Geist und Gebärde einer Beichte

Mit dem „Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln“ ist nach Jahrzehnten wieder ein Schlüsseltext des russischen Geisteslebens verfügbar – hervorragend aufbereitet von Fritz Mierau

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Russland ist bekanntermaßen das größte Flächenland auf der Erde. In der russischen Literatur wie auch in der Malerei nehmen die weitläufigen Räume einen entsprechenden Platz ein. Zugleich findet sich paradoxerweise aber auch ein Phänomen in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts, dass die Inszenierung äußerster räumlicher Beengtheit mit einem Höchstmaß an geistiger Aufmerksamkeit einhergeht.

In Alexander Solschenizyns „Erster Kreis der Hölle“ etwa sind es drei politische Häftlinge, die sich im Sondergefängnis „Scharaschka“ unter widrigen Umständen zusammengefunden haben und sich ihre Sicht auf die Dinge nicht nehmen lassen. Der „Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln“ wiederum ist den verworrenen Umständen der nachrevolutionären Zeit der 1920er-Jahre geschuldet. Die beiden einander gut bekannten Schriftsteller Michail Gerschenson (1869-1925) und Wjatscheslaw Iwanow (1866-1949) sind in Moskau in ein staatliches Erholungsheim eingewiesen, wo sie sich eine kleine Kammer teilen müssen.

Ein gemeinsames Leben auf kleinstem Raum bringt unweigerlich Konflikte mit sich, die sich im vorliegenden Falle bezeichnenderweise das kultivierte Ventil einer schriftlichen Reflexion gewählt haben.

Wjatscheslaw Iwanow, der symbolistische Dichter, hat diesen Briefwechsel eröffnet. In freundschaftlicher Provokation möchte er seinen Zimmergenossen ermuntern, dem er unterstellt, „vom Zweifel an der persönlichen Unsterblichkeit und an dem persönlichen Gott erfasst worden“ zu sein. Symptomatisch für diesen Briefwechsel ist dieser erste Satz, der ohne Umschweife zu ernsthaften Fragestellungen kommt.

Michail Gerschenson, Literaturhistoriker und Kulturphilosoph, verneint zwar diesen Anwurf seines Kollegen, plädiert aber für ein Schweigen über derlei Fragen. Er gibt sich skeptisch, was die ganze Überlieferung eines kulturellen Gedächtnisses betrifft: „alle geistigen Errungenschaften der Menschheit, aller im Laufe der Jahrhunderte gesammelte und gesicherte Reichtum an Einsichten, Kenntnissen und Werten sind mir in letzter Zeit lästig, wie ein verdrießliches Joch, wie eine allzu schwere, allzu warme Kleidung“.

Ohne jeden Zweifel findet dieser Briefwechsel in Zeiten eines außergewöhnlichen wie außerordentlichen geschichtlichen Umbruchs statt. Alles Bisherige scheint in Zweifel gestellt und Gerschensons Gesten sind nicht ohne Grund müde und lustlos. Dennoch sprühen seine, wenn auch erzwungenen, Antworten nicht weniger vor geistiger Gewandtheit, wie die Anregungen seines Zimmernachbarn. Souverän bewegen sich beide Briefpartner in den Gefilden der Mythologie, Theologie und auch Philologie, ihr Austausch ist eindrucksvoll von europäischer Kulturgeschichte imprägniert.

Der Briefwechsel endet ohne konkretes Ergebnis. Die Tatsache allerdings, dass beide Autoren bei all dem Trennenden in der Lage sind, sich gegenseitig auf hohem Niveau mitzuteilen, stellt ein kulturelles Paradigma dar, das sich fundamental vom herrschenden Zeitgeist der jungen Sowjetunion unterscheidet.

Fritz Mierau, der renommierte Slavist und Übersetzer, hat seine bestechende Einführung zu diesem Bändchen nicht von ungefähr mit „Ein Jahrhundertbriefwechsel“ überschrieben: „Aber nicht Ehrgeiz und Methode gelehrten Streits – Geist und Gebärde der Beichte sind es, denen diese hochgemute Zwiesprache eines fernen Moskauer Sommers ihr Jahrhundertmaß verdankt“.

Insgesamt liegen zwölf Briefe vor. Zusätzlich sind noch zwei Briefe von Wjatscheslaw Iwanow aufgenommen worden, die dieser ein Jahrzehnt später als Emigrant in Rom verfasst hatte, um Auskünfte über diesen Briefwechsel zu geben. Der frühere Berater von Michail Gorbatschow, Anatolij Tschernjajew, hatte im Jahr 2009 in einem Interview über das diktatorische System der ehemaligen Sowjetunion eine bemerkenswerte Feststellung gemacht: „Das Paradox bestand darin, daß der sowjetische Staat einerseits kritische Literatur unterdrückte. Andererseits aber entschied er, die Werke der großen russischen Klassiker aus dem 19. Jahrhundert im Schulunterricht weiterzugeben. So erzog er die Leute zu hohen menschlichen Qualitäten: Mut, Treue, Freundschaft, Liebe“.

Nach der Veröffentlichung im Jahr 1922 in Moskau konnte dieser Briefwechsel erst ab 1989 wieder offiziell in Russland erscheinen. Der vorliegende „Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln“ gibt somit zudem Auskunft und Einblick über ein waches kulturelles Gedächtnis in Russland, das auf hohem reflektorischem Niveau über Jahrzehnte gepflegt worden ist, wenngleich auch oft genug nur im Windschatten einer ideologisierten Öffentlichkeit.

Titelbild

Fritz Mierau (Hg.) / Wjatscheslaw Iwanow / Michail Gerschenson: Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln.
Übersetzt aus dem Russischen von Nikolai von Bubnoff.
Pforte Verlag, Dornach 2008.
132 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783856362140

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