„Wohin ich mich auch wende, ist sterbendes Land“

Annemarie Schwarzenbachs letzte Reise in den Orient

Von Daniel Tobias SegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Tobias Seger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Leben wie ein Sturm. Annemarie Schwarzenbach (1908-1942), drittes Kind des schweizerischen Seidenindustriellen Alfred Schwarzenbach, brennt und verbrennt von Anfang an. Ihre androgyne Schönheit irritiert und fasziniert alle, die ihr begegnen. Thomas Mann sieht sie, so erzählt Klaus Mann in seinem „Wendepunkt“, mit einer „Mischung aus Besorgnis und Wohlgefallen von der Seite an“ und neben Klaus verliebt sich auch Erika Mann in die enigmatische 23-Jährige, die letztlich jedoch immer bei sich bleibt.

Auf den zahlreichen Bildern, die von ihr aufgenommen worden sind, ist kaum einmal ein Lächeln, schon gar kein Lachen zu sehen. Die hochbegabte junge Frau – exzellente Reiterin, Pianistin, Tänzerin, promoviert mit 23, mit 21 schrieb sie ihre erste Novelle, mit 24 veröffentlicht sie ihren ersten Roman – bleibt ernst, in sich gekehrt, umgeben von einer auch heute noch schwer zu fassenden Melancholie und Trauer.

Und sie brennt: Zunächst freie Schriftstellerin in Berlin, dann hinaus in die Welt, vier Mal in den Orient, vier Mal in die Vereinigten Staaten, nach Spanien, nach Moskau, nach Afrika. Sie hat Beziehungen – nicht eben glückliche – mit Männern und mit Frauen, während des Krieges wird sie dezidierte Antifaschistin – zum Ärger ihrer Familie. Seit ihrem 24. Lebensjahr ist sie drogenabhängig: Entziehungskuren und Abstürze wechseln sich ab. 1942 stürzt sie vom Fahrrad und wird dann fälschlicherweise mit der Diagnose Schizophrenie behandelt. Das „letzte Programm“ für sie, so der sie behandelnde Arzt, sei „zusammenfassend Euthanasie“. Mit 34 Jahren stirbt Schwarzenbach in ihrem Haus im Engadin.

Keine Zeitung lässt den Tod ‚der Schwarzenbach‘ unerwähnt, war sie doch nicht nur eine anerkannte Dichterin, sondern auch eine der bedeutendsten Reiseschriftstellerinnen der Schweiz, mit Veröffentlichungen unter anderem in der „Weltwoche“ und in der „National-Zeitung“. Ihre Reportagen, lange in Vergessenheit geraten und erst in den späten 1980er-Jahren durch den Basler Lenos Verlag einer breiten Öffentlichkeit Stück für Stück wieder zugänglich gemacht, sind heute noch so lesenswert, weil sie uns stets in zwei ‚Länder‘ mitnehmen: in das jeweilige Reiseland mit seinen Landschaften, Menschen und Gebräuchen und in das innere Land der Annemarie Schwarzenbach mit seinen Träumen, Hoffnungen, vor allem aber mit seinen Ängsten und Verzweiflungen.

Dass das Reisen ein „konzentriertes Abbild unserer Existenz“ ist, wird auf eine anrührende und beklemmende Weise in den Reportagen deutlich, die im Verlauf der letzten Orientreise in den Jahren 1939/40 entstanden und von denen jetzt eine Auswahl in einer schön gestalteten und sorgfältig edierten Taschenbuchausgabe wieder greifbar sind. Wer wissen will, was es mit Annemarie Schwarzenbach auf sich hat, wer dem Rätselhaften dieses Menschen näherkommen will, der sei auf diese Reportagen verwiesen – und auf ein zweites Buch.

Die Idee zu einer Reise von Genf über Istanbul, Teheran, Herat nach Kabul entsteht bei einem Besuch der ebenfalls als Reiseschriftstellerin bekannt gewordenen Ella Maillart (1903-1997) in der Klinik in Yverdon, wo sich Annemarie Schwarzenbach zu einer Entziehungskur aufhält. Voll Enthusiasmus entschließen sich die beiden Frauen zu der Reise und machen sich nach monatelangen akribischen Vorbereitungen und ausgestattet mit einem Ford Roadster de luxe mit immerhin 18 PS und wüstentauglicher Spezialausrüstung (ein Geschenk des für seine Tochter wieder Hoffnung schöpfenden Vater Schwarzenbach) im Juni 1939 auf den Weg. Ella Maillart wird 1947, fünf Jahre nach Annemaries Tod, einen Bericht über diese Reise veröffentlichen, der 1948 unter dem recht harmlosen deutschen Titel „Auf abenteuerlicher Fahrt durch Iran und Afghanistan“ und 1988, schon weniger harmlos, unter dem Titel „Flüchtige Idylle“ erscheint. Die englische Originalausgabe heißt allerdings anders: „The Cruel Way“, in der heute greifbaren Ausgabe übersetzt mit „Der bittere Weg“, wobei auch eine Übersetzung mit „Der grausame Weg“ seine Berechtigung gehabt hätte. Es lohnt sich, Maillarts Erinnerungen neben die Reportagen Schwarzenbachs zu legen, tauchen diese dann doch ein in das grelle Licht eines ganz anderen Reisegeschehens. Maillarts Plan, ihre Freundin von der prekären politischen Lage in Europa abzulenken und sie aus der Drogensucht zu retten, geht gründlich schief. Die Dichterin will an der Welt und an sich leiden, versorgt sich in den größeren Städten heimlich und mit „irrsinniger Hemmungslosigkeit“ und „wildem Scharfsinn“ mit Kodein und taumelt spätestens in Afghanistan von einem Absturz zum nächsten: Erschöpfung, Zusammenbruch, Bronchitis, ein riesiger, kraterartiger Doppelfurunkel am Hals – das gelobte Land wird so für beide Frauen zur Hölle.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung, die in Kabul dann auch zur Trennung der schicksalhaft miteinander verbundenen Gefährtinnen führt (Ella reist weiter nach Indien, Annemarie hält sich den Herbst noch im Orient auf und fährt dann in die Schweiz zurück), lesen sich die Texte Annemarie Schwarzenbachs als berückend schöne Wechselbilder aus Hoffnung und Verzweiflung. Auf das Zusammensein mit Einheimischen im Licht des Abends im Schutze von Granatapfelbäumen, der Hoffnung, im Land der Träume angekommen zu sein und Ruhe finden zu können, folgt im Licht des neuen Tages die Ernüchterung: „Wohin ich mich auch wende, ist sterbendes Land.“

Der Hoffnung, in Afghanistan alle Wege offen und damit einen neuen Zugang zum eigenen müden Herz zu finden, folgt die Enttäuschung: „Alle Wege sind offen“, aber sie „führen nirgends hin, nirgends hin“. Eine weitere Hoffnung, von der durchgängig die Rede ist und in der man durchaus eine Theorie des Reisens en miniature erblicken kann, verbindet Schwarzenbach mit der Magie der Städte- und Ortsnamen, die für sie nicht nur geografische Bezeichnungen sind, sondern „Klang und Farbe, Traum und Erinnerung, Geheimnis und Magie“ bedeuten. Sie sollen, sucht der Reisende sie nach all den Tagträumen und Vorbereitungen endlich auf, zu „Glanz und Schatten, Feuer und Asche der Wirklichkeit“ werden, zu Orten also des festen Bodens, der Ankunft, des beruhigten Daseinkönnens. Doch im Gegensatz zu Johann Wolfgang von Goethe, der nach seiner Ankunft in Venedig die Angst vor dem ‚bloßen Wort‘ des seit Kindertagen vor sich hin gesprochenen Ortes verliert und das Rätsel der Ankunft für sich löst, bleibt für Schwarzenbach ihr „Kindheitsufer, die versprochene Erde“ verschlossen: „Mir bleibt die Magie, der Name, das wunderbar berührte Herz“ – aber, muss man hinzufügen: keine Ankunft. Was bleibt, ist, zumindest zeitweise, die Ankunft im Schreiben.

Hier gelingen Schwarzenbach präzise poetische Bilder von Menschen und Geschehnissen, die zumal den heutigen Leser daran erinnern, dass der Iran und Afghanistan nicht nur Länder des Krieges und des Terrors sind, sondern zunächst Länder mit einer jahrtausendealten Kultur und einer tief verwurzelten Menschlichkeit. Von beidem erzählt Annemarie Schwarzenbach – ohne Schwulst, ohne Sentimentalität, bisweilen sogar ironisch und witzig.

Dass ihre Schilderungen die Perspektive einer Schweizer Europäerin nur selten durchbrechen, hängt wohl damit zusammen, dass die Reportagen für den heimischen Zeitungsmarkt mit seinen Ansprüchen und Wünschen bestimmt sind, ist aber auch dem Umstand geschuldet, dass nicht nur die letzte Reise in den Orient, sondern alle Reisen Schwarzenbachs im Zeichen der Selbstfindung im Eigenen, nicht im Fremden stehen. Die Bitte an Einheimische, nicht Arabisch, sondern Französisch oder gar Deutsch zu sprechen oder die Auffassung, mit Schnittmusterbogen aus der Schweiz an der Befreiung der Frau vom Zwang der Verschleierung mitgewirkt zu haben, zeigt die bei allen Traumbildern letztlich unüberwindbare Distanz zum besuchten Land und seinen Menschen ebenso an, wie die immer wieder zur Sprache gebrachten Sorgen um das aus der Schweiz mitgebrachte Automobil.

Der Ford Roadster mit dem amtlichen Kennzeichen GR 2111 ist nicht nur das wirklich überall mitgenommene, stets kontrollierte und gepflegte Gefährt, es ist auch die Garantie, die Heimat Europa nicht zu verlieren – und auch nicht den geliebten Vater, dessen Geschenk das Auto war und dessen Tod im Jahre 1940 die Tochter fast zerstörte. Doch es gibt auch Momente der Nähe. Etwa in Istalif, wo ein Mann Annemarie an einem schönen Abend, „die Sonne hängt noch in den Zweigen des alten Baums“, eine Handvoll Nüsse schenkt und sie als Gast in seinen Garten und an sein Feuer bittet. Ob die soeben über ihr Fremdsein nachdenkende Dichterin eingetreten ist, wird nicht berichtet. Vermutlich ja, aber ohne den Garten als Vorschein des Paradieses zu begreifen, in dem es 40 Traubensorten gibt, wie an anderer Stelle geradezu irritiert festgehalten wird. Das „wunderbar berührte Herz“ bleibt stets eingefärbt und kontrolliert von der Trauer darüber, dass im „gehäuften Maas der Fremde“ keine Ankunft sein kann und der „starre Schmerz des Abschieds“ jeden Tag, mit jeder neuen Abreise spürbar wird.

Titelbild

Ella Maillart: Der bittere Weg. Mit Annemarie Schwarzenbach unterwegs nach Afghanistan.
Übersetzt aus dem Englischen von Carl Bach.
Lenos Verlag, Basel 2003.
277 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 3857876638
ISBN-13: 9783857876639

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Annemarie Schwarzenbach: Alle Wege sind offen. Die Reise nach Afghanistan 1939/1940.
Lenos Verlag, Basel 2011.
169 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783857877490

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