Vom Ormen in der Literaturwissenschaft

Gerrit Lembke schickt eine Sammelband-Gruppe auf Expedition in Walter Moers‘ Zamonien

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der für seine kritisch-witzigen Comics geschätzte Walter Moers veröffentlichte von 1999 bis 2007 fünf dicke Fantasy-Romane und erreichte damit Kult-Status, nicht nur bei überwiegend jugendlichen LeserInnen, sondern auch bei Älteren, nicht selten bei LiteraturwissenschaftlerInnen. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis die erste größere Buchpublikation zu Moers erscheinen würde; einige zum Teil veröffentlichte Diplomarbeiten waren Vorbeben des Ereignisses.

Von der Kieler Germanistik ging die Expedition aus, deren Ergebnisse im Frühjahr 2011 vorgelegt wurden und fast schon Handbuchcharakter haben. Erfreulich ist bereits die Mischung der BeiträgerInnen, vor und nach renommierten KollegInnen des Faches stehen die Namen von NachwuchswissenschaftlerInnen, die Beiträge sind durchweg auf hohem argumentativem Niveau und liefern aufschlussreiche Einblicke in die Werkstatt des Schöpfers von Zamonien – ein Kontinent, der ungefähr dort liegt, wo man früher fälschlicherweise Atlantis lokalisierte, das eigentlich die Hauptstadt von Zamonien ist, eine ins All katapultierte Megacity – doch solche Exkurse führen bereits zu weit ab vom Thema.

Zurück also zum Sammelband, den ein Beitrag des Herausgebers Gerrit Lembke eröffnet. Hier werden bereits die wichtigsten Erzählstrategien genannt, es finden sich kurze interpretierende Inhaltsangaben der Zamonien-Romane und Kurzcharakteristiken der folgenden Beiträge. Lembke ist zweifellos zuzustimmen, dass es zu den hervorstechenden Merkmalen von Moers‘ Romanen gehört, ihre Fiktionalität auszustellen und damit zu spielen. Mit Blick auf die Adaption des Frankenstein-Stoffes in „Die Stadt der träumenden Bücher“ wird festgehalten: „Ebenso wie Frankensteins Monster seine offensichtliche Konstruiertheit nie vergessen lässt, so bleiben auch die Romane Moers‘ immer als poetische Bauwerke kenntlich.“

Einige kleine Schwächen des gesamten Bandes werden bereits in diesem ersten Beitrag deutlich. Zunächst einmal versucht Lembke mit Theoriewissen zu punkten, dies geschieht aber manchmal unexakt und wirkt aufgesetzt, etwa wenn Moers attestiert wird, das umgesetzt zu haben, was Leslie Fiedler in seinem Vortrag beziehungsweise Aufsatz „Cross the border, close the gap!“ Ende der 1960er-Jahre gefordert hat. Fiedler wollte eine Nivellierung von E- und U-Literatur, um die damals noch sehr ausgeprägten Klassengegensätze aufzuheben – eine solche Absicht lässt sich den Romanen von Moers wohl kaum unterstellen. Der Große Wald in „Ensel und Krete“ und die Mythenmetz’schen Abschweifungen in dem Roman verlocken Lembke zu folgendem Exkurs: „Indem die Erzählinstanz als overt narrator immer wieder die Handlung unterbricht, tritt die Diegese hinter die Gestaltung des discours zurück und erzeugt jene ‚Lust am Text‘ (plaisir du texte), von der Roland Barthes einst schwärmte.“ Hier werden zwei unvereinbare Konzepte – Genette und Barthes, Strukturalismus und Poststrukturalismus – miteinander verbunden. Die parodistisch gebrauchte Herausgeberfiktion erzeugt zweifellos Leselust, aber Barthes meinte eine erotische Lust beim Lesen, die man hier zumindest anders theoretisch herleiten und begründen müsste.

Befremdend wirkt es zudem, dass ein ambitionierter, zum Zeitpunkt der Publikation noch nicht promovierter Nachwuchswissenschaftler die Publikation von Magister- und Diplomarbeiten pauschal als „Mode“-Phänomen abqualifiziert und die entsprechenden, zweifellos hinweisreichen erschienenen Arbeiten zu Moers nur kurz summarisch nennt, aber als eigentlich nicht publikationswürdig einstuft.

Ebenfalls finden sich in diesem Beitrag wie in anderen kleinere stilistische Unsicherheiten, hier ist es das häufige Apostroph wie im oben angeführten Zitat – statt „die Romane Moers‘“ wäre „die Romane von Moers“ sicher eleganter gewesen. Diese zweifellos beckmesserisch wirkenden Bemerkungen sollen nicht den verdienstvollen Beitrag und Band abwerten, sondern exemplarisch auf generelle Probleme in der Literaturwissenschaft verweisen, in der es üblich geworden ist, die eigene Erzählung von der Literatur (mehr als das kann auch ein literaturwissenschaftlicher Beitrag nicht sein) mit Überlegenheitsgesten und Name-Dropping anzureichern, aber vielleicht nicht genug auf die eigene stilistische Versiertheit zu achten.

Abgesehen davon legt der Band Zeugnis von der Lust an der Lektüre der Moers’schen Werke ab (hier durchaus im Sinne von Barthes), so dass es ein Vergnügen ist, sich durch die Kartografen des fiktiven Kontinents von dessen Koordinaten, Strukturen und Merkmalen unterrichten zu lassen. Sven Hanuschek zeigt, wie virtuos Moers mit Mustern der Trivialliteratur und insbesondere des Schauerromans spielt, sein wichtiger Hinweis auf das Erbe der „romantischen Ironiker erzählerischer Wirklichkeitskonstitution wie Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann“ verdient zweifellos weitere Vertiefung.

Ingo Irsigler führt vor, wie Moers einerseits Bedürfnisse des Marktes bedient und andererseits mit ihnen sein ironisches Spiel treibt. Anne Hillenbach arbeitet die Bedeutung der Intermedialität im Werk heraus und bringt sie mit der Formulierung auf den Punkt, Moers verfolge „mit seinen Romanen die Idee eines Gesamtkunstwerks“. Lembke vertieft diese Beobachtung am Beispiel der fiktiven Karten und topografischen Hinweise.

Eva Oppermann weist verblüffende Übereinstimmungen zu Lewis Carrolls „Alice“-Romanen nach, eine ihrer Feststellungen kann zweifellos für die ganzen Zamonien-Romane gelten: „Moers‘ Werke bedienen sich bei älteren, klassischen Texten auf eine Weise, die literarisch anspruchsvoll und zugleich genussvoll zu lesen ist.“ Daniel Schäbler zeigt am Beispiel der Parallelen zu Mary Shelleys „Frankenstein“-Roman auf, wie die postmoderne „Poetik des Monströsen“ bei diesem Autor funktioniert.

Soweit der erste große Teil des Bandes, in dem übergreifende Themen bearbeitet werden. Es folgen Beiträge zu den einzelnen Werken. Eva Kormann beginnt, indem sie den „Blaubär“-Roman in die Tradition der Schelmenromane stellt. Hans-Edwin Friedrich beschäftigt sich mit der Märchen-Tradition in „Ensel und Krete“, Ninon Franziska Thiem mit Paratexten im gleichen Roman, Maren J. Conrad mit der Tradition der Artus-Epik in „Rumo“ und Tim-Florian Goslar mit dem Arkadien-Motiv in „Die Stadt der träumenden Bücher“. Während die von Conrad aufgezeigten Parallelen zur mittelalterlichen Dichtung bei „Rumo“ sofort einleuchten, wirkt ihr Versuch in einem weiteren Beitrag, „Parodien poststrukturalistischer Literaturtheorien“ in „Die Stadt der träumenden Bücher“ zu identifizieren, etwas weit hergeholt. Zweifellos haben bei der Konzeption des Romans Umberto Eco und Jorge Luis Borges Pate gestanden, aber ob Moers wirklich an die doch sehr speziellen Konzeptionen von Autorschaft durch Michel Foucault und Roland Barthes gedacht hat? Mit Gerrit Lemble lässt sich „Der Schrecksenmeister“ als Palimpsest im Sinne Genettes lesen, aber auch hier stellt sich am Schluss der Lektüre die Frage, wie wichtig der theoretische Aufwand ist, wenn einem Zitat aus dem Moers-Roman, wie es abschließend heißt, eigentlich „nichts mehr hinzuzufügen“ bleibt.

Fazit: Ein sehr interessanter, gut gemachter Band mit kleinen Schönheitsfehlern und endlich ein erstes Standardwerk zu einem Autor, der trotz Bestseller-Status die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft verdient, unabhängig davon, ob man diese nun noch für zu elitär hält oder nicht – Moers‘ Romane sind so intelligent gemacht, dass sie auch den Gaumen der verwöhntesten Literatur-Gourmets munden können. Das Ormen der Beiträger – ein Moers’scher Neologismus für das Einfühlen in große Dichtung – hat also relativ gut funktioniert. Mit dem Schlusswort des Beitrags von Magdalena Drywa (zur „Konzeption von Bildung und Wissen“ im „Blaubär“-Roman) möchte daher auch ich schließen, denn der Sammelband kann als eindrucksvoller Beleg für die These stehen, dass man bei Moers ganz prägnant etwas findet, „was schon immer gute Literatur ausgemacht hat: raffinierte, geistreiche Satire auf das Erzählen selbst“.

Titelbild

Gerrit Lembke (Hg.): Walter Moers' Zamonien-Romane. Vermessungen eines fiktionalen Kontinents.
V&R unipress, Göttingen 2011.
300 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783899716771

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