Fiktive Heldinnen und Unternehmerinnen

Der Sammelband „Dekonstruktion und Evidenz“ lässt HochschulabsolventInnen über „Ver(un)sicherungen in Medienkulturen“ zu Wort kommen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich sah Aristoteles im Staunen den Anfang aller Philosophie. Und zu Beginn der Neuzeit wählten die in vielerlei Hinsicht denkbar gegensätzlichen Philosophen Francis Bacon und René Descartes den Zweifel als Grundstein ihrer jeweiligen Denkgebäude. Da finden sich die vier Herausgeberinnen eines Sammelbandes mit dem Titel „Dekonstruktion und Evidenz“ nicht eben in der schlechtesten Gesellschaft, wenn sie die mit Staunen und Zweifel ja doch näher verwandten „Verunsicherungen“ als „Forschungs- und Lehrkonzepte“ stark machen.

Tanja Thomas, Steffi Hobuß, Merle-Marie Kruse und Irina Henning lassen AbsolventInnen des Faches „Angewandte Kulturwissenschaft“ der Leuphana Universität Lüneburg zu Wort kommen, die in ihren Beiträgen die Ergebnisse ihrer Abschlussarbeiten vorstellen dürfen. So bewandert die Herausgeberinnen in dekonstruktiven Ansätzen auch sein mögen, so wenig scheinen sie sich in der Wissenschaftsgeschichte auszukennen. Andernfalls würden sie nicht den uralten Pappkameraden „der ‚Objektivität‘ wissenschaftlicher Erkenntnis“ aus deren verstaubster Kammer hervorzerren, um auf ihn einzuschlagen, gerade so, als würde noch irgendjemand dieser Chimäre nachjagen.

Was nun die aufgenommenen Beiträge der HochschulabsolventInnen betrifft, so ist ihnen nicht nur die feministische Orientierung gemein, sondern auch das Ziel, „die gesellschaftliche Bedeutung akademischer Wissensproduktion präsent zu halten“. Zudem wollen sie „die Produktivität (de-)konstruktivistischer und entnaturalisierender theoretischer Ansätze für Einzelanalysen darlegen, ohne die Wirkungsmächtigkeit der untersuchten Kategorien zu vernachlässigen“.

Hierzu wurden die Texte in fünf Gruppen unterteilt, an deren Anfang sinnvoller Weise „Ausgangspunkte“ festgelegt werden. Neben der bereits erwähnten Einleitung der Herausgeberinnen geschieht dies durch zwei Beiträge, die jeweils von einer der Herausgeberinnen beigesteuert wurden. Tanja Thomas fasst „poststrukturalistische Kritik als Praxis von Grenzüberschreitungen“ zusammen und Steffi Hobuß stellt philosophische Überlegungen zum Verhältnis von „Dekonstruktion und Evidenz“ an, wobei sie den dekonstruktiven Ansatz  auch schon mal als dekonstruktivistisch bezeichnet und ihn damit implizit den Ismen zuschlägt, deren Berechtigung er doch gerade dekonstruiert.

Den drei Eingangstexten respektive Ausgangspunkten schließen sich „Geschlechter(de)konstruktionen“ an, die – folgte man den Themen der dort untergebrachten Aufsätze – ausschließlich im Fernsehen stattzufinden scheinen. Die Beiträge des dritten Teils behandeln „Reproduktionen und Transformationen von Mütterlichkeit“ an den Beispielen der „Madres de Plaza Mayo“ (Sonja Oehler) sowie der beiden Filme „Juno“ und „Knocked Up“ (Wera Mohns Patten). Wiebke Stadler und Sandra Landsfried schreiben im nächsten Teil anhand des Films „Die Einsamkeit der Krokodile“ über „Affirmationen und Brüche Weißer Normailtät im Film beziehungsweise über die „(Un)sichtbarkeit von Whiteness“ am Beispiel der Berichterstattung zu Barack Obama in dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.

Beschlossen wird das Buch mit „Kollektiven Ver(un)sicherungen“, die Merle-Marie Kruse am Beispiel von „Konstruktionen nationaler Identität in Texten deutschsprachiger Popmusik“ verhandelt, während Irina Henning den „Konstruktionen europäischer Identität in der deutschen Presseberichterstattung zur ‚Orange Revolution‘“ nachgeht.

Wie stets in vergleichbaren Sammelbänden, stechen einige Beiträge positiver hervor als andere. Wieder andere sind nicht der Rede Wert. Von letzteren sei geschwiegen. Gesprochen aber werden soll über Chris Kövers Überlegungen zu „Buffys Heldinnen-Peformance als narrativer Drag“. Mit Buffy hat sie sich die titelstiftende Heldin einer Fernseh-Serie ausgesucht, die wie wenig andere das Forschungsinteresse nicht nur feministischer WissenschaftlerInnen geweckt hat. Den feministischen Buffy-Diskurs umreißt Köver zu Beginn ihres Aufsatzes in groben Zügen. Dabei lässt sie allerdings kein Interesse am deutschsprachigen Wortmeldungen erkennen, denn sie beschränkt sich ganz auf die Darstellung englischsprachiger Beiträge. Anschließend erörtert sie, „inwiefern Buffys betont weibliche und zugleich übertrieben heroische Performance bestehende Normen von Geschlecht aufbrechen und verschieben kann“. Dabei wendet sie sich ganz grundsätzlich gegen eine „binäre Logik“ die besagt, etwas sei, „subversiv oder vereinnahmt, feministische oder nicht, nützlich oder schädlich“,  und beharrt auf dem „grundsätzlich ambivalenten Charakter“ von „popkulturellen Darstellungen“, die ganz gemäß des theoretischen Ansatzes von Judith Butler „Normen zugleich wiederholen und überschreiten“. Gerade diese Polysemie, argumentiert Köver mit Butler, sei eine „Form von Subversion“. Buffys Performance als „Girlie und Heldin“ lege nun nicht nur offen, „dass Weiblichkeit und Männlichkeit selbst nicht mehr sind als Imitationen von Verhaltensweisen, Gesten und Werten, die wir für weiblich oder männlich halten“, sondern sei vor allem darum wirklich subversiv, weil sie uns zeigt, dass neue und andere Normen, Formen und Konstellationen von Geschlecht möglich seien. Das alles ist ohne weiteres plausibel.

Auch Miriam Stehlings Interesse gilt einer Fernseh-Serie. Sie geht „geschlechtsspezifischen Anrufungen und Aushandlungen“ in der Casting-Show „Germany’s next Topmodel“ nach, die die hoffnungsvollen Kandidatinnen, als „Unternehmerin ihrer selbst“ verkaufen will. Stehlings Ziel wiederum ist es zu zeigen, dass und wie die „medialen Inszenierungen von Körper und Geschlecht“ der Show „in neoliberale Logiken eingebunden“ sind. „Ermächtigung, Erfolg und gesellschaftliche Teilhabe für junge Frauen“ seien in solchen Sendungen „nur unter der Bedingung der Akzeptanz von modernen sexistischen Praktiken möglich“. Darüber hinaus werde insinuiert, es handle sich zugleich um eine allgemein gültige Möglichkeitsbedingung von Erfolg – jedenfalls sofern ihn Frauen anstreben.

Doch die Kandidatinnen sind nicht nur Opfer, sondern zugleich (Mit-)Täterinnen, denn die „sexistischen Aufrufungen an eine ‚Unternehmerin ihrer selbst‘ basieren auf der Einwilligung der jungen Frauen in neoliberale Praktiken und der Abwendung von feministischer Kritik“, erklärt Stehling.  Doch äußert sie sich diesbezüglich nicht immer eindeutig. So spricht sie einmal davon, „dass die Kandidatinnen teils selbst aktiv daran beteiligt sind, ‚weibliche‘ Stereotype zu (re-)produzieren, indem sie bereitwillig und im Sinne des neoliberalen Programms ihren Körper zur Schau stellen, sich von der Jury demütigen lassen und dies vor einem Millionenpublikum“. Dann wieder konstatiert sie, dass die Kandidatinnen nur „scheinbar bereitwillig sexistische Praktiken akzeptieren“.

Die beiden schon untereinander nicht unbedingt deckungsgleichen Befunde stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zu zwei weiteren, die wiederum untereinander nicht ganz zur Deckung zu bringen sind. So erklärt Stehling einerseits, „das Handeln der jungen Frauen“ changiere „immer wieder zwischen Affirmation und Opposition“, erklärt aber schon wenige Zeilen später, die Kandidatinnen kämen den Ansinnen der Jury „bis auf wenige Ausnahmen“ nach. Vermutlich ist gemeint, dass sie den Anforderungen letztlich meist Folge leisten, wenn auch hin und wieder nur widerwillig oder nach anfänglichem Protest.

Neben diesen Kritikpunkten sticht vor allem negativ ins Auge, dass Stehling, die Moderatorin und die Jurymitglieder stets mit vollem Namen nennt, es bei den Kandidatinnen jedoch beim Vornamen belässt, womit sie das hierarchische Gefälle zwischen Personen der Jury und den Kandidatinnen übernimmt und zementiert, wie eine dekonstruktive Lektüre ihres Beitrags offenlegen würde.

Titelbild

Tanja Thomas / Steffi Hobuß / Merle-Marie Kruse / Irina Hennig (Hg.): Dekonstruktion und Evidenz. Ver(un)sicherungen in Medienkulturen.
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2011.
292 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783897413184

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