Wir aus dem Heim gehen nie verloren

In „Waisenhausgasse 5“ erzählt der tschechische Schriftsteller Edgar Dutka von seiner Zeit in einem tschechoslowakischen staatlichen Kinderheim, in das er Ende der 1940er-Jahre eingewiesen worden war

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gleich in der ersten Geschichte ist es noch die Mutter, die den gerade nach Hause kommenden Ben an der Haustüre abpasst und ihn ohne Kommentar sofort wieder wegschickt: „Lauf weg!“. Es war bereits später Abend und der 7-jähige Ben hatte eigentlich Vorwürfe über sein zu spätes Eintreffen erwartet. Aber daß zuhause irgendetwas nicht in Ordnung war, hatte er bereits festgestellt: „Und nun leuchteten diese Kellerfenster und auch die sperrangelweit offene Blechtür auf irgendwie seltsame Weise ins Dunkel ihrer Straße“.

Als Ben sich später einfindet, klärt ihn die fünf Jahre ältere Schwester Klaudia auf. Die Mutter war von der Polizei abgeholt und die gesamte Wohnung auf den Kopf gestellt worden. Sogar Bens Schultasche war durchwühlt und ausgeleert worden: „Nichts war wie zuvor“! Auf die Rückkehr der Mutter warten sie vergeblich.

Bald schon kommen zwei Beamte und bringen die Kinder in ein Waisenhaus, das als „Kinderheim“ umbenannt worden war. Eine völlig neue Welt sollte sich vor den Kinder auftun: „Das Kinderheim befand sich am anderen Ufer, jenseits des Flusses, in einer von Holunderbüschen überwucherten Sackgasse“.

Dutkas kurze Prosastücke berichten von den Erlebnissen Bens und den Abenteuern mit anderen Kindern in diesem Waisenhaus. Es ist vorprogrammiert, dass erotische Vorkommnisse nicht ausbleiben, wenn Jungen und Mädchen vor und während der Pubertät auf engem Raum gemeinsam leben.

Von Intimität kann dabei keine Rede sein. Sämtliche Vorgänge des täglichen Lebens spielen sich zwischen den allgegenwärtigen Leiterinnen auf der einen Seite und der hellwachen Aufmerksamkeit der anderen Kinder im Heim auf der anderen Seite ab. Für sensible Seelen bleibt da wenig Raum, die Sprache, auch der Kinder untereinander, verwildert.

Und dennoch finden sich auch Reste von freundschaftlichen Gesten und sogar Beziehungen. Ben erlebt Streiche und schwänzt die Schule. Mit von der Partie sind seine Kameraden Tuttela, Jura oder Zdenek. Eine lakonische Schnoddrigkeit hilft, die eigene Unsicherheit hinter einer Maske vorgetäuschter Souveränität zu verbergen. Damit kann man den schreienden Aufseherinnen entgegensehen, wenn man wieder etwas ausgefressen hatte.

Geben und Nehmen sind im Waisenhaus ebenso spannungsgeladene Vorgänge wie der Unterschied zwischen mein und dein. Einmal darf Ben den Garten seiner Tante besuchen und er versteckt sich, um schnell und heimlich Erdbeeren zu vertilgen. Doch dann pflückt der Onkel eigenhändig welche für Ben, bietet sie ihm direkt an und Ben kann sich gar nicht vorstellen, dass dies ernst gemeint war. So feine Erdbeeren, die man ohne List und Kampf genießen darf. „‚Was ist los mit dir, Ben? Warum heulst du? Was hast du denn?‘, sagte der Onkel. ‚Ich heule nicht‘, sagte ich. ‚Danke‘“.

In einem kurzen Nachwort berichtet der 1941 geborene Regisseur, Drehbuchautor und Schriftsteller Dutka, wie es zu diesen Aufzeichnungen gekommen ist. Als Erwachsener hatte er sogar einmal eine Reise hin zur Waisenhausgasse 5 unternommen, ausgelöst durch eine vergilbte Fotografie, die er durch Zufall im Schrank entdeckt hatte.

Ein luzider Vorgang, der den Leser unwillkürlich an eine der in diesem Buch versammelten Geschichten denken lässt. In dieser war Ben zu einem merkwürdigen Schluss gekommen: „Wir aus dem Heim, wir gehen nie verloren. Und wenn wir uns zufällig verlaufen, dann freuen wir uns darüber. Wie damals, als Zdenek und ich uns im Ebergehege verlaufen haben. Weil es das Schönste von allem ist, den Heimweg zu suchen“.

Der vorliegende Band ist nicht das erste Buch, das Julia Hansen-Löve ins Deutsche übertragen hat. Neben Prosa hat sie auch mit sensiblem Sprachsinn tschechische Poesie übersetzt. Dabei verwendet sie mit Vorliebe österreichische Idiome und Begriffe wie „Ribiseln“ für „Johannisbeeren“ oder „Gelsen“ für „Stechmücken“. Auf unfreiwillige Weise gerät somit die exotische Fremdheit der geschilderten Begebenheiten zu einem nostalgischen Erlebnis.

Titelbild

Edgar Dutka: Waisenhausgasse 5. Prosa.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Julia Hansen-Löve.
Wilhelm Braumüller, Wien 2011.
240 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783992000425

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