Wenn großes Glück aus großem Unglück entsteht

Über Alice Munros Erzählband „Zu viel Glück“

Von Dorothea HansRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Hans

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alice Munro gilt seit Jahren als heiße Anwärterin für den Literaturnobelpreis. Der literarische Ruhm der Kanadierin gründet sich fast ausschließlich auf ihre Kurzgeschichten. Bisher sind 13 Erzählbände und ein Roman erschienen.

Munros neueste Veröffentlichung umfasst zehn Erzählungen und lässt den Leser bereits beim Titel „Zu viel Glück“ stutzig werden. Gibt es das? Wie soll es aussehen, das zu viele Glück? Mit gefälliger Leichtigkeit wird der Leser schon ab der ersten Seite in diese Fragestellung hineingezogen. Welches Band hält eine Mutter und den Mörder ihrer Kinder zusammen? Was bringt eine junge engagierte Studentin dazu, nackt mit einem alten Mann zu dinieren? Warum teilen sich Lehrerin und Schülerin ein Schicksal, ohne davon zu wissen? Munro versteht es ihren Leser rasch zu ködern. Bis über das Ende ihrer Erzählungen hinaus.

Jede Geschichte von Alice Munro ist eine Lektion über das Leben und dessen Wege. In den Zwischentönen der menschlichen Beziehungen findet sich die Schriftstellerin wieder. Ihre Beobachtungen sind genau und präzise, direkt und nüchtern. Themen und Schauplätze sind vertraut, doch indem sie den Leser in die Seelen der Figuren einfühlen lässt, macht sie ihn zu ihrem Komplizen. Die Gedanken von Leser und Figur gleichen sich an. Beispiel für diese meisterliche Leistung ist die Figur der Mutter der ermordeten Kinder. Sie schafft es nicht, sich vom Mörder zu lösen und schafft so auch Zweifel im Leser: „…wer wollte sagen, dass die Visionen eines Menschen, der so etwas getan und solch eine Reise zurückgelegt hatte, nicht etwas bedeuten konnten?“

Es bleibt bei diesem Verhältnis zwischen Munro und ihrem Leser. Die Geschichten hallen nach. Munro überrascht die Leser. Eine Erwartungshaltung stellt sich ein, die aber nicht immer erfüllt werden kann. Die Kurzgeschichte „Erzählungen“ ist recht mäßig. Die Sprache, die Munro ihren jungen Leuten in den Mund legt, wirkt holperig, nicht authentisch. Auch der Ausgang der Geschichte ist weniger raffiniert als erhofft.

Die Symbolik derer sich Munro bedient ist beachtlich. In „Manche Frauen“ kommt diese besonders zum Tragen und erinnert an den Stil Tennessee Williams und Edgar Allan Poes. Zwei Frauen buhlen um die Gunst eines todkranken Mannes. Die fiebrig schwüle Luft vor einem Gewitter und ein versteckter Schlüssel sind noch die offensichtlichsten Zeichen, derer sich die Autorin bedient.

In dem Erzählband sind viele Höhepunkte zu finden. In „Kinderspiel“ fühlt sich Munro mit in die Dynamik zweier Ferienlagerfreundinnen ein. Ihre letzte Erzählung „Zu viel Glück“ zeichnet die letzten Tage im Leben der Russin Sofia Kowalewskaja nach. Sie war die erste Frau weltweit, die Professorin für Mathematik wurde. Neben der eigentlichen Tragik der Figur ist die romanhafte Erzählweise dieser Kurzgeschichte bemerkenswert.

Die von Munro entworfenen Episoden markieren Wendepunkte im Leben ihrer Protagonisten, die nachhallen, schwer wiegen und Schicksale schreiben. Genau hier setzt Munro ihr Maß für das zu viele oder zu wenige Glück an. Sie entwickelt ihre Erzählungen aus einer scheinbar allgemein gültigen Ironie heraus, die sie einem ihrer Helden selbst in den Mund legt: „Es schien fast, als müsse es eine wahllose und natürlich ungerechte Sparsamkeit in der Haushaltsführung der Welt geben, wenn das große Glück eines Menschen – wie vergänglich und zerbrechlich auch immer – aus dem großen Unglück eines anderen kommen konnte.“ Auf dieser Erkenntnis basieren alle Erzählungen des Bandes. Es sind Begegnungen und Ereignisse, aus denen sich das Verhältnis von Glück neu definiert. Sie nehmen unvorhersehbare Wendungen und geben zur gleichen Zeit eine Antwort auf den Titel “Zu viel Glück“.

Nicht allein Munros Geschichten über das Leben sind als Lehrstücke bemerkenswert. Sie werden durch den Schreibstil der Autorin vollendet, der in aller Einfachheit in einer anrührenden, bedächtigen und gleichzeitig exakten, nüchternen Weise den Zugang zum Innenleben ihrer Figuren erlaubt.

Titelbild

Alice Munro: Zu viel Glück. Zehn Erzählungen.
Aus dem Englischen übersetzt von Heidi Zerning.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011.
363 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783100488336

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