Schlimmer geht’s immer

Nathanael West verkehrt in seinem Roman „Eine glatte Million“ den amerikanischen Traum in sein Gegenteil

Von Philipp HammermeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Hammermeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lemuel Pitkin ist ein Held von der allerkomischsten und zugleich allertraurigsten Gestalt. Im Wirtschaftskrisen-Amerika der 1930er-Jahre taumelt er von einem Unglück ins nächste, um dabei nicht nur sein Geld, sondern auch seine Zähne, ein Auge, seinen Skalp, einen Daumen und ein Bein zu verlieren. Allein sein unerschütterlicher Glaube an eine grundgute Welt und sein erfahrungsresistenter Optimismus bleiben ihm bis zum bitteren Ende erhalten. Er ist ein Schelm mit den allerbesten Absichten, „Eine glatte Million“ zu seinem Unglück aber eine perfide Variante des klassischen Schelmenromans, die für den Helden nur das Allerschlimmste vorhält.

Wie alle Geschichten vom amerikanischen Traum beginnt auch diese hier ganz unten in einfachsten Verhältnissen. Die Hypothek auf das Haus der verarmten Witwe Pitkin wird fällig und so macht sich ihr Sohn Lemuel mit den letzten 30 Dollar auf den Weg nach New York, um dort sein Glück und den großen Reichtum zu suchen. Lemuels Weg aber führt nicht mehr oder weniger kontinuierlich bergauf, sondern in einem atemberaubenden Tempo immer weiter bergab in nicht für möglich gehaltene Tiefen. Noch im Zug wird er ausgeraubt, verwechselt und verhaftet. Statt in New York findet er sich plötzlich im Zuchthaus wieder, wo er nach einem abstrusen Urteil auch die weiteren 15 Jahre verbringen soll. Und sein Pech strahlt auch auf andere ab, denn seine Freundin Betty wird unterdessen vergewaltigt, entführt und zur Prostitution gezwungen. Was anfangs noch wie eine weitere Spielart des amerikanischen Tellerwäscher-Mythos gewirkt haben mag, entpuppt sich plötzlich als dessen bitterböse Karikatur. Den Untertitel des Buches – „Die Demontage des Lemuel Pitkin“ – gilt es also, ernst zu nehmen.

Lemuels treuer Begleiter auf seinem allmählichen Abstieg ist „Shagpoke“ Whipple, Ex-Präsident der Vereinigten Staaten, Privatbankier und glühender Patriot, der allabendlich in seinem Garten vor der amerikanischen Flagge salutiert. Er war es, der Lemuel unter Berufung auf die sprichwörtlich unbegrenzten Möglichkeiten in Amerika erst zu seinem Aufbruch ermutigt hat. Und er ist es auch, der sich seiner nach der Entlassung aus der Haft wieder annimmt. Das Bankengewerbe hat er zwar mittlerweile aufgeben müssen, weil jüdische Spekulanten und antiamerikanische Gewerkschafter ihn in den Ruin getrieben hätten. Dafür aber feiert er mit seiner Nationalrevolutionären Partei große Erfolge bei den Arbeitslosen und Wirtschaftskrisenverlierern. An seiner Seite scheint Lemuels Geschichte für einen kurzen Moment doch noch eine glückliche Wendung zu nehmen, doch bei Nathanael West hat Glück nur die Funktion, den rasanten Niedergang kurzzeitig zu verzögern.

In der Folge wird Lemuel von politischen Gegnern entführt, von Zuhältern gequält und von Indianern skalpiert. Er wird als Rummelsensation ausgestellt, von Trickbetrügern ins Gefängnis gebracht und dort von seinem jüdischen Strafverteidiger beraubt. Er wird getäuscht und geschunden, erniedrigt und ausgenutzt und verliert dabei doch zu keiner Zeit seinen Optimismus und seinen unbedingten Glauben an das Gute im Menschen. Im Gegenteil sogar, über jede noch so falsche Zuneigungsbekundung kann er sich mit entwaffnender Ehrlichkeit freuen, auf jedes noch so hinterhältige Angebot begeistert eingehen. Sein rührend naiver Wille, unbedingt anständig bleiben zu wollen, steht im größtmöglichen Widerspruch zum Lug und Trug seiner Umgebung.

All das wird dem Leser in einem nonchalanten Tonfall präsentiert, dessen Beiläufigkeit so gar nicht zum dargestellten Geschehen passen will. Gelassen geht der Erzähler auch über größte Untaten hinweg, beinahe augenzwinkernd leitet er von einem Unglück zum nächsten. Diese Diskrepanz zwischen der Ungeheuerlichkeit der Erzählung und dem Gleichmut ihrer Darbietung wirkt verwirrend und anfänglich geradezu skandalös. Sie birgt aber auch das zutiefst komische Potenzial des Romans. Die so ungerechte Demontage eines einfachen und aufrichtigen Mannes wird bei West zu einer amüsanten Satire, die weit über sich hinausweist.

Es ist dabei das Verdienst des Übersetzers Dieter E. Zimmer, die zahlreichen Anspielungen und Intertexte des Romans in einem lesenswerten Nachwort aufzudecken. Er zeigt, dass es sich bei „Eine glatte Million“ nicht nur um einen ins Negative gewendeten Schelmenroman handelt, sondern dass West auch ganz bewusst gegen die simplifizierenden Bestseller von Horatio Alger anschrieb – und sich dafür dessen Mittel bediente. Algers Groschenromane trugen Titel wie „From Canal Boy to President“ oder „From Farm Boy to Senator“ und vermittelten vor allem jungen Männern vom Rande der Gesellschaft einfache Wahrheiten und die trügerische Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Lemuel Pitkin wäre in seiner Beharrlichkeit und seiner unerschütterlichen Vertrauensseligkeit ein Held ganz nach Algers Geschmack gewesen. Doch West verkehrt dessen utopisches Aufstiegszenario in sein nicht minder utopisches böses Gegenteil.

Obdach- und mittellos erreicht Lemuel schließlich doch New York. Sein skurriles Aussehen voller Prothesen verhilft ihm zu einer Anstellung in einer Bühnen-Show, in der zwei Spaßvögel ihm zur Publikumsbelustigung die Ersatzteile vom Körper hauen. Doch auch aus dieser misslichen Lage befreit ihn ein letztes Mal „Shagpoke“ Whipple. Der Gründer der Nationalrevolutionären Partei, der mittlerweile reichlich diktatorische Züge angenommen hat, fordert ihn auf, seine Publikumsgunst für politische Propaganda zu nutzen. Also steht der arme Lemuel schlussendlich doch noch auf der großen Bühne, Ruhm und Ehre greifbar nah vor seinem noch verbliebenen Auge – um dann von einem russischen Agenten erschossen zu werden, bevor er auch nur den ersten Satz seiner Rede beenden kann. So endet diese Geschichte der Verwechslungen und Missverständnisse mit einer letzten bitterbösen Pointe, wenn Lemuel, dieser so anständige Held von trauriger Gestalt, als unfreiwilliger Märtyrer den Aufstieg der amerikanischen Faschisten beschleunigt.

West mag der Nachwelt – wenn überhaupt – eher als Drehbuchschreiber Hollywoods, denn als Romancier in Erinnerung geblieben sein. Das schmale erzählerische Werk des bereits 1940 jung Verstorbenen ist dabei aber von einer sprachlichen Raffinesse und abgründigen Komik, die ihn im Nachhinein als Klassiker der modernen Literatur ausweisen. Während sein erfolgreichstes Werk, „Der Tag der Heuschrecke“, als bestes weil besonders desillusionierendes Buch über Hollywood gilt, ist „Eine glatte Million“ bislang nur wenig beachtet worden. Dabei zeugt gerade diese kurze Erzählung von Wests schriftstellerischen Fertigkeiten. Ganz beiläufig, in einfachen Worten und lakonischen Sätzen dekonstruiert er den amerikanischen Mythos der unbegrenzten Möglichkeiten und zeigt, dass das Recht auf bedingungslose Selbstverwirklichung auch die Gefahr einschließt, gnadenlos scheitern zu können.

Titelbild

Nathanael West: Eine glatte Million. Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Dieter E. Zimmer.
Manesse Verlag, Zürich 2011.
220 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783717522324

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