanistik als Disziplin zu ihrer Erforschung. Zugleich lässt sich darin aber auch eine Vorwegnahme der Kritik an der Universalisierung „westlicher“ Ästhetik erkennen, die später und weitaus einflussreicher im Rahmen der Postcolonial studies artikuliert wird.

Und so wäre es für Jahn vermutlich eine gewisse Genugtuung gewesen, hätte er im Jahr 2002 die Nachbemerkung zur Neuauflage des „Museums“ lesen können. Auf eher lakonische Weise distanziert sich Enzensberger darin von seinem „vollmundigen“ Vorwort von 1960, und zwar insbesondere im Hinblick auf den Gedanken der „Weltsprache“. 40 Jahre später sieht er darin die kritiklose Aneignung eines Eurozentrismus, der die Dichtung der „klassischen Moderne“ durchzogen und damit zu einer Verkürzung des Gedankens der „Weltliteratur“ geführt habe, „die heute, in einem postkolonialen Zeitalter, ziemlich merkwürdig anmutet“. Im Kern ist es jedoch nicht die Exklusion vieler nationaler Dichtungen aus dem Kanon des „Museums“, sondern vielmehr die Idee weltweiten Einverständnisses, die Enzensberger inzwischen als obsolet ansieht. Die Weltsprache der Poesie sei inzwischen „in zahllose Dialekte“ zerfallen, „die dichterische Produktion der letzten Jahrzehnte immer heterogener und regionaler geworden“. So wie Jahn bereits 1966 aus der Perspektive der Neoafrikanistik betont nun auch Enzensberger die „Mannigfaltigkeit“ der internationalen Literatur als Ausdruck ihres widerständigen Potenzials: „Gegen die Abstraktionen des Weltmarkts, der Globalisierung und der Technik beharrt sie geradezu störrisch auf ihren Besonderheiten.“

Lyrik und Globalisierung

Erschien also 1960 die Entfaltung der Produktivkräfte als der entscheidende sozialgeschichtliche Kontext, tritt an seine Stelle nun die Globalisierung. Diese gilt nicht nur bei Enzensberger als eine kulturell homogenisierende Konstellation. Und wie 1960 die Lyrik der klassischen Moderne als eine „Anti-Ware“ gegen den Industriekapitalismus in Stellung gebracht wird, so werden die Dichter des späten 20. und frühen 21. Jahrhundert offenbar kollektiv zu Globalisierungsgegnern erklärt, die „geradezu störrisch auf ihren Besonderheiten“, ihrer „kulturellen Differenz“ beharren. In seinen knappen Bemerkungen zur Neuauflage des „Museums“ nennt Enzensberger keine Beispiele, aber diese lassen sich problemlos auffinden. So bezeichnet sich Gillian Clarke in emphatischer Identifikation als „Voice of the Tribe“ und betont sowohl die „organische“ Verbindung zwischen Sprache und Landschaft ihrer walisischen Heimat als auch die traditionellen gemeinschaftlichen Aufgaben der Dichter: „Their job is to record, to recite genealogies, to write a people’s history, to conjure sun and rain gods, to bring spring, to endure winter, to remember, to name, to list, to mythologise experience, to praise God, princes, victories, love and nature, to seduce, lament, persuade, elegise, console and celebrate. […] All this makes a poet ordinary in Wales, someone who crafts poetry. As such a Welsh poet is as likely to be asked to write a verse for a birthday or a gravestone as receive a commission from the BBC.“

In nahezu vollständigem Widerspruch zu dieser lokalen Programmatik Clarkes steht eine andere Tendenz der Gegenwartslyrik, die der Sinologe Stephen Owen als „World Poetry“ bezeichnet. Der Ausdruck soll eine gegen Ende des 20. Jahrhunderts entstandene Dichtung beschreiben, die in erster Linie auf ein internationales Publikum zielt: „Instead of a true national poetry, all poetries become merely ethnic. Poets often appeal to names, images, and traditions that serve to bolster local pride, and to satisfy the international reader’s desire for ‚local color‘. At the same time, the intricate learning presumed in traditional poetry is forbidden.“

Die im exotischen Vokabular der „World Poetry“ suggerierte Lokalität ist demnach oberflächlich, da die entsprechenden Gedichte zugleich die Verbindung zu den nationalen Lyriktraditionen der Herkunftsregionen kappen und stattdessen einer Poetik ganz anderer Provenienz verpflichtet sind: „although it is supposedly free of all local literary history, this ‚world poetry‘ turns out, unsurprisingly, to be a version of Anglo-American modernism or French modernism, depending in which wave of colonial culture first washed over the intellectuals of the country in question.“

Nach dieser Auffassung ist die Gegenwartslyrik weit davon entfernt, als ein „authentisches“ Gegengewicht zu dem von der Globalisierung ausgehenden nivellierenden Druck zu wirken. Vielmehr scheint eine an die Bedingungen des literarischen Freihandels angepasste Poesie die „McDonaldisierung“ auf der Ebene der Alltagspraktiken als eine „Elliotization“ beziehungsweise „Baudelairisation“ zu reproduzieren. In groben Zügen ergibt sich damit das Bild eines bipolar organisierten Feldes der internationalen Lyrikproduktion, das sich nahtlos in Pascale Casanovas Modell des Espace mondial des lettres fügt: Der an den Maßstäben des „Nullmeridians“ westlicher Moderne orientierten „World Poetry“ steht darin eine beispielsweise von Clarke vertretene, an lokalen Traditionen orientierte und programmatisch in heteronome Praktiken verstrickte Poetik gegenüber. Die auf den ersten Blick widersprüchlichen Wahrnehmungen Enzensbergers und Owens – von denen eine die andere an kulturkritischem Pessimismus zu überbieten scheint – wären damit in einem einzigen Modell eingefangen. Die Aufgabe der Literaturkritik könnte nun darin bestehen, mittels eingehender Textanalysen und Kontextualisierungen die Position einzelner Werke und Autoren im internationalen Lyrikfeld zu bestimmen. Allerdings wäre ein solches Projekt wohl wenig aussichtsreich. Eine gewisse Skepsis scheint angebracht angesichts der allzu großen Passgenauigkeit des Modells in Verbindung mit den allzu groben Zügen der Beschreibung. Insbesondere zwei in der soeben skizzierten Argumentation enthaltene Voraussetzungen sind problematisch: zum einen die Vorstellung von der Globalisierung als ausschließlich homogenisierender Entwicklung und zum anderen das implizite Konzept von Lokalität als einer quasi primordialen Größe. Gerade diese beiden ebenso stillschweigenden wie weit verbreiteten Annahmen sind es, die Arjun Appadurai in seinen Arbeiten zu den kulturellen Aspekten der Globalisierung herausgefordert hat.

Globalisierung vollzieht sich nach Auffassung Appadurais prozesshaft als in Umfang wie Reichweite potenzierte Mediation und Migration. Diese beiden simultanen und interagierenden Entwicklungen lassen sogenannte „diasporische Sphären“ entstehen, deren wesentliche Bedeutung darin besteht, dass seit dem späten 20. Jahrhundert sowohl kulturelle Inhalte als auch die Menschen, die diese Inhalte als Material für die Konstruktion kollektiver Identitäten und Imaginationen nutzen, in beständiger Zirkulation begriffen sind. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch für Appadurai die Spannung zwischen kultureller Homogenisierung und Heterogenisierung als das zentrale Problem der heutigen globalen Interaktionen dar. Allerdings widerspricht er ausdrücklich der gängigen Annahme, dass innerhalb dieses Verhältnisses das Pendel überwiegend zur homogenisierenden Seite ausschlage. Vielmehr betrachtet er als vielleicht wichtigstes Anliegen seines Hauptwerks – „the very least least I would want the reader to take away from this book“ – den Gedanken „that globalization is not the story of cultural homogenization.“

„What these arguments fail to consider“, so Appadurai weiter, „is that at least as rapidly as forces from various metropolises are brought into new societies they tend to become indenigized in one or another way“. Das Material der Moderne werde in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich angeeignet, die global zirkulierenden medialen Bilder und Imaginationen nicht einfach auf lokaler Ebene reproduziert, sondern in Repertoires von Ironie, Wut, Humor und Widerstand integriert. Aus dieser Perspektive stellt sich Globalisierung als sehr viel komplexerer und vielfach gebrochen dar, als „deeply historical, uneven and even localizing process“.

Vielleicht noch wichtiger im hier gegebenen Zusammenhang ist, dass Appadurai nicht nur Globalisierung, sondern auch Lokalität als eine prozesshafte Kategorie konzipiert. Appadurais bekannte These „that there is nothinge mere about the local“ besagt, dass selbst für kleinere Gemeinschaften, die traditionellerweise Gegenstand anthropologischer Forschung sind, Lokalität keine einfache Gegebenheit ist, sondern vielmehr durch soziale Praktiken erarbeitet werden muss. Viele sogenannte lokale Wissensbestände sind demnach vor allem als Wissen um die Techniken zur Produktion und Aufrechterhaltung von Lokalität anzusehen. Dass zu diesen Techniken – neben Hausbau, Architektur, Namensgebung und vielem anderen – auch Dichtung zählt, ist eine weder überraschende noch neue Erkenntnis. Auf diesen Zusammenhang hat Elmar Schenkel bereits 1992 in seinem Beitrag „The Poet as Placemaker“ hingewiesen. Dichtung hat demnach die Funktion, den geometrischen, noch nicht humanisierten Raum durch Worte, Rhythmen, Metaphern und Mythen mit Sinn aufzuladen und so in bewohnbare Orte zu transformieren.

Die kulturellen Globalisierungsprozesse stellen solche symbolischen Praktiken allerdings vor größere Herausforderungen und lassen die Produktion von Lokalität die Formen eines Kampfes um Lokalität annehmen. Als erschwerende Bedingungen nennt Appadurai die zunehmenden Anstrengungen der Nationalstaaten, ihre Hoheitsgebiete symbolisch zu vereinnahmen, die sich vertiefenden Spaltungen zwischen Territorium, Subjektivität und Gesellschaft sowie eine beständige Erosion des Verhältnisses zwischen räumlichen und virtuellen Nachbarschaften infolge der elektronischen Medien. Auf diesen Zusammenhang geht auch Schenkel in seinem Beitrag ein: „The world-culture which poets like Mandelstam longed for will be a culture of connected regions and places, which have to be made by poetry in order to gain authentic reality beyond the false myths and images of unified histories, so blatant in the contemporary outbreak of nationalism.“

Eine problematische Konsequenz von Schenkels Kulturkritik ist, dass er der Dichtung die notorisch diffuse Qualität der Authentizität zuschreibt. Der Gedanke, dass Dichtung gerade auch in globalem Zusammenhang eine lokalisierende Bedeutung zukommt, ist dennoch vielversprechend. Daran anknüpfend lässt sich möglicherweise eine Perspektive auf die internationale Gegenwartslyrik entwickeln, welche die schematische Dichotomie von „World Poetry“ auf der einen und „Poetry of Place“ auf der anderen Seite überwindet. Diese Sichtweise ist im Folgenden am Beispiel des nigerianischen Dichters Wole Soyinka zu erproben.

Soyinka als globalisierter Autor

Wole Soyinka ist ein außerordentlich globalisierter Dichter. Als erster afrikanischer Nobelpreisträger genießt er nicht nur eine enorme internationale Reputation, auch seine Biografie ist von vielen, teils freiwilligen und teils erzwungenen Migrationserfahrungen geprägt. Von 1954 bis 1960 lebte er in England, wo er zunächst Englische Literatur studierte und anschließend als Schauspieler, Stückeschreiber und Dramaturg am Londoner „Royal Court Theatre“ tätig war. Nach dem Militärputsch Sani Abachas wurde ein Kopfgeld auf Soyinka ausgesetzt, der daraufhin ins Exil ging. Im September 2010 war im „Spiegel“ über ihn zu lesen, er schreibe „seine Bücher und Theaterstücke in der Luft. In Flugzeugen, ‚abgeschnitten von der Welt‘, bringe er am meisten zu Papier, aber auch in Wartesälen von Flughäfen oder in Hotels. Früher konnte er nur allein im Büro dichten, weil ihn das Schreiben zu sehr aufgeregt habe. Erst als ‚Dauerflüchtling‘ habe er sich an das unstete Arbeiten gewöhnt.“

„Samarkand and Other Markets I Have Known“ erschien 2002 als die insgesamt vierte Gedichtsammlung Soyinkas. Die Kritik zählte die darin versammelten Gedichte zu den zugänglichsten Texten des Autors, der in Nigeria als besonders schwierig und unverständlich gilt und dafür teilweise scharf kritisiert wurde. Diese Rezeption dürfte damit zusammenhängen, dass es sich zumeist um politisch engagierte Gedichte handelt, die sich auf sehr offene und direkte Weise mit Themen wie Diktatur und religiösem Fundamentalismus auseinandersetzen.

Das Gedicht „Calling Joseph Brodsky for Ken Saro-Wiwa“ ist das letzte der zweiten, mit „Exits“ überschriebenen Sektion. Mit zwölf Strophen zwischen fünf und 13 Versen gehört es zu den umfangreicheren Gedichten der Sammlung. Inhaltlich handelt es sich um eine Totenklage für den nigerianischen Schriftsteller und Aktivisten Ken Saro-Wiwa. Dieser gehörte der Minderheit der Ogoni an, deren Siedlungsgebiet im Nigerdelta schon seit den 1960er-Jahren Schauplatz heftiger sozialer Konflikte ist, die vor allem durch die dort betriebene Erdölförderung und die damit zusammenhängende Landenteignung und Umweltverschmutzung verursacht sind. Wegen seines Engagements gegen diese Zustände und für die Autonomie der Ogoni wurde Ken Saro-Wiwa 1994 vom Regime Sani Abachas verhaftet und nach einem Schauprozess im Jahr darauf zusammen mit acht weiteren Mitgliedern seiner Bürgerrechtsbewegung erhängt. In Soyinkas Gedicht wird die Totenklage entsprechend dem Titel an den russischen Dichter Joseph Brodsky adressiert. Brodsky, der 1972 wegen sogenannten „Parasitentums“ aus der Sowjetunion ausgebürgert wurde, erhielt 1987, also ein Jahr nach Soyinka, den Literaturnobelpreis und starb 1996, also ein Jahr nach der Hinrichtung Ken Saro-Wiwas.

Soyinkas Gedicht führt die zunächst einmal entlegen erscheinenden Lebens- und Leidenswege Joseph Brodskys und Ken Saro-Wiwas zusammen und umschreibt dabei immer wieder die beiden unterschiedlichen Konstellationen in ihrer jeweils spezifischen Partikularität. So beschreibt das lyrische Ich in der zweiten Strophe sein Verhältnis zu Brodsky folgendermaßen:

Die Verse geben zunächst einmal Zeugnis davon, wie auch der internationale Literatur- und Kulturbetrieb mit seinen unzähligen Lesereisen und Festivals in den Globalisierungsprozess einbezogen ist. Zugleich gestalten sie eine Erfahrung der Ortlosigkeit, eines Abgeschnitten-Seins von der Welt, die im Folgenden konkretisiert wird im Bild von Brodskys Exils als

a store-bought suit,
Not custom fitted nor ill-fitting,
Simply alien, a cast-off piece from an Oxfam store

Auch die gewaltsame Erschließung der Erdölvorkommen im Nigerdelta, gegen die Ken Saro-Wiwa sich engagierte, kommt sehr konkret zur Sprache, wenn es heißt:

The Party of the Niger Delta rules by the barrel –
Oil and gun – a marriage made in heaven

Entscheidend für die poetische Konzeption ist nun, dass einerseits Brodskys Exil und andererseits Ken Saro-Wiwas Kampf um Rechte und Lebensraum seines Volkes als einander ähnliche Konstellationen und die Unterschiede der jeweiligen lokalen Umstände als bloß oberflächliche herausgestellt werden. Diese Deutung erfolgt erstmals in der vierten Strophe des Gedichts, die mit den folgenden Versen beginnt:

Moscow is cold. Ogoni is heated space
Where fires burn all day and night and gases
Blacken fish and leaves from endless flues.
Still, death is death, and home is sometimes exile

Im Gegensatz zu Brodsky war Ken Saro-Wiwa niemals im buchstäblich-biografischen Sinne im Exil. Der Ausdruck „home is sometimes exile“ jedoch deutet die durch die Erdölförderung verursachte Umweltkatastrophe im Nigerdelta als eine dem Exil verwandte Erfahrung des Verlustes einer bewohnbaren Heimat:

Market forces write the law, rigs and derricks
Scorch the landscape, livelihood and lives,

so heißt es in der sechsten Strophe, und wenig später wird die zentrale Analogie des Gedichts noch einmal ausführlicher elaboriert:

It is the path for all named dissidents
From Chechnya to Ogoniland
[…]
[…] Some discern
The pulse within the glaciers, other a lustrous
Heartbeat in the depths of mangrove sludge.
But all believe there lives that hidden seed
Within the rancid compost of their world, a diamond
Pressed to flame from dross of timelessness.
Impervious to all else, your gaze will
Fasten on that kindred grain, a live soul
Playing truant in a mound of waste

Die drei aufeinanderfolgenden Metaphern der verborgenen Saat, des Diamanten und der lebendigen Seele verweisen allesamt auf die Imagination einer intakten lebens- und sinnstiftenden Substanz, die auch den von Diktatur, Krieg oder rücksichtsloser Umweltverschmutzung gezeichneten Orten gleichwohl innewohnt. Die Bedeutung der Dichtung bei der Aufgabe der Lokalisierung und Humanisierung des Raumes wird damit in Bezug auf zwei sehr unterschiedliche Kontexte aktualisiert, die gleichwohl beide für die Erfahrung einer extremen Prekarisierung lokaler Lebenswelten stehen. Die Funktion der lyrischen Zusammenführung dieser beiden Kontexte, die intertextuell in dem Gletscher-Bild aus Brodskys Exilgedicht „May 24, 1980“ verdichtet ist, erschöpft sich allerdings nicht in dieser inhaltlichen Analogiebildung. Vielmehr ist dieses poetische Verfahren auch für den Ausdruck der Totenklage durch das lyrische Ich von zentraler Relevanz, und hierbei ist nun gerade nicht die Ähnlichkeit entscheidend, sondern der zeitliche und räumliche Abstand. Dies wird erst in der zehnten und elften Strophe deutlich, die beide sehr ähnlich beginnen mit

I never really knew you. I cling to yours because
I own a closer death

und

I think of yours because I own that closer death
Too close to dirge, too bitter to lament

Indem sich das lyrische Ich hier noch einmal an sein Gegenüber Brodsky wendet, positioniert es sich zugleich in dem durch das Gedicht aufgespannten Raum eher in die Nähe Ken Saro-Wiwas. Diese große Nähe wird als eine schwere Bürde erfahren, die eine poetische Gestaltung der Trauer und die damit einhergehende Sinnstiftung gerade unmöglich macht. Der andere, entlegene Kontext fungiert im Gedicht zugleich als eine Möglichkeit, indirekt etwas in Worte zu fassen, das sonst nur Sprachlosigkeit hervorbringen könnte. Die Analogie ist also weniger inhaltlich als methodisch relevant für die poetische Konzeption der Totenklage. Es geht nicht nur und wohl auch nicht primär um die Gestaltung (oder gar Behauptung) einer Ähnlichkeit zwischen den beiden Schicksalen Brodskys und Saro-Wiwas, sondern auch und vor allem um die Möglichkeit, in einer räumlich und kulturell entlegenen Konstellation ein Deutungsangebot zu finden und so die Sprachlosigkeit angesichts näher liegender Erfahrungen zu überwinden. Hierin besteht der funktionale Zusammenhang der Seelenzusammenführung, wie in den folgenden Versen der vorletzten Strophe deutlich wird:

I owe that death a reckoning too close
To assuage with a brief lament. I play
The simple messenger, dared thus far
To link two kindred souls from worlds apart
In passage to the other world

Am Ende des Gedichtes wird Brodsky aufgefordert, Ken Saro-Wiwa bei der Hand zu nehmen und ins Jenseits zu geleiten. Die letzte Strophe beginnt mit den Versen:

Death that takes brutally breeds restless souls.
You’ll find him in a throng of nine, seeking landmarks

Die „Menge der neun“ spielt auf den Umstand an, dass Ken Saro-Wiwa zusammen mit acht weiteren Mitgliedern seiner Bürgerrechtsbewegung hingerichtet wurde. Der deutsche Übersetzer Klaus Laabs bezieht die Suche nach Landmarken auf Brodsky als das angesprochene Gegenüber, aber man kann darin zugleich einen Hinweis auf die neun ruhelosen Seelen erkennen. Die erlittene Gewalt würde damit ein weiteres Mal als Ortsverlust gedeutet, und Brodskys Aufgabe als Seelenführer wäre ein letztes, starkes Bild für die zentrale „poetische Idee“.

Virtuelle Nachbarschaften

Bezieht man diese Interpretation nun auf den Zusammenhang der „World Poetry“, so ergibt sich ein sehr viel komplexeres Bild, als eine schematische Gegenüberstellung von Globalität und Lokalität es nahelegt. Soyinkas Bezug auf Brodsky ist nicht als Assimilierung und koloniale Anpassung an einen internationalen Modernismus zu verstehen. Stattdessen wird die prekäre und bedrohte Lokalität selbst auf eine Weise zum Thema gemacht, die unmissverständlich klarstellt dass die lokalen Kontexte nicht etwa durch die Dichtung, sondern vielmehr von heteronomen, nationalen und internationalen, politischen und ökonomischen Kräften auf radikale Weise in Frage gestellt werden. Vor diesem Hintergrund erweist sich Globalität nicht als eine beliebige und sinnentleerende, sondern vielmehr produktive und geradezu befreiende Kategorie, indem erst die raumübergreifende Zusammenführung zweier lokaler Kontexte zu einer neuen virtuellen Nachbarschaft im Sinne Appadurais das Finden einer Sprache für die Erfahrung des gewaltsamen Ortsverlusts ermöglicht.

Wie alle anderen Techniken der Lokalisierung ist auch Lyrik nicht nur eine kontextgenerierte, sondern auch eine kontextgenerierende Praxis. Diese vollzieht sich heute zu erheblichen Teilen innerhalb einer internationalisierten und medialisierten, von vielen Formen freiwilligen wie erzwungenen Exils bestimmten diasporischen Sphäre. Somit ist es wenig überraschend, dass die poetisch erzeugten Lokalitäten und Nachbarschaften nicht mehr ausschließlich räumlich bestimmt sind. Modelle der internationalen Lyrik, die sich am Paradigma der geografischen Landkarte orientieren müssen vor diesem Hintergrund ebenso scheitern wie die von David Damrosch kritisierte Vorstellung von der Gedichtlektüre im Sinne quasi-touristischer Stippvisiten in den jeweiligen Herkunftsländern. Und die Aufgabe der Kritik scheint weniger darin zu liegen, Werke und Autoren in einem „literarischen Welt-Raum“ zu verorten. Entscheidender ist die Frage, auf welche Weise die Lyrik selbst den globalisierten Raum kartografiert und in sinnhaltige, bewohnbare Orte transformiert, die weder räumlich noch kulturalistisch determiniert sein müssen.

Wole Soyinka: Samarkand und andere Märkte. Gedichte Englisch und Deutsch.
Übersetzt aus dem Englischen von Klaus Laabs
Ammann Verlag, Zürich, 2004,
147 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN 3-250-30016-0

Zitierte Literatur

Appadurai, Arjun: „Modernity at Large. Cultural Dimensions of globalization“, Minneapolis u. a.: University of Minnesota Press, 1996.

Casanova, Pascale: „La république mondiale des lettres“, Paris: Seuil 1999.

Clarke, Gillian: „Voice of the Tribe“, in Fietz, Lothar / Ludwig, Hans-Werner / Hoffmann, Paul (Hg.): Regionalität, Nationalität und Internationalität in der zeitgenössischen Lyrik, Tübingen: Attempto, 1992.

Damrosch, David: „What Is World Literature?“ Princeton, NJ u. a.: Princeton University Press 2003.

Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): „Museum der modernen Poesie“, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1960.

Enzensberger, Hans Magnus (Hg.): „Museum der modernen Poesie“, Neuausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.

Jahn, Janheinz: „Geschichte der neoafrikanischen Literatur“, Düsseldorf u. a.: Diederichs 1966.

Owen, Stephen: „What Is World Poetry?“ In The New Republic, November 1990.

Schenkel, Elmar: „The Poet as Placemaker“, in Fietz, Lothar / Ludwig, Hans-Werner / Hoffmann, Paul (Hg.): Regionalität, Nationalität und Internationalität in der zeitgenössischen Lyrik, Tübingen: Attempto, 1992.