Zu dieser Ausgabe

Unter den modernen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gab es auch solche, die von Lyrik nicht viel hielten. Einer der verstocktesten von ihnen war Arno Schmidt. Gedichte tat er als „wohlklingendes Faseln“ ab: „Denn im Anfang der Prosa ist eben der Logos – Lyriker mögen mit ‚Genie‘ ausreichen.“ Ähnlich blasiert wirkt die Einschätzung aus dem Spätwerk „Die Schule der Atheisten“ (1972), in dem es einmal heißt, die Musik sei zwar „schön“, aber „undeutlich“.

Mit derlei Polemik gegen Kunstformen, die ihm fremd blieben, verriet Schmidt allerdings nur, dass er schlicht nicht wusste, wovon er sprach – und dass er zudem wesentliche Probleme des Schreibens nach Auschwitz nicht reflektiert hatte. Der „Logos“ der Aufklärung hatte einen Zivilisationsbruch ‚überlebt‘, der es fraglich erscheinen ließ, ob das Leiden, das dadurch entstanden war, überhaupt noch „deutlich“ darzustellen war.

Theodor W. Adorno schreibt zu diesem poetologischen Problem in seiner „Ästhetischen Theorie“: „Die Sprache avancierter Lyrik vollzieht das, und sie enthüllt ihre eigentümliche Dialektik daran. Offenbar können die Kunstwerke die Wunde, welche Abstraktion ihnen schlägt, heilen allein durch gesteigerte Abstraktion, welche die Kontamination der begrifflichen Fermente mit der empirischen Realität verhindert: der Begriff wird zum ‚Parameter‘. Aber Kunst kann, als wesentlich Geistiges, gar nicht rein anschaulich sein. Sie muß immer auch gedacht werden: sie denkt selber. Die jeglicher Erfahrung von den Kunstwerken widersprechende Prävalenz der Anschauungslehre ist ein Reflex auf die gesellschaftliche Verdinglichung. Sie läuft auf die Errichtung einer Sonderbranche von Unmittelbarkeit hinaus, blind gegen die dinghaften Schichten der Kunstwerke, die konstitutiv sind für das, was mehr als dinglich ist an ihnen.“

Dies sind nun allerdings selbst relativ ‚abstrakte‘ Gedanken, die vielen heutigen Lesern ‚ermüdend‘ vorkommen mögen. Dennoch kommt ihnen auch insofern besondere Aktualität zu, als man tatsächlich wieder überall hört und liest, Literatur müsse an ihrem ‚Realitätsgehalt‘, ihrer ‚Welthaltigkeit‘, ihrer ‚Authentizität‘ oder auch daran gemessen werden, dass sie ‚eine Geschichte erzählt‘.

Vergessen wird dabei gerne, dass es gerade auch die Aufgabe der Kunst sein kann, Dinge darzustellen, vor denen derartige ästhetische Kategorien versagen müssen. Eine weitere Formulierung Adornos aus der „Ästhetischen Theorie“ umreißt deshalb ziemlich exakt ein Problem, das auch im Lyrik-Schwerpunkt der Juni-Ausgabe von literaturkritik.de eine zentrale Rolle spielt: „Im bedeutendsten Repräsentanten hermetischer Dichtung der zeitgenössischen deutschen Lyrik, Paul Celan, hat der Erfahrungsgehalt des Hermetischen sich umgekehrt. Diese Lyrik ist durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids. Celans Gedichte wollen das äußerste Entsetzen durch Verschweigen sagen. Ihr Wahrheitsgehalt selbst wird ein Negatives.“

Die aktuelle Ausgabe unserer Zeitschrift dokumentiert einige Beiträge einer Göttinger Graduiertenkonferenz, die im Herbst 2010 stattfand und im Anschluss an Hans Magnus Enzensbergers 1960 erschienenes „Museum der modernen Poesie“ erneut nach einer „Weltsprache der Poesie“ fragte: Gibt es eine solche ,Weltsprache der Lyrik‘ überhaupt? Spielt in den Gedichten nach Auschwitz das „Schweigen“ tatsächlich eine so wichtige Rolle, wie es ihm Adorno in der „Ästhetischen Theorie“ beimaß? Und nicht zuletzt: Welche Rolle spielt das Problem der Übersetzung oder die generelle Frage der Übersetzbarkeit für moderne Konzepte von „Weltliteratur“?

Gewinnbringende Lektüren wünscht Ihnen,
Ihr
Jan Süselbeck