Größte Intimität

Was sich in Karl Ove Knausgårds Roman „Sterben“ als persönliches Geständnis ankündigt, entpuppt sich als exemplarische Studie über die 1980er-Jahre

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Deutschland kann man sich das kaum vorstellen. Dass es skandinavische Romane gibt, die kein Krimi sind. Aber es gibt sie. Bücher, die auf hohem Niveau unterhalten und ohne Kriminalfall auskommen. Ein Autor solcher Bücher ist der Norweger Karl Ove Knausgård. Seine Bücher machen in Norwegen Furore. Nun ist der erste Roman einer Romanserie, die auf sechs Bände angelegt ist, auf Deutsch erschienen.

Der schlichte und zugleich pompöse Titel heißt „Sterben“. Auf Norwegisch lautet der Titel der Romanserie von Knausgård „Min kamp“, zu deutsch „Mein Kampf“. Diesen Titel konnte der Verlag natürlich unmöglich übernehmen, weil er im Deutschen durch Adolf Hitlers Kampfschrift besetzt ist. Also heißt der erste, nun von Paul Berf ins Deutsche übersetzte Roman der Serie „Sterben“. Dieser Band wird angekündigt als radikal persönlich, ja regelrecht intim. Und tatsächlich, nach eher allgemeinen Reflexionen über das Verhältnis der Menschen zum Tod kommt der Autor direkt auf sich zu sprechen und schreibt: „Heute ist der 27. Februar 2008. Es ist 23.43. Ich, der ich dies schreibe, Karl Ove Knausgård, wurde im Dezember 1968 geboren und bin folglich im Augenblick der Niederschrift 39 Jahre alt. Ich habe drei Kinder, Vanja, Heidi und John, und ich bin in zweiter Ehe mit Linda Boström Knausgård verheiratet. Alle vier schlafen in den Zimmern ringsum, in einer Wohnung in Malmö, wo wir seit anderthalb Jahren leben. Mit Ausnahme einiger Eltern von Kindern in Vanjas und Heidis Kindertagesstätte kennen wir hier niemanden. Wir vermissen deshalb nichts, jedenfalls ich nicht, denn die Gesellschaft anderer Menschen gibt mir ohnehin nichts.“

Wenn man solch ein Bekenntnis liest, kann man sich leicht unangenehm berührt fühlen. Denn man wird als Leser in eine Intimität zum Autor gezogen, die etwas Aufdringliches hat. Literatur hat ja immer auch etwas mit Verfremdung zu tun, so dass man sich jederzeit von Figuren in unangenehmen Momenten distanzieren kann. Wenn sich ein Autor jedoch so gnadenlos seinen Lesern ausliefert, wie in den zitierten Sätzen, dann scheint man diesem Übergriff kaum entrinnen zu können.

Scheint. Denn abgesehen von der Ankündigung und Behauptung, radikal persönlich und ehrlich zu sein, ist der Roman von Knausgård wohldurchdachte und klug komponierte Literatur. Das ist auch so gewollt, wie er schreibt: „Jahrelang hatte ich versucht, über meinen Vater zu schreiben, es aber nie geschafft, wahrscheinlich, weil dies meinem eigenen Leben zu nahe kam und sich dadurch nicht so leicht in eine andere Form zwingen ließ, die doch Voraussetzung für Literatur ist. Das ist ihr einziges Gesetz: Alles muss sich der Form unterordnen.“

An dieses Gesetz hält sich Knausgård zweifellos. Was nicht heißt, dass dieser Roman nicht persönlich und ehrlich wäre. Er ist es auf ganz angenehme Weise, indem er seine Jugend und sein Verhältnis zu seinem Vater beschreibt. Der Tod des Vaters bildet den Rahmen der großen Erzählung. Sie setzt ein, als der Ich-Erzähler sechzehn ist. In seinem und dem Leben seiner Eltern wird sich viel verändern. Er ist mitten in der Pubertät und seine Eltern werden sich scheiden lassen. Ganz anschaulich erzählt er das Lebensgefühl Mitte der 1980-Jahre. Dafür schildert er charakteristische Episoden wie einen Silvesterabend. Der steht für den Jungen ganz im Zeichen des Sich-Betrinken-Wollens mit Freunden, in Norwegen mit seiner prohibitiven Alkoholgesetzgebung kein leichtes Unterfangen. Doch es gelingt und endet in einem Desaster. Als er schließlich derangiert nach Hause kommt, merken seine Eltern davon nichts. Das nimmt er irritiert und dankbar zugleich zur Kenntnis.

Dabei ist diese Oberflächlichkeit seiner Eltern nur ein gefährliches Zeichen. Die Eltern werden sich trennen, der Vater wird dem Alkohol verfallen und am Schluss auch an ihm zugrunde gehen.

Doch bevor es wirklich um den Tod des Vaters geht, beschreibt Knausgård seine Pubertät durchaus als eine Art des Sterbens, als einen Schritt dahin. Erste Liebeserfahrungen, viel Musik und Fußball sind neben der Schule der Inhalt seines Daseins, in dem er sich auf eigene Füße stellen muss. Er tut es mehr oder weniger unwillig. Das, was ihn als Erwachsenen erwartet, lockt ihn nicht. Er ist unsicher: „Meine Persönlichkeit hatte etwas Schleichendes und Fragwürdiges und nichts von der Festigkeit und Reinheit wie bei manchen anderen Menschen, denen ich damals begegnete und die ich dafür bewunderte.“

Eine Art der Befreiung ist schließlich der Tod des Vaters, den er als Erwachsener eigentlich aus den Augen verloren hatte. Gemeinsam mit seinem Bruder geht er in das Haus, in dem der Vater im Delirium gelebt hatte und gestorben ist. Sie versuchen in dem ekelhaft verdreckten Chaos, in dem ihre ebenfalls alkoholkranke Großmutter noch lebt, Ordnung zu schaffen. Knausgårds Roman, der so aufdringlich beginnt, zeigt sich als klug komponiertes Buch, das die Stimmungen, die Hoffnungen und die Enttäuschungen der 1980er- und 1990er-Jahre wunderbar einfängt. Es überwindet die anfängliche Ich-Bezogenheit des Autors und gelangt ins Exemplarische, anschaulich, mitreißend und packend. Die Übersetzung von Berf ist, bis auf einige Marotten akzeptabel. Dazu gehört, dass er leider konsequent nach Fragen in wörtlichen Reden „sagte“ schreibt statt das im Deutschen übliche „fragte“.

Titelbild

Karl Ove Knausgård: Sterben.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Paul Berf.
Luchterhand Literaturverlag, München 2011.
440 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873510

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