Zu dieser Ausgabe

Häufig werden dem Betrachter gewisse Empfindungen des Schönen durch Dritte schnell verleidet. Kennen Sie zum Beispiel das nette Universitätsstädtchen Tübingen? Dort gibt es einen idyllischen Bauernhof, in dessen Biergarten man mit Blick auf die lieblichste schwäbische Landschaft rustikal essen und trinken kann, während man sich in einen Roman von Hermann Hesse versetzt fühlt. Doch plötzlich sieht man sich von Horden grinsender Burschenschafter umringt: „Ist hier bei Ihnen vielleicht noch Platz am Tisch?“

Und schon hat man keinen Blick mehr für die Schönheiten der Umgebung. Alles verfinstert sich, weil man sich gemeinsam mit Leuten zu speisen genötigt sieht, die sich lachend über das Für und Wider eines „Ariernachweises“ als mögliches Aufnahmekriterium in verschiedenen schlagenden Tübinger Verbindungen unterhalten: „Prost Mahlzeit!“

Auch im Tübinger Kino „Museum“ ist man vor unerwarteten Attacken auf den anvisierten Genuss erhabener Inszenierungen von Schönheit nicht gefeit. Wie in einen Gottesdienst begibt man sich in die Aufführung von Terrence Malicks Film „The Tree of Life“, der soeben in Cannes mit der Goldenen Palme prämiert wurde. Und da ist sie auch schon, die vielbesprochene und -gerühmte 20-minütige Sequenz, in der Malick die Schöpfung des Universums und des Planeten Erde in ungeheuerer Bildgewalt darzustellen versucht: Man hatte sich schon seit Wochen gedanklich darauf vorbereitet wie auf eine stille Andacht oder die Konsultation eines heiligen Orakels, war bereit zur konzentriertesten Kontemplation und zur demütigsten Versenkung in diese visuelle Offenbarung. Doch die Theodizee wird einem auch hier jäh zerstört, zerstammelt, zerknistert, zerschmatzt und zertuschelt von einem gelangweilten Teenie-Paar, das offensichtlich im falschen Film sitzt: Wo warst Du, Gott?

Auch diesen Monat stellt literaturkritik.de die letzten Fragen. In unserer Juli-Ausgabe ist es die nach dem Wesen der Schönheit. Die Empfindungen dessen, was nun im Einzelnen „schön“ sein soll oder nicht, hat sich immer wieder gewandelt. Konstrukte von Schönheit sind im religiösen Sinne, aber auch bio- und körperpolitisch einsetzbar, sie können die Bilder der Geschichte im öffentlichen Gedächtnis wandeln helfen – und sie sind nicht zuletzt verknüpft mit der Erzeugung von Emotionen im Betrachter. Die Themen der dazu in der vorliegenden Ausgabe versammelten Essays könnten kaum variabler sein: Wir hoffen, dass der eine oder andere Ihr Interesse findet und wünschen Ihnen gleichzeitig schon einmal einen schönen Sommer.

Herzliche Grüße,

Jan Süselbeck