Spannend und anregend

Alfred Grosser hält in seinem Buch „Die Freude und der Tod“ Rückschau auf sein Leben

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem neuen Buch „Die Freude und der Tod“ hält der bekannte Politologe und Publizist Alfred Grosser Rückschau auf sein bisheriges Leben. Er erläutert die Grundlagen seines Denkens sowie seines politischen und gesellschaftlichen Engagements. Er berichtet darüber, wer und was ihn geprägt hat und erzählt von politischen Freunden und Feinden. Grosser, der sich selbst als „Moralpädagoge“ bezeichnet, bezieht dabei unmissverständlich und sachkundig Position zum jeweils aktuellen Geschehen, etwas was er seit mehr als 60 Jahren in Reden, Artikeln, Büchern (inzwischen sind es über 30 geworden) und in medialen Auftritten praktiziert.

Viele Chancen seien ihm vergönnt gewesen, schreibt er, die ein beinahe ständiges Glücklichsein erlaubten, auch wenn manche Umstände eher auf eine Tragödie hingewiesen hätten als auf ein Lustspiel. Der 1925 in Frankfurt am Main geborene Sohn einer jüdischen Familie emigrierte im Dezember 1933 mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester nach Frankreich. Durch den frühen Tod des Vaters im Februar 1934 und den der Schwester wenige Jahre später sei sein Leben bis zum heutigen Tag vom Gedanken des Todes begleitet worden. Später erfuhr er vom Transport der Schwester seines Vaters und ihres Gatten nach Auschwitz. Doch sei es ihm gelungen, den Weg nicht zur klagenden, sondern zu schöpferischen Erinnerung zu finden. Auch habe ihn der Gedanke an den Tod stets dazu angetrieben, „keine Zeit mit Unnützem zu vergeuden“. Grosser – als Germanist schrieb er eine Habilitationsschrift über den deutschen Pietismus und wirkte als Professor am Institut d’études politiques in Paris – versteht sich als „Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kulturen“. 1975 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und später, neben vielen anderen Auszeichnungen, das große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland.

Als Politologe und Historiker habe er eine gewisse Allergie gegenüber großen Theorien, ohne deswegen ein „Empirist“ zu sein. Doch sei es für ihn wichtig, gegen Mythen anzugehen und durch vernünftiges Wissen zu zerstören, zudem könne er als Politikwissenschaftler und Historiker nicht auf moralische Bewertungen verzichten. „Ich analysiere und predige. Andere leisten die Grabenarbeit.“ Auch wende er sich nie an die Instinkte seiner Zuhörerschaft, sondern nur an ihre Vernunft und ihren Sinn für Ethik, verbunden mit der Aufforderung, sich in der Skala ihres Menschseins zu steigern. Allerdings sei ihm die Lust an der Provokation keineswegs fremd. Denn Mittler zu sein bedeutet durchaus nicht, Konflikte zu verniedlichen.

Auf einigen Seiten des Buches erinnert sich der Autor an seine Reden im Bundestag, seine Ansprachen auf Kirchentagen – erst jüngst war er im Juni dieses Jahres Redner auf dem evangelischen Kirchentag in Dresden –, an seine Laudatio für Marion Dönhoff zu ihrem Friedenspreis und seine eigene Dankesrede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, wobei er unumwunden zugibt, dass ihm Diskussionen lieber seien als Reden.

Er äußert sich ferner über die einstige Luftbrücke und den damaligen Marshallplan, die zu einer gewissen Untertänigkeit der Bundesrepublik gegenüber den USA geführt und erst mit Schröders „Nein“ zum Irakkrieg ein Ende gefunden hätten. Philipp Jenningers verunglückte Rede vor dem Bundestag wird ebenso erwähnt wie die Rolle des Geldes in unserer Zeit, die Benachteiligung der Frauen in der katholischen Kirche, das prekäre Verhältnis der Deutschen zu Juden – “es ist in Deutschland schlimmer, einen Juden zu töten als einen Nichtjuden“ –, die noch immer nicht überwundene Kluft zwischen den alten und den nicht mehr so neuen Bundesländern. Auch nimmt er Stellung zu ökonomischen und medialen Entwicklungen. Das Problem Israel und Palästina streift Grosser, der mit seiner israelkritischen Haltung schon oft Kontroversen und Widerspruch ausgelöst hat  –auch beim Zentralrat der Juden in Deutschland –, nur kurz.

Er erwähnt außerdem seine diversen Tätigkeiten für die deutsche und französische Presse sowie für Funk und Fernsehen in beiden Ländern. 1955 wurde er Kolumnist bei der einzigen überregionalen katholischen Tageszeitung in Frankreich, „La Croix“ (Das Kreuz), für die er heute noch schreibt. Er gewährt Einblick in sein Familienleben, schreibt liebe- und respektvoll über seine Mutter und seine Frau, über die Geburt seiner vier Kinder und plaudert voller Stolz von seinen Enkelkindern.

Immer wieder aber ist man erstaunt, auf wie vielen Gebieten Grosser bewandert ist, wie viele Menschen von Rang und Namen er kennt, mit ihnen Kontakt hat oder sogar befreundet ist: Hans Küng, Hans Maier – mit ihnen nahm er am Baden-Badener-Disput teil – Bernard Kouchner, dem Mitbegründer der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ und vielen anderen. Auch ist er ein bewunderter Freund Rupert Neudecks.

Stolz ist er darauf, als Franzose in Deutschland und als Atheist im französischen Katholizismus mitzuwirken. Tatsächlich arbeitet er mit etlichen christlichen Einrichtungen, Verbänden und Publikationen zusammen, obwohl er, im Gegensatz zu seiner Frau, nicht gläubig ist, und war Gast sowohl in der evangelischen Akademie Tutzing als auch in der katholischen Akademie Freiburg. Er erkennt die positiven Seiten der Kirche an und ist mit nicht wenigen Priestern befreundet, was ihn keineswegs daran hindert, sich kritisch mit der Haltung der Kirche während des „Dritten Reiches“ und mit ihrer gegenwärtigen Stellung zu Abtreibungen auseinanderzusetzen und dem jetzigen Papst Benedikt XVI. allerlei Versäumnisse vorzuwerfen.

In aller Ausführlichkeit erklärt er nochmals seine Position als Atheist, die er vor einigen Jahren in seinem Buch „Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen“ dargelegt hatte, und zwar durchaus überzeugend und plausibel. Immerhin akzeptiert der atheistische Humanismus, laut Grosser, die Grenzen der menschlichen Existenz.

Kein Zweifel, Alfred Grosser ist gescheit, belesen und vielseitig orientiert – mitunter verliert er sich in viele Details – und weiß sich, ins rechte Licht zu setzen. „Bescheiden habe ich nie sein wollen“, gibt er freimütig zu.

Der Leser indes wird durch sein neues Buch mit einem wichtigen Stück Nachkriegs- und Zeitgeschichte konfrontiert sowie mit relevanten, auch kulturellen Problemen und Gesichtspunkten der Gegenwart. Zudem dürfte er mit seiner harschen Kritik am derzeitigen Regietheater und anderen Phänomenen manchem Leser aus der Seele gesprochen haben. Auf jeden Fall ist die mit einigen schwarz-weiß-Fotos, einer Liste von Buchveröffentlichungen und einer Übersicht der Lebensdaten und Namensregister ausgestattete Publikation eine spannende und anregende Lektüre.

Titelbild

Alfred Grosser: Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz.
Rowohlt Verlag, Berlin 2011.
288 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498025175

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