Kann man Fotos lesen?

Bernd Stieglers Studien zur Kulturtechnik der Fotografie

Von Thomas BitterlichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Bitterlich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bernd Stiegler, Literatur- und Medienwissenschaftler in Konstanz, hat jüngst in einem Sammelband eigene Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 2005-2009 erneut publiziert. In „Montagen des Realen“ geht es ihm, wie der Untertitel andeutet, um die „Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik“. Mich interessiert hier vor allem die Verwendung des Begriffs „Kulturtechnik“.

Zunächst fällt auf, dass die Frage der Kulturtechnik gegenüber der Beschreibung von Fotografie als Reflexionsmedium nachrangig behandelt wird. Nur zwei Aufsätze führen den Begriff „Kulturtechnik“ im Titel. Bezeichnend ist auch die geringe Mühe, die in der Einleitung auf die Erläuterung des Begriffs verwendet wird. Ein Halbsatz enthält verstreute Hinweise zu der in diesem Aufsatzband favorisierten Begriffsbedeutung. Dort heißt es, dass Fotografie „immer auch eine Form kultureller Praxis, eine Kulturtechnik“ sei. Ferner wird ausgeführt, sie sei erlernt und gehorche eigenen Regeln. Insofern werden die zwei Aufsätze jenem Diskurs (vergleiche Hanun Maye in „Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2/2010“) zugeordnet, der mit dem Begriff „Kulturtechnik“ eine Perspektive in der Medienwissenschaft einfordert, die den Blick von der Medientechnik zum Umgang mit Medien wenden will. Dabei wird der Fokus auf Technik oder die materiellen Gegebenheiten nicht aufgegeben, sondern historisiert und im kulturellen Kontext betrachtet. Aus dieser Sicht sind „Kulturtechniken“ auf Medien bezogene Handlungen und Verhaltensweisen, die quasi autonom ablaufen und deren Existenz und Gebrauch ungefragt hingenommen wird. Der Verweis auf ihre nicht natürliche Eigenart – erlernt und regelbestimmt – weicht von dieser Bedeutung ab und betont eher Vorstellungen, die mit kulturellen Praktiken generell verbunden sind.

Im Unterschied dazu werden unter „Photographie als Reflexionsmedium“ Phänomene gefasst, bei denen über oder mit Fotografie Wahrnehmung als konstruiert erfahren wird. Stiegler hebt hervor, dass Fotografie (Theoriebildung) und Fotografien in den letzten hundert Jahren immer wieder als Erprobungsraum dienten, um die „kulturelle, gesellschaftliche, technische und ästhetische“ Beschaffenheit von Wahrnehmung zu denken. Teil der ungleichen Konzeptionalisierung ist eine zunächst fehlende Trennung zwischen beiden Begriffen. Die von der Fotografie gewissermaßen ständig produzierte Aufforderung, über die Konstruktion von Wahrnehmung zu reflektieren, könnte selbst wiederum als Kulturtechnik beschrieben werden. Sie wäre demnach auch als eingeschliffene Praxis verstehbar, die die Fragwürdigkeit von Wahrnehmung anerkennt, aber letztlich folgenlos reflektiert.

Dass die Begriffe „Kulturtechnik“ und „Reflexionsmedium“ nicht voneinander unterschieden werden, zeigen über den Band verstreute Textstellen, in denen Umschreibungen von Kulturtechnik in Aufsätze über Fotografie als Reflexionsmedium hineinmontiert wirken. So heißt es im ersten Beitrag über das Potential der Fotografie, den Wirklichkeitsbezug der Wahrnehmung zur Diskussion zu stellen, dass dieses Potential auch vom Stand der Technik und der sozialen Praxis abhängig sei. Als „soziale Praxis“ wird der von Regeln geleitete alltägliche Umgang mit der Fotografie bestimmt, der ihre Zuschreibungen und Funktionen festlege, ganz ähnlich also wie „Kulturtechnik“. Vielleicht wurde auf eine explizite Verwendung wegen der gleichzeitig erwähnten technischen Abhängigkeit verzichtet. In „Vierzehn Arten das Reale zu beschreiben“ wird mit „sozialer Praxis“ eine Richtung innerhalb der Fotografie-Theorie etikettiert. Sie sei eine Möglichkeit, das Verhältnis von Fotografie und Wirklichkeit zu beschreiben. „Soziale Praxis“ kennzeichnet nach Stiegler eine Perspektive, welche Fotografien als Abbilder sozialer Kodierungen betrachtet, wodurch der Realitätsbezug gegenüber der durch die Fotografie vorgenommenen Inszenierung abgewertet wird.

Aus diesen zwei Textstellen lässt sich ableiten, was auch der Aufsatz „Walter Benjamins Photoalbum oder das Lesen von Photographien als Kulturtechnik“ bestätigt: Der Schwerpunkt „Kulturtechnik“ ist der Betrachtung von Fotografie als Reflexionsmedium nicht gleichgestellt, sondern nur ein Spezialfall dieser Perspektive. In diesem Beitrag zu Walter Benjamins „Kleiner Geschichte der Photographie“ wird das Lesen von Fotografien als „Kulturtechnik“ bestimmt. Das sei, so anscheinend viele Theoretiker und Praktiker der 1920er- und 1930er-Jahre, notwendig geworden, um sich in der Gegenwart der Moderne orientieren und an ihr partizipieren zu können. Von diesem Trend wird Walter Benjamin abgehoben, weil er als einer der wenigen einen historischen Standpunkt wählte. Dadurch werde Fotografie als kulturelle, zeitgebundene Praxis erkennbar. Vom Status einer anthropologischen Notwendigkeit befreit, nimmt die Forderung nach einer bewussten Lektüre von Fotografien eine andere Dimension an.

Es geht, so Stiegler, um die geschichtsphilosophische Stellung der Fotografie, deren Erfindung Walter Benjamin als Indikator für eine Paradigmenwechsel interpretiere. Sie sei eine von vielen Neuerungen, durch die vielgliedrige Verfahren auf einen Knopfdruck reduziert werden. Das „Knipsen“, das heißt die Bildherstellung im Handstreich, führe, so die These Walter Benjamins nach Stiegler, zu einer veränderten Einstellung des Subjekts. Die Eigenart dieser Veränderung wird durch die Begriffe „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ beschrieben. Statt der bisher in der Bildenden Kunst oder Literatur üblichen langzeitbelichteten Erinnerungsbilder – den Verdichtungen der Wirklichkeit – entstünden nun durch die Fotografie Schockbilder, Momentaufnahmen des Gedächtnisses. Waren Bilder vor der Fotografie Ausdruck des menschlichen (Gestalt-)Willens, offenbare diese nun das Unbewusste und Nicht-Kontrollierbare.

Zugespitzt könnte man formulieren, dass die derart verstandene Kulturtechnik der Fotografie nicht für sich als kulturelle Praxis beschrieben wird, sondern Benjamin nur als Beispiel dient, um eine historisch spezifische Wahrnehmung des Menschen auf den ‚Knopfdruck zu bringen‘ – Fotografie als Grundmodell des modernen Subjektes. Aus dieser Sicht steht der Begriff „Kulturtechnik“ im Gegensatz zur Kultur der Frühen Neuzeit, insbesondere zur Konzeption des bürgerlichen Subjekts und der daraus sich ergebenden Konsequenzen für die (künstlerische) Repräsentation der Wirklichkeit.

Diese geschichtsphilosophische Begriffsbedeutung wird im zweiten auf „Kulturtechnik“ bezogenen Beitrag „Montage als Kulturtechnik“ akzentuiert, in Richtung der Benjamin’schen Kritik am auratischen Charakter der Kunst. Die Wahl des Begriffs ist hier programmatisch und wird als Alternative zur bisher üblichen Vorstellung von Intertextualität etabliert (womit sich Stiegler der Begriffsverwendung bei Sybille Krämer und Horst Bredekamp in „Bild, Schrift, Zahl“ 2003 annähert). Montage als Kulturtechnik betone nicht die Verbindungen, die ein Text zu anderen habe, sondern verweise auf die Schnitte. Welche vielfältigen Bedeutungen durch Arrangieren von vorgefertigten und zugeschnittenen Materialien entstehen, ist bei diesem Ansatz nebensächlich. Statt der Sinnvervielfältigung akzentuiere diese Perspektive die ordnungsschaffende Funktion, mithin das Ergebnis der Montage, nicht den Prozess. Geht Stiegler in der Einleitung und in einigen Aufsätzen noch davon aus, dass die Fotografie eine eigentümliche Stellung zwischen Kunstwerk und Dokument einnehme, verschiebt sich durch dieses Montageverständnis der Akzent in Richtung „Dokument“. „Kulturtechnik“ steht hier für eine spezifische Wahrnehmung der Fotografie und deren Verankerung im Alltag. Auf diese Weise begriffen werden Montagen als Symptome kultureller Entwicklung lesbar. Die Montage sei ein „Indikator kultureller Umbruchsituationen“. Durch sie würden „Experimentierfelder neuer sozialer Konstellationen entstehen“. Zwar wird auch hervorgehoben, dass durch Montage neue Raum- und Zeitverhältnisse entstünden oder heterogene Bestandteile eine homogene Gesamtheit bilden würden, aber diese ästhetischen Betrachtungen werden letztlich wiederum kulturell gedeutet.

Insgesamt lässt sich nun feststellen, dass der Begriff „Kulturtechnik“ bei Stiegler theoretisch unterbestimmt ist und im Aufsatzband selten verwendet wird. Das liegt möglicherweise an dem späten Erscheinungsdatum der zwei relevanten Aufsätze, die erst 2008 entstanden. Dieser historischen Entwicklung und der Unterbestimmung ist es geschuldet, dass „Kulturtechnik“ in verschiedenen Bedeutungen und manchmal unscharf verwendet wird. So werden „soziale und kulturelle Praxis“ und „Kulturtechnik“ synonym gebraucht und büßen dadurch an Unterscheidungsvermögen ein. Bei allen hier genannten Verwendungen bezieht sich der Begriff auf verschiedene Phänomene. Die Kulturtechnik Fotografie als soziale Praxis betrachtet legt den Schwerpunkt auf den alltäglichen Umgang mit Fotografien. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit kann ebenfalls Kulturtechnik heißen. Bei Walter Benjamin geht es weniger um Fotografien, sondern mehr um ein sich daran manifestierendes Verhältnis zwischen Subjekt und Welt. Wird die Montage als Kulturtechnik beschrieben, steht wiederum ein konkreter Umgang mit ‚Bildern‘ im Vordergrund. Es ist nachvollziehbar, dass ein Begriff unter verschiedenen (diskursiven) Vorzeichen unterschiedliche Bedeutungen hat und in der Form eines Aufsatzes nicht alle Implikationen einer Begriffsverwendung ausbuchstabiert werden können. Zumindest in der Einleitung wünscht man sich aber mehr als eine metaphorische Klammer und kann nur hoffen, dass in noch folgenden Publikationen das Konzept „Kulturtechnik Photographie“ gestärkt wird. Zum einen wäre davon eine stärkere Historisierung des Begriffs zu erwarten, der sich einmal nicht auf ‚anthropologische Grundtatsachen‘ wie Rechnen, Lesen und Schreiben beziehen würde. Zum anderen könnten dadurch empirische Untersuchungen gefördert werden, wenn – allerdings unter Abwendung vom Benjamin’schen Begriffsverständnis – die sozial und kulturell verschiedenen Praktiken des Lesens von Fotografien untersucht würden.

Titelbild

Bernd Stiegler: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik.
Wilhelm Fink Verlag, München 2009.
321 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783770547951

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