Männliche Natur und Weibliche Zivilisation

Von Primaten, Potenten und Playern

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Der fleischfarbene, erigierte Penis biegt sich ein wenig nach links. Sein stolzer Besitzer schaut über den Betrachter hinweg nach rechts oben. Der derart abgebildete Potenzprotz, Chef einer Horde, will damit – so steht es unter dem Foto – seine Artgenossen beeindrucken. Die Geschichte, zu der dieses Bild gehörte, stand unter der Überschrift „Affen wie du und ich“ und berichtete über aktuelle Ergebnisse der Erforschung „Großer Menschenaffen“, wie die Gorillas, Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans zusammenfassend bezeichnet werden. Eindrucksvoll eingeleitet wurde der Text durch sechs ganzseitige Bilder des Fotografenpaars Heidi und Hans-Jürgen Koch. Die gelernte Sozialarbeiterin und der auf Verhaltensforschung spezialisierte Biologe müssen sich lange Zeit im Zoo Krefeld aufgehalten haben, um solche einfühlsamen Porträts machen zu können. Ihr opulenter Bildband von 2008, „Animal Affairs“, mit dem nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus dem bisherigen Schaffen der vielfach preisgekrönten Tierfotografen dokumentiert wird, war 2010 für den Deutschen Fotobuchpreis nominiert worden.

Ich hatte das Heft Nummer 21 des Magazins „Stern“ im Zug gefunden, jemand hatte es dort liegen gelassen. Auch wenn ich selbst in den Jahren 1991 bis 1993 vier große Reportagen für das Hamburger Magazin schreiben durfte, lese ich es schon länger nicht mehr – man kann einfach nicht alles lesen. Neugierig geworden auf diese Ausgabe war ich jedenfalls, weil mich die knalligrote Titelüberschrift, „Im Zweifel für den Angeklagten?“ über dem schwarz-weißen Foto des entschlossen über den Betrachter hinweg blickenden Journalisten Jörg Kachelmann anzog.

Über vier Geschichten dieser einen Ausgabe und meine dadurch angeregten Gedanken möchte ich – zum Beginn des dritten Jahrgangs dieser Glosse – in drei Kapiteln schreiben.

Primaten

Der promovierte Physiker und ambitionierte Hamburger Maler Horst Güntheroth berichtet in seinem „Stern“-Artikel davon, dass den Affenforschern eigentlich nur an einem einzigen Affen wirklich gelegen ist: dem homo sapiens. Es sei dieser „pelzlose Zweibeiner“ unter seinen behaarten Verwandten, der immer wieder aufs Neue die Frage aufwerfe, was ihn von jenen anderen Großen Menschenaffen unterscheide, was also seine angebliche „Sonderstellung“ in dieser Gruppe der Säugetiere ausmache. Da ich selbst vor nicht allzu langer Zeit an dieser Stelle der Frage nachzugehen versuchte, warum dieser Pelzlose so verzweifelt darum bemüht zu sein scheint, den wenigen Pelz, der ihm noch geblieben ist, auch noch loszuwerden, las ich diese Geschichte zuerst.

Der Artikel verwirft alle jene liebgewordenen Mythen, die wir noch in der Schule gelernt hatten: Werkzeuggebrauch, (sprachliche) Kommunikationsfähigkeiten, Gefühlsvielfalt. In allen diesen Feldern sind unsere so nahen Verwandten, deren Genom sich gerade mal in nur 1,3 Prozent von dem des Menschen unterscheidet, nicht verschieden von uns, sondern überaus ähnlich. Man muss es sich immer wieder vor die ungläubigen Augen halten: 98,7 Prozent des biologischen Erbgutes teilen wir Menschen mit den Großen Menschenaffen. Wenn Charles Darwin solche Techniken bereits zur Verfügung gehabt hätte, wäre es in jenem legendären Streitgespräch der British Association for the Advancement of Science an der Universität Cambridge im Juni 1860 zwischen seinem Freund und Unterstützer des Evolutionsgedankens, Thomas Huxley, und dem Bischof von Oxford, Samuel Wilberforce, wesentlich leichter gewesen, Darwins Hypothesen zu verteidigen. Wir sind mit den Affen verwandt!

Vor allem das 1997 gegründete Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie geht systematisch der Frage nach, was diese Tatsache der engen genetischen Verwandtschaft zwischen Mensch und Menschenaffe bedeutet. Seine über 400 Mitarbeiter haben es sich zum Ziel gesetzt, „die Geschichte der Menschheit mithilfe vergleichender Analysen der Verschiedenheit von Genen, Kulturen, kognitiven Fähigkeiten, Sprachen und sozialen Systemen vergangener und gegenwärtiger menschlicher Populationen sowie Gruppen dem Menschen nahe verwandter Primaten zu untersuchen. Die Zusammenführung dieser Forschungsrichtungen soll zu neuen Einsichten in die Geschichte, die Vielfalt, die Anpassungen und die Fähigkeiten der menschlichen Spezies führen.“

Ich gebe es zu, beim Durchsehen der Namen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die dieser spannenden Fragestellung in Leipzig derzeit nachgehen, war ich ein wenig betrübt, feststellen zu müssen, dass keine einzige Person genannt wird, bei der „Sociology“ steht, dafür fast durchgängig „Developmental Psychology“, „Evolutionary Genetics“, „Primatology“ und „Linguistics“. Hat weder die Soziologie noch die Geschichtswissenschaft wirklich nichts über die Verschiedenheit von Kulturen und sozialen Systemen vergangener und gegenwärtiger menschlicher Populationen zu sagen? Das Präsidium der Max-Planck-Gesellschaft muss es wohl so gesehen haben.

Der „Stern“-Bericht bezieht sich vor allem auf die Forschungsergebnisse eines der insgesamt fünf MPI-Direktoren, dem US-amerikanischen Psychologen Michael Tomasello. Er bezeichnet als den ganz entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Menschenaffe, dass der Mensch „nachäfft“! Der Mensch, so wird Tomasello zitiert, lerne von anderen Menschen, kooperiere intellektuell, er teile sein Wissen. Erwachsene geben ihr Wissen an Kinder weiter, jede Generation an die nachfolgende. Niemand müsse das Rad neu erfinden, die Fugen von Johann Sebastian Bach müssen nur noch nachgespielt werden, wie das Internet funktioniert, steht fest, es kann nur noch verbessert werden. Das kumulierte Wissen der Menschen liefert die Basis für neue Ideen, die uns wiederum weiterbringen. Tomasello nennt das „Wir-Intentionalität“: Darunter versteht er, dass wir „mit anderen zusammen an kooperativen Aktivitäten mit geteilten Zielen und gemeinsamen Absichten“ arbeiten. Die Menschenaffen jedoch, so sagt der Leipziger Professor, können das nicht: Sie basteln allein, sie bewahren ihr individuelles Wissen für sich, sie setzen es ganz individuell ein bei ihrem Überlebenskampf in freier Wildbahn, sie kämpfen um diesen kleinen Vorsprung vor den Artgenossen.

Ich gebe es zu: Der subversive Gedanke streifte mich kurz, ob Professor Tomasello, dieser eine homo sapiens also, wohl sein ganzes Wissen auch wirklich mit allen Mitgliedern des Instituts teilt, oder auch nur mit denen seines eigenen „Department of Developmental and Comparative Psychology“; oder ob er nicht vielleicht auch seinen sehr individuellen Wissensvorsprung bei seinem nächsten Forschungsantrag zu seinem ausschließlich persönlichen Nutzen einzusetzen weiß? Ich würde es ihm nicht übelnehmen, ich würde es gut verstehen, aber ich hätte dann eben doch meine Zweifel, ob wir Menschen wirklich so verschieden sind von den Gorillas, den Schimpansen, den Bonobos, den Orang-Utans. Unsere „freie Wildbahn“ sieht zwar ein wenig anders aus als das „natürliche“ Biotop der Großen Menschenaffen in Ostafrika, wo gegenwärtig nur noch 700 Berggorillas um ihr Leben kämpfen. Aber auch in Labors, Hörsälen, Konferenzzentren, Plenarsälen und an Kabinettstischen wird oft um nicht ganz unerhebliche Platzvorteile gekämpft.

Potente

Die Affengeschichte machte mit dem Porträt eines ausgewachsenen Gorilla-Mannes auf: Die Bildunterschrift informierte darüber, dass dieser gewaltigste aller Primaten ein direktes Anstarren als Provokation wertet, darum sei die übliche Verhaltensweise in Konkurrenzsituationen der „abschätzende Seitenblick“. Und zu diesem eindrucksvollen Blick des schwarzen Riesen kam das Bild vom Potenzprotz, der mit seinem blassen Phallus seine Artgenossen beeindrucken wollte.

Georges Tron, Anthony Weiner, Dominique Strauss-Kahn, Jörg Kachelmann, Julian Assange, Silvio Berlusconi, Roman Polanski, Bill Clinton: So allmählich verliert man(n) leicht den Überblick, was diese ausgewachsenen Menschen-Männer und ihr Verhalten angeht. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Es geht immer um Macht, um Gewalt, um Sex. Von allen diesen Männern müssen wir lesen, dass sie sich – angeblich oder tatsächlich – gewaltsam Sex geholt haben. Ob es nun stimmt oder nicht, ist erst einmal unerheblich. Der „Stern“ berichtete in der besagten Ausgabe über den Kachelmann-Prozess auf insgesamt zehn Seiten unter der Überschrift „Das Wort hat das Gericht“, über den Fall Strauss-Kahn – Überschrift: „Eine geile Story“ – auf insgesamt vier Seiten.

Es ist gewiss reiner Zufall – schon weil die jeweiligen Menschen-Männchen den „Stern“-Artikel über die Affen-Männchen nicht haben lesen können – aber schmunzeln kann man schon, wenn man feststellt, dass der Blick des Jörg Kachelmann auf dem Titelbild und dem Aufmacherbild kein direkter Blick ist, sondern ein leicht abfälliger Blick über den Fotografen hinweg; und auch der Blick des Dominique Strauss-Kahn – im Moment der Aufnahme immerhin noch Generaldirektor des Internationalen Währungsfonds – auf seinen Verteidiger Benjamin Brafman bei der ersten Vorführung vor der New Yorker Haftrichterin kann nicht anders als „abschätzend“ genannt werden. Solche Alpha-Männchen mit dem grauen Rücken lassen sich nicht so schnell um ihr Selbstwertgefühl bringen. Sexuelle Nötigung oder gar Vergewaltigung sind Anschuldigungen, mit denen sie seit langem zu leben gelernt haben.

„Das Geld, die Frauen und mein Judentum“ seien jene drei Gefahren, die ihm bei seiner geplanten Kandidatur für das Präsidentenamt Frankreichs drohen könnten, soll Strauss-Kahn in einem Hintergrund-Gespräch noch im April 2011 mit Redakteuren der Tageszeitung „Libération“ gesagt haben. Ja, so soll er ausgeführt haben, „ich liebe die Frauen“. Und plötzlich erscheinen sie auf den diversen Polizeistationen, jene Frauen, die „DSK“ alle sexuell bedrängt oder vergewaltigt haben soll. Die Journalistin Tristane Banon, die er angeblich 2002 auszuziehen versucht haben soll, und deren Mutter jetzt medial verbreitet diagnostiziert: „Für mich ist Dominique Strauss-Kahn krank.“ Die Geschichte mit „Piroska“ aus dem Jahr 2008 wurde detailfreudig aufgewärmt, bei der DSK seiner damaligen Mitarbeiterin, der Ungarin Piroska M. Nagy – für die die Pariser Korrespondentin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Michaela Wiegel, die mir bis dato unbekannte Charakterisierung als eine „wohlgestalte Mitarbeiterin“ benutzte – „unangemessene Avancen“ gemacht habe und die selbst von einem „One-Night-Stand“ mit ihrem Chef sprach, – aber erst nachdem sie nach London zur „European Bank for Reconstruction and Development“ auf einen guten Posten abgeschoben worden war.

Es ist nicht leicht, dem medialen Bombardement über alle diese „Fälle“ zu entgehen, auch „Qualitätsblätter“ scheinen sich der (selbstproduzierten?) Erwartung nicht entziehen zu können oder wollen, ausführlich darüber zu berichten. Allein der journalistische Kampf von vier deutschen Journalistinnen in der Causa Kachelmann könnte Mediengeschichte schreiben: Alice Schwarzer, Jahrgang 1942 („Emma“), Gisela Friedrichsen, Jahrgang 1945 („Spiegel“), Patricia Riekel, Jahrgang 1949 („Bunte“) und Sabine Rückert, Jahrgang 1961 („Die Zeit“) beherrschten für Monate eine öffentliche Arena, die wir Medienkonsumenten nur mit Staunen verfolgen konnten. Wer ernsthaft glaubt, dass das Mannheimer Landgericht und sämtliche jener zahllosen Menschen, die während der über 40 Verhandlungstage dort ihre Auftritte und Aufgaben zu erfüllen hatten, sich dieser medialen Begleitung entziehen konnten, lebt in einer Traumwelt.

In diesem Prozess ging es, wie in den weiteren genannten Fällen, um den intimsten Bereich zwischen Mann und Frau, um Sexualität und die schwierige Frage, wann sie (noch) erwünscht und wann (schon) erzwungen ist. Im Jahr 2010 wurden in Deutschland 7.724 Fälle von sexuellen Übergriffen angezeigt. Jährlich werden, so berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, in Frankreich circa 75.000 Frauen vergewaltigt. Vergegenwärtigt man sich diese Zahl, so lässt sich nachempfinden, warum etwa 3.000 Frauen (und Männer) am 22. Mai 2011 in Paris gegen die Verteidiger von Dominique Strauss-Kahn demonstrierten, denen sie vorwerfen, ohne jedes Mitgefühl für das mutmaßliche Verbrechensopfer zu sein. Ähnliche Einschätzungen, die zumeist systematisch verharmlosen – Jack Lang, der ehemalige Kultur- und Bildungsminister Frankreichs: „Es hat keine Toten gegeben.“ – finden sich vielfach auch in Deutschland wieder.

Nach einer Studie für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom Sommer 2004 hat mindestens jede vierte Frau (25%) im Alter von 16 bis 85 Jahren, die in einer Partnerschaft gelebt hat, körperliche (23%) oder – zum Teil zusätzlich – sexuelle (7%) Übergriffe durch einen Beziehungspartner ein- oder mehrmals erlebt. Die meisten Frauen schweigen darüber, vor allem wenn es sich um Vergewaltigung im Beziehungsumfeld handelt. Sie wissen, dass sie in Beweisnot geraten können, wenn sie nicht schwerste Verletzungen oder einen Zeugen vorweisen können. Von der seelischen Erniedrigung durch erzwungenen Sex wird vor Gerichten nur selten als Straftatbestand gesprochen. Erzwungener Sex durch Partner oder Ehemänner ist kein Unterschichtenproblem, sondern spielt sich in allen gesellschaftlichen Kreisen ab. Die meisten Anzeigen von Frauen wegen sexueller Übergriffe verlaufen im Sande, weil eine Gewalttat gerade im Beziehungsumfeld schwer zu beweisen ist. Vergewaltigung in der Ehe gilt erst seit 1997 als schwere Straftat. Deutliche Abwehrhandlungen sind übrigens nicht nötig, es reicht, wenn eine Frau zeigt oder sagt, dass sie nicht will. Der bisherige Ausgang des Kachelmann-Prozesses wird möglicherweise viele Frauen abschrecken, erzwungene Sexualität in einer Beziehung, wie immer sie geartet ist, anzuzeigen. Denn in einem Prozess wird ihr vielleicht nicht nur nicht geglaubt, sondern sie wird als rachsüchtige Täterin stigmatisiert. Man fragt sich: Was mag für eine Frau schlimmer sein – eine Vergewaltigung oder der Spießrutenlauf durch das Blitzlichtgewitter? Die Studie von Marjorie J. P. Jones von 1974 über die britische Rechtsprechung in derartigen Fällen hat übrigens gezeigt, dass die Bestrafung durch Öffentlichkeitswirkung – „punishment by publicity“ – in die dortige Bemessung der Strafe des verurteilten Täters (!) mit einbezogen wird.

Seit dem Freispruch Kachelmanns vom Vorwurf der schweren Vergewaltigung und der gefährlichen Körperverletzung am 31. Mai 2011 scheint die mediale Schlammschlacht zwischen dem Angezeigtem und der Anzeigeerstatterin in genau jenen Medien auch weiterhin fortgesetzt zu werden, die schon während der gesamten Zeit jeweils Partei ergriffen hatten: Das große Kachelmann-Interview in der „Zeit“ – „Mich erpresst niemand mehr“ – wurde beantwortet mit dem Exklusiv-Interview der Nebenklägerin Claudia D. in der „Bunten“ (wieso hat sie immer noch keinen Familiennamen, dafür nun ein ganzseitiges Porträtfoto auf der Titelseite?) Er prangert die Praxis des „Deals“ als „staatlich sanktionierte Erpressung“ an und behauptet in der schweizerischen „Weltwoche“, der Vergewaltigungsvorwurf sei in Deutschland dank einer „pervertierten Justiz zum nützlichen Instrument geworden, mit dem Frauen ungestraft Männer loswerden können“. Sie behauptet, dass Deutschland ein „Täterstaat“ sei, in dem es besser sei, „als Frau den Mund zu halten“.

Worum geht es eigentlich? Warum werden solche delikaten Privatangelegenheiten derart vehement in der (medialen) Öffentlichkeit ausgebreitet? Geht es dabei überhaupt um die Frage nach der Moral? Als Soziologe muss man in diesem Zusammenhang die Frage stellen dürfen, welche Bedeutung Moral für das Zusammenleben in modernen Gesellschaften überhaupt (noch) hat. Bereits Emile Durkheim, einer der Stammväter meiner Disziplin, sah Moral als äußerst stark mit der Gesellschaft verbunden, welche für ihn ohne diese undenkbar war. Er war der Ansicht, dass spezifische Organisationsformen der Arbeitsteilung auch eines passenden Typus von Moral – bei ihm „Solidarität“ genannt bedürfen, was bei einem Übergang von „mechanischer“ zu „organischer Solidarität“ ebenso eine Transformation der Moral notwendig mache. Für Talcott Parsons, den soziologischen Klassiker der 1950er- und 1960er-Jahre, gründete sich sämtliche soziale Ordnung auf internalisierten Normen und Werten, die von den Gesellschaftsmitgliedern geteilt werden – Moral wurde bei ihm also zum strukturstiftenden Element. Dem widersprach schon der von den Nationalsozialisten aus Deutschland vertriebene deutsche Soziologe, Theodor Geiger, der die Ansicht vertrat, dass in immer komplexer werdenden und ausdifferenzierten Gesellschaften individuelle Moralvorstellungen unweigerlich aufeinanderprallen müssen und dies infolgedessen eher zu einer Desintegration von Gesellschaften führen muss, weshalb Moral – wie übrigens auch Religion – durch neue Ordnungsschemata, wie beispielsweise staatliche Rechtssysteme, abzulösen sei.

Heutige Soziologen, wie etwa der Bielefelder Jörg R. Bergmann und der Konstanzer Thomas Luckmann, konstatieren einen Rückzug der Moral aus der Öffentlichkeit und glauben anstelle eines Verschwindens von Moral sowohl eine „Privatisierung“ von Moral als auch zugleich deren Publikumswirkung zu erkennen: „Moralisiert wird im Alltag unter Freunden, Nachbarn und Kollegen allenthalben [und] auch in den Medien.“ Dabei heben sie vor allem die Rolle des Fernsehens als „Moralisierungsmedium ersten Ranges“ hervor. Aufgrund des Verlusts ihrer gesellschaftlichen Integrationsfunktion halten Bergmann und Luckmann es stattdessen für möglich, dass Moral einen „lokalen Charakter […] innerhalb abgeschlossener sozialer Gruppen“ annimmt, somit ihren Platz als eine allgemeingültige Sozialnorm einbüßt und infolgedessen der „interaktiven Absicherung [und] Zustimmung aller Beteiligten bedarf“. Wenn man dem zustimmt, hätten sich die Damen Schwarzer, Friedrichsen, Riekel und Rückert gebührende Anerkennung ihrer bedeutenden gesellschaftlichen Funktion verdient: Sie tragen vielleicht dazu bei, dass (vermeintlich) private Moralvorstellungen der öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht worden sind, auch wenn – oder gerade: weil – sie sehr unterschiedliche Moralvorstellungen in ihren jeweiligen Blättern präsentierten.

Vielleicht lauert ja in den archaischen Teilen des männlichen Stammhirns noch immer die Vorstellung, dass ein Mann das Recht auf eine Frau hat, zumindest dann, wenn es „die eigene“ ist. Erst kürzlich musste ich dem – ernst gemeinten – Bedauern eines Geschlechtsgenossen zuhören: „Leider sind die guten Zeiten vorbei. Früher streichelten die Männer den Frauen über den Rücken, und schon hoben sie das Hinterteil. Wie bei den Tieren eben.“ Er sollte bei den Leipziger Primatenforschern nachfragen, die würden ihm sagen, dass die Dinge nicht einmal bei den Großen Menschenaffen so einfach liegen. Und bei den Menschen lagen sie vermutlich nie so.

Player

„Sie fahren mit ihrem Wagen zur Arbeit, setzen sich ins Cockpit und führen einen Krieg, in dem der Tod nur auf hochauflösenden Bildschirmen zu sehen ist. Dank Schichtarbeit ist ein pünktlicher Feierabend garantiert. Gerade noch waren sie mitten im digitalen Gefecht, 20 Minuten später spielen sie mit ihren Kindern Football.“ Die Rede ist von jenen Soldaten der US-Streitkräfte, die in Tucson (Arizona) auf einer Militärbasis der Air Force sitzen und von ihrem abgedunkelten Arbeitsplatz aus über Monitore Drohnenangriffe beispielsweise auf Stammesgebiete in Pakistan durchführen.

Es sind jeweils zwei Männer, die als Team die komplizierten Apparaturen bedienen: Einer nennt sich „Pilot“, der andere ist der „Kameramann“. Das große Foto des einschlägigen Berichts in der besagten Ausgabe des „Sterns“ – „Obamas geheimer Krieg“ – mit dem Text des New Yorker „Stern“-Korrespondenten Giuseppe Di Grazia, zusammen mit dem freien Journalisten Martin Knobbe – zeigt nur den einen Mann in grüner Uniform, der in konzentrierter Haltung den Joystick vor sich bedient, von dem Kameramann sieht man nur den Hinterkopf mit Kopfhörern. Berichtet wird, dass Männer, die diesen Beruf ergreifen, nicht einmal gelernte Piloten sein müssen, sie müssen nur Computer bedienen können. Wer früher viel am Computer gespielt habe, bringe beste Fähigkeiten mit. Drohnenangriffe sind Luftkrieg per Fernbedienung, der Krieg wird rund um die Uhr „gespielt“, die Drohnenpiloten „fliegen“ beispielsweise am Morgen eine „Mission“ in Pakistan, am Nachmittag „bedienen“ sie eine Drohne über dem Irak.

Ist dieser „Kampf“, dem nach den Schätzungen der New America Foundation seit 2004 allein in Pakistan zwischen 1.467 und 2.232 Menschen zum Opfer gefallen sind, nicht sehr viel „zivilisierter“ als das Töten im Kampf von Mann gegen Mann? Kein sichtbares Blut, die gestärkte Uniform bleibt sauber, der Scheitel muss nicht nachgezogen werden nach getaner Arbeit, die wartende Ehefrau und die Kinder bekommen einen gepflegten Mann und Vater zurück und können gutgelaunt zum Barbecue übergehen. Ob er wohl dann erzählt, wie anstrengend sein Tag war und wie viele Menschen durch ihn ums Leben gekommen sind?

Diese Soldaten in Tucson jedenfalls sehen weniger blutige Bilder als jene vierzehn Menschen, die per Videoübertragung zusahen, als eine Spezialeinheit der US Navy Seals das Anwesen im pakistanischen Abbottabad stürmte, in dem sich Osama Bin Ladin anscheinend seit Jahren versteckt gehalten hatte. 11.000 Kilometer entfernt von diesem Ort sahen zwölf Männer im „Situation Room“ des Weißen Hauses in der Nacht zum 2. Mai 2011 live diesem Einsatz zu, zu ihnen gesellten sich zwei Frauen, die US-Außenministerin Hillary Clinton und die Direktorin der Nationalen Anti-Terror-Zentrale, Audrey Tomason. Es ist viel darüber geschrieben worden, ob die Hand vor dem Mund der Außenministerin eine Geste des Entsetzens, der Angst ist, oder – wie es dann regierungsamtlich hieß – die Reaktion auf einen allergischen Husten, der sie ausgerechnet in dieser Situation plagte.

Das Foto, das vom Weißen Haus offiziell publiziert wurde, ist inzwischen eine historische Ikone geworden. Vielleicht handelte jene kleine jüdische Wochenzeitung aus New York, „Di Tzeitung“ doch sehr klug, als sie die beiden Frauen per Photoshop aus dem Bild herauskopierte. Männer sind Jäger, Killer, Vergewaltiger, das wissen wir. Frauen sind empathisch und liebevoll, sie sind Opfer und keine Täter. Und wenn es ganz schlimm wird, dann plagt sie ihre Allergie.

Natur gegen Zivilisation?

Ist es das verdammte Testosteron, das die Männchen – im Krefelder Zoo, in der Suite Nummer 2806 des New Yorker Hotels „Sofitel“, am Bildschirmarbeitsplatz der Militärbasis der Air Force oder im Weißen Haus – steuert? Können Sie darum nicht anders? Auch Frauen produzieren dieses wichtige Hormon, es steuert auch bei ihnen Antrieb, Ausdauer und „Lebenslust“. Am „Dämon Sex“, von dem der stellvertretende Chefredakteur, Hans-Ulrich Jörges, in seiner Kolumne in der besagten Ausgabe des „Stern“ fabuliert, kann es also wohl doch nicht liegen, oder sollte allein die Menge von Testosteron entscheidend sein?

Sind Männer einfach „primitiver“, ziemlich hinterher beim Prozess der Zivilisierung des homo sapiens? Bewegen sich Männer immer noch näher am Pol „Natur“, sind Frauen viel näher am Pol der „Zivilisation“? Könnten Frauen für Kinderpornos ein Baby auf dem Wickeltisch mehrfach schwer sexuell missbrauchen, wie es das Bundeskriminalamt während der Arbeit an dieser Glosse mit seinem Fahndungsaufruf veröffentlicht? Wie wurden eigentlich die erfolgreichsten VertreterINNEN der „Hamburg-Mannheimer Versicherung“ im Jahr 2007 für ihre exzellenten Leistungen belohnt, als die 100 „Herren“ zum geselligen Abend in der Budapester Gellert-Therme gingen? Oder belohnt die ergo-Versicherungsgruppe ihre weiblichen Verkaufsgenies nicht? Oder haben Frauen sogar Skrupel, überhaupt Versicherungen zu verkaufen, weil sie wissen, dass dann zuweilen „fehlerhafte Antragsunterlagen“ für die Lebensversicherungen bei der „Riester-Rente“ verteilt werden?

Das kumulierte Wissen der Menschen liefere die Basis für neue Ideen, die uns wiederum weiterbringen, sagt Professor Tomasello aus Leipzig und beschwört unsere „Wir-Intentionalität“, indem er behauptet, dass wir Menschen zusammen mit anderen an kooperativen Aktivitäten mit geteilten Zielen und gemeinsamen Absichten arbeiten. Das kumulierte Wissen der Menschheit hat gewiss dazu geführt, dass „wir Männer“ heute andere Menschen um ihre körperliche Integrität bringen können, dass wir sie um ihr Vermögen betrügen können, dass wir sie töten können auf Tausenden von Kilometern Entfernung. Aber, ist das alles wirklich umso viel „ziviler“ geworden als bei den Gorillas, Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans?

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“.