Wäre taub besser?

Trotz einer ausführlichen und kenntnisreichen Analyse gelangt Mahmood Mamdani in „Blinde Retter“ zu fragwürdigen Schlussfolgerungen in Bezug auf humanitäre Interventionen und den Internationalen Strafgerichtshof

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt jetzt einen neuen Staat in Afrika: den Südsudan. Der neue Staat ist Ergebnis eines des blutigsten Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte, des Darfur-Konflikts. Bereits am 15. Juni hat sich die Bundesregierung dafür ausgesprochen, dass Deutschland den Südsudan diplomatisch anerkennt. Nach der Unabhängigkeitserklärung am 9. Juli wurden die Beziehungen offiziell aufgenommen.

Der Politologe Mahmood Mamdani hat bereits im März ein streitbares Plädoyer vorgelegt, in dem er sich für eine andere Sicht auf den Darfur-Konflikt im Besonderen und auf Afrika im Allgemeinen stark macht. Der Kosmopolit Mamdani (in Indien geboren, in Uganda aufgewachsen, in den USA lehrend und forschend) rät, die westliche Brille abzusetzen und sich an den kulturellen und historischen Fakten zu orientieren, statt die Konflikte – so sein Vorwurf – systematisch zur Stärkung der Eigeninteressen zu instrumentalisieren. Im Fall Darfur bedeute das: der Konflikt wird ethnisiert, die Araber sind die Bösen und der war on terror bekommt ein weiteres Pro-Argument.

Mamdanis Feindbild ist die „Save Darfur-Lobby“, wie er sie nennt, die in den USA und weltweit Druck auf die Verantwortlichen in den Regierungen westlicher Staaten ausübte, damit die Gewalt, die in der Region seit 2003 tobt und bislang etwa 300.000 Todesopfer forderte, als „Völkermord“ angesehen und eine humanitäre Intervention möglich werde. Doch würde eine solche mehr schaden als nützen, davon ist Mamdani überzeugt. Der Westen, so seine These, wäre in diesem Konflikt ein „blinder Retter“.

Eine Frage stellt sich: Wäre es denn besser, der Westen stellte sich taub? „Save Darfur“ ist beileibe keine Kriegstreiberorganisation, sondern eine überkonfessionelle Kampagne für den Frieden im Konfliktgebiet, der sich – so die Überzeugung – nur durch Eingreifen von außen herbeiführen lasse. Das lehnt Mamdani ab und wirft den Aktivisten vor, weder historische noch ethologische Kenntnisse zu haben, in vereinfachenden Täter-Opfer-Mustern zu denken und den Konflikt insgesamt zu entpolitisieren und zu dekontextualisieren, um ihn so besser einer allgemeinen moralischen Empörung zugänglich zu machen und den typischen Westler (der, so Mamdani, „lieber spende als Steuern zu zahlen“) in seiner Naivität und Unkenntnis der tatsächlichen Lage für die „gute Sache“ einzunehmen.

Sicherlich ist das ein Problem und die kenntnisreiche kulturhistorische Aufarbeitung der heutigen spannungsreichen Situation in dem von ungünstigen klimatischen Einflüssen gebeutelten Konfliktgebiet, die Mamdani haarklein vornimmt, eine löbliche Unterrichtung tiefgründig Interessierter. Doch überzeugen kann sie schließlich kaum, weil die Genese des Konflikts nur mittelbar Aufschlüsse über mögliche Lösungen und ein Ende der Gewalt gibt. Und darum geht es den „Empörten“ zunächst und vor allem: um ein Ende der Gewalt. Das sollte man ihnen nicht übel nehmen.

Mamdanis Einlassungen gehen weit über eine Regionalstudie hinaus. Er verortet die Geschehnisse in einem globalen Rahmen, der für ihn von (Neo-)Kolonialismus und Anti-Terror-Krieg aufgefächert wird. Er rügt dabei die Remoralisierung des Rechts und der Politik, wie sie – seiner Ansicht nach – im Fall Dafur dazu geführt habe, vorschnell und missbräuchlich von „Völkermord“ zu sprechen, um eine militärische Intervention zu erzwingen. Er kritisiert, dass unterschiedliche Konflikte (Ruanda, Irak, Darfur) nicht auch unterschiedlich betrachtet werden und rügt damit jeden Versuch, den war on terror humanitär zu rechtfertigen. Die völkerrechtliche Wende von der Souveränität zur Humanität sieht Mamdani als „apolitischen oder gar antipolitischen Vorgang“ sehr kritisch.

Die Mahnung zur Vorsicht im Umgang mit „humanitären Interventionen“ (die ja letztlich nichts anders als Kriege sind) mag dabei einleuchten, auch das Missbrauchspotential, doch überzeugende Alternativen formuliert Mamdani nicht. Die „politische Lösung“, die er in Darfur für möglich hält (eben weil es sich seiner Ansicht nach um einen historisch-politischen Konflikt handelt), mag in der Tat jetzt realistisch sein (obwohl auch die Staatengründung im Süden nicht alle Probleme beseitigt, vielleicht sogar neue Konflikte schafft, etwa um den konkreten Grenzverlauf), aber ein Modell für ethnische Konflikte insgesamt ist sie keineswegs.

Manchmal gibt es, da sind sich die unterschiedlichsten Beobachter der internationalen Beziehungen einig, von der Bush-Administration bis zu „Save Darfur“, keine andere Möglichkeit, als die angestrebte politische Lösung militärisch vorzubereiten, zum Beispiel bei Völkermord. Der Begriff steht daher im Zentrum der Diskurse, er ist der Schlüssel zur Bereitschaft, aus humanitären Gründen Krieg zu führen. Er stellt daher für Mamdani eine Art „rotes Tuch“ dar. Er will die Rede über „Völkermord“ im Fall Darfur als überzogen diskreditieren.

Die Tatsache, dass militärisches Eingreifen immer nur das äußerste Mittel darstellen kann, sollte allenfalls zu einem vorsichtigen Umgang mit dem Begriff „Völkermord“ veranlassen. Es aber geradezu als Tabu internationaler Beziehungen anzusehen, ihn im Diskurs um humanitäre Krisen (wie die in Darfur zweifelsohne eine war), überhaupt nur in den Mund zu nehmen, weil damit eine Interventionsentscheidung wahrscheinlicher wird, verdreht Ursache und Wirkung. Bei allen Bedenken gegen eine Wahrnehmung kollektiver Schutzverantwortung (dieses Konzept steht hinter dem militärischen Eingriff), kann dies ja keine Argumentation sein: Wir verharmlosen, um nicht handeln zu müssen.

Darin allein erschöpft sich die Argumentation bei Mamdani freilich nicht. Er wirft der Weltgemeinschaft bzw. denen, die dort das Sagen haben, weiterhin vor, mit der Fokussierung auf den etwaigen „Völkermord“ die nicht-genozidale Gewalt zu übersehen beziehungsweise unter das hinzunehmende Handeln eines souveränen Staates zu subsumieren und damit für nicht-interventionswürdig zu erachten, während sie sich mit der gezielten Proklamation von „Völkermorden“ (und damit potentiellen Eingriffsfällen) ermächtige, unter dem Deckmantel der Humanität die koloniale Großmachtpolitik des 18. bis 20. Jahrhunderts in Afrika und anderen Entwicklungsregionen fortzuschreiben. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen und wenn man (immer noch) die Karte „West gegen Rest“ ausspielen will, dann geht das freilich. Die Genoziddefinition nennt Tatbestandsmerkmale, die sich entweder überhaupt nur in den ehemaligen Kolonien erfüllen lassen (ethnisch motivierte Gewalt) oder nur noch dort eine tragende Rolle spielen (religiös motivierte Gewalt), eben weil die Grenzen rücksichtslos mit dem Lineal gezogen wurden und nun die Konflikte aufbrechen, die in Europa und Nordamerika (weitgehend) ausgestanden sind – nach Jahrhunderten ebenso blutiger ethnisch-religiöser Gewalt.

Das ist in der Tat gut beobachtet. Nur: Wem ist damit gedient? Geschichte lässt sich nicht auf „Null“ stellen. Menschen werden jetzt in ihrer Existenz bedroht und „wir“ müssen jetzt handeln, auch wenn „wir“ wissen, dass „unsere“ Retterrolle eine ziemlich tragische ist bzw. – um näher an Mamdani zu rücken – eine reichlich perverse. Doch es hilft ja nichts: Nur, weil wir wissen, dass es eigentlich unsere Politik gewesen ist, die eine derart explosive Hinterlassenschaft zeitigte, entlässt uns das nicht aus der Verantwortung. Im Gegenteil: Wir stehen mehr denn je in der Pflicht! Wir brauchen die Weltpolizei, auch wenn sie aus Ex-Verbrechern besteht. Dass Mamdani nicht nur gegen jene wettert, sondern auch den Internationalen Strafgerichtshof attackiert, ist bedenklich. Der IStGH hatte 2009 gegen Sudans Präsident al-Baschir im Zusammenhang mit dem Darfur-Konflikt Haftbefehl erlassen. Ohne Grund? Wohl kaum. Doch Mamdani schließt sich der Afrikanischen Union an, die den Spruch Den Haags nicht anerkennt und eine Ergreifung al-Baschirs ablehnt. Dieser kann sich bei seinen Auslandsreisen auf dem Kontinent frei bewegen.

Keine Weltpolizei, keine Weltjustiz. Was dann? Mamdanis Alternative (Versöhnung aus eigener Kraft durch „Graswurzelrituale“) klingt romantisch, ist es wohl auch, bloß: realistisch ist sie nicht, zumindest nicht immer. Oft genug geschah die Wiederherstellung einer gerechten Ordnung, die Versöhnung erst möglich macht, durch Eingriffe von außen. Oft genug ging die „Einmischung des Westens“ auch schief, doch wenn Interventionen multilateral aufgestellt sind und als ultima ratio, dann aber mit Entschlossenheit, geschehen, ist der Erfolg wahrscheinlich. Dann – und erst dann – können die lokalen Formen der Konfliktbewältigung und der Friedensarbeit die Lage von innen her stabilisieren und – im Falle Darfur – die Einheit und Unabhängigkeit Afrikas, die Mamdani so sehr am Herzen liegt, befördern.

Der Süden des Sudan hat sich aber erst einmal gegen die Einheit und für die Unabhängigkeit entschieden. Die Trennung zwischen Arabern im Norden und Afrikanern im Süden, die Mamadi für von außen künstlich hereingetragen ansieht, ist damit vollzogen – nach dem Willen von 99 Prozent der Südsudanesen. Es ist ihre souveräne Entscheidung – im Interesse ihrer Sicherheit. „Save Darfur“ hat damit wohl nichts zu tun.

Titelbild

Mahmood Mamdani: Blinde Retter. Über Darfur, Geopolitik und den Krieg gegen den Terror.
Übersetzt aus dem Englischen von Maren Hackmann.
Edition Nautilus, Hamburg 2011.
381 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783894017361

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch