Der Messias vor dem Gesetz

Ein Sammelband kontextualisiert das Denken von Giorgio Agambens mit dem Walter Benjamins

Von Gabriele GuerraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Guerra

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vierte Band der „Benjamin Blätter“ ist dem aktuellen Einfluss des Philosophen Giorgio Agamben und dessen Beziehungen zum Werk Walter Benjamins gewidmet. Zwei recht unterschiedliche Tagungen werden dabei dokumentiert: Die eine fand anlässlich von Agambens Gastprofessur der Humboldt-Stiftung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 2005 statt, während die zweite unter dem Titel „Messianism and the Law“ 2006 in Antwerpen organisiert wurde– mit einer theoretischen Fragestellung also, die maßgeblichen Kategorien des Denkens Giorgio Agambens und Walter Benjamins verpflichtet ist.

Der erste, deutschsprachige Teil ist eher philosophiegeschichtlich orientiert, der zweite, englischsprachige theoretisch. Das „unbequeme“ Denken Giorgio Agambens gibt den Stil des Buches vor, wie Vittoria Borsò es in ihrer Einführung („Zu den Zukunftsperspektiven der Schriften von Giorgio Agamben“) unterstreicht. Unbequem deshalb, weil es grenzüberschreitend ist, aber auch, weil es sich den Fragen des Lebens selbst öffnet. Dadurch gelangen die Schriften Agambens in den heutzutage modischen Bereich der Biopolitik: „Biopolitik und Leben müssen […] zusammen gedacht werden, so der implizite Vorschlag Agambens“ – resümiert Borsò. Wo Biopolitik und Leben zusammenzudenken sind, geraten wir aber auch in den Einflussbereich Walter Benjamins, wie Agamben es selbst sagt. Denn dies bedeutet, die Konsequenzen einer göttlichen Ordnung für das konkrete Leben zu artikulieren, im Hinblick auf souveräne Macht, Weltordnung und „bloßes Leben“ (wie die bekannte Formulierung Benjamins lautet, die Agamben aufnimmt).

Doch nicht nur die spezifische Faszination der philosophischen Öffentlichkeit in Deutschland für Agamben steht zur Debatte. Auch ein kritischer Blick auf sein Denken hat hier seinen Platz. So macht etwa Frieder Otto Wolf („Giorgio Agamben und Walter Benjamin. Eine Rede zur ‚Logik der Rettung‘ mit einer Untersuchung zum ‚Souveränismus‘“) Agamben den Vorwurf, die grundlegenden Differenzen von modernen und vormodernen Machtverhältnissen vernachlässigt zu haben. Agamben, so Wolf, habe auf eine befreiende Politik verzichtet und somit eine ‚souveränistische‘, also im Grunde genommen totalitäre Perspektive auf Herrschaft und Eigentum vorgezogen. Damit lädt Wolf zur theoretischen Vertiefung durch eine kritische Fragestellung des Begriffs der Biopolitik ein. Während „Biopolitik“ in der aktuellen Foucault‘schen Diktion als ein Denksystem zu verstehen ist, das  Lebensform nur unter deren Beziehung zur Macht und „Gouvernementalität“ begreift (und das Phänomen damit in vor- beziehungsweise frühmoderne Formen zwingt), zielen die Aufsätze dieses Bandes darauf ab, die theoretische Leistung Agambens zu vertiefen und kritisch in einem phänomenologischen Sinn zu erweitern.

Nützlich im Hinblick auf das Zusammendenken von Begriffen wie Macht, Gewalt, Heiligkeit und Mensch ist der von Agamben angeregte  Parallelismus zum Denken Walter Benjamins: So betrachtet Bernd Witte („Über einige Motive bei Giorgio Agamben“) Agamben vor dem Hintergrund von Benjamins These des „Kapitalismus als Religion“ und auf dieser Quellengrundlage gelingt ihm eine tiefgründige Kritik am aktuellen Zeitgeist. Claas Morgenroth wiederum interpretiert die Politiktheorien Agambens („Benjamin – Agamben. Politik der Posthistorie“) als eine Vision gegen den aktuellen Bedeutungsverlust der Politik. Agambens Theorien bilden dabei eine theoriesprachliche Vision im Sog Benjamins, eine „konstellative Historik“ also, die dem Geschichtsbegriff eine dialektische Beweglichkeit einbringt.

Die Aufsätze Karl Solibakkes („Geschichte als Trauerspiel in Schillers Wallenstein-Trilogie: Benjamin und Agamben“), Boris Groys’ („Unsterbliche Körper, oder die Materialistische Metanoia) und Eva Geulens („Agambens Politik der Nicht-Beziehung“) runden  den theoretischen Rahmen dieses ersten Teils durch Fallstudien ab, die Agambens Denken direkt oder indirekt nachgehen.

Der zweite, englischsprachige Teil zum Thema des Messianismus und des Gesetz versammelt Texte, die sämtlich als Deklinationen der Denkwelten Agambens und Benjamins zu lesen sind, sei es aus  literatur-, kulturwissenschaftlicher oder philosophischer Perspektive: angefangen bei dem umfangreichen, detaillierten Aufsatz des brillianten Schüler Gershom Scholems Moshe Idel („‚Torah Hadashah‘ – Messiah and the New Torah in Jewish Mysticism and Modern Scholarship“), über den einleitenden Beitrag von Vivian Liska („The Messiah before the Law. Giorgio Agamben and Kafka“), die der Beziehung zwischen dem Messias und dem Gesetz systematisch nachgeht; und den Aufsatz von Sigrid Weigel („‚In ungeheueren Fällen‘ – Benjamin’s ‚Critique of Violence‘ and Constitutional Law“), der dem Zusammensein von Ausnahmezustand und Gewalt bei Agamben und Benjamin gewidmet ist, bis hin zu Micha Brumliks „Postmoderne Views of the Founder of Christianity“. Dazu kommen die interessanten und originellen case studies von Tamara Eisenberg („Neither Christ nor Barbarossa: Heinrich Heines ‚Messiah in Golden Chains‘“) und Lieven De Cauter („The Tyrant as Messiah. The Role of Messianism and Antinomianism in Neoconservative Ideology“).

Das Buch basiert demnach auf den zentralen Fragestellungen Agambens und Benjamins, ohne diese Denker schlichtweg zu huldigen, da mögliche politische und philosophische Folgen ihrer lebensorientierten Ansätze stets kritisch präsent sind. Der Hauptverdienst des Bandes liegt dabei darin, das Leben nicht nur und nicht mehr als eine reine biopolitische Kategorie zu fassen, sondern als ein vielfältiges, komplexes Phänomen, durch das Geschichte, Politik und Theologie als Artikulationen des Lebens selbst erscheinen.

Titelbild

Vittoria Borso / Claas Morgenroth / Karl Solibakke / Bernd Witte (Hg.): Benjamin - Agamben. Politik, Messianismus, Kabbala Politics, Messianism, Kabbalah.
Aus der Reihe Benjamin-Blätter 4.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010.
270 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783826044366

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