Eine gescheiterte Utopie der Gewaltlosigkeit in einer Sklavenhaltergesellschaft

Über Heinrich von Kleists „Verlobung in St. Domingo“

Von Anette HornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Horn

Die Frage des Vertrauens und Misstrauens ist in Kleists Werk zentral. Sie hängt auf engste mit der Frage nach verbindlichen ethischen Werten zusammen, die in einem Diskurs verankert wären, der den Zeichen einen eindeutigen Sinn verleiht. Besonders akut äußert sich diese Krise des Sprechens und Handelns um 1800 in Kleists Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“. Die Eindeutigkeit des Signifikats wird schon in der Beschreibung des einen Protagonisten als eines „von der Goldküste von Afrika herstammende[n] Mensch[en], der in seiner Jugend von treuer und rechtschaffener Gemütsart schien“ durch das Verb „schien“ relativiert. Hier klingt auch bereits das Epithet „treu“ an, das man wohl durch das Nomen „Diener“ ergänzen muss, angesichts des kolonialistischen Kontextes, in dem diese Erzählung spielt. Ein Diener scheint aber bloß treu zu sein, das heißt man kann ihm nicht vertrauen oder alles zutrauen. Das erscheint als moralischer Fehler des Dieners und wird nicht durch die Herrschaftsverhältnisse begründet – in diesem Fall der Sklaverei – die ein ethisches Handeln, das auf Gegenseitigkeit beruht, verhindert.

Wichtig ist in Kleists Erzählung weiter die Verwischung des Unterschieds zwischen „Rasse“ und Individuum, so als ob die Einzelnen nicht genug ausdifferenziert wären, um als unterschiedene Individuen aufzutreten. Es ist auffällig, wie oft in der Erzählung Rassenmerkmale benutzt werden, um Personen zu klassifizieren. So wird Tonis „verbranntes Gesicht“ und „ins Gelbliche gehende Gesichtsfarbe“ betont, „die zu dieser gräßlichen List besonders brauchbar war“. Gemeint ist ihre Funktion als Lockvogel im Partisanenkrieg zwischen Schwarzen und Weißen. Die schwarze Frau wird von den Partisanen eingesetzt, um den weißen Mann zu verführen, damit er – ans Bett gefesselt – ans Messer geliefert werden kann.

Gustav von der Ried beruft sich auf den Unterschied zwischen „Rasse“ und Individuum, wenn er Stellung zur Rache der Schwarzen an den Weißen nimmt. Auf die Frage Tonis, „wodurch sich denn die Weißen daselbst so verhaßt gemacht hätten?“ erwiderte er „betroffen“, „durch das allgemeine Verhältnis, das sie, als Herren der Insel, zu den Schwarzen hatten, und das ich, die Wahrheit zu gestehen, mich nicht unterfangen will, in Schutz zu nehmen; das aber schon seit vielen Jahrhunderten auf diese Weise bestand! Der Wahnsinn der Freiheit, der alle diese Pflanzungen ergriffen hat, trieb die Negern und Kreolen, die Ketten, die sie drückten, zu brechen, und an den Weißen wegen vielfacher und tadelnswürdiger Mißhandlungen, die sie von einigen schlechten Mitgliedern derselben erlitten, Rache zu nehmen.“

Es ist, als ob die Jahrhunderte alte Institution der Sklaverei diese rechtfertigte, an der sich dann doch alle Weißen beteiligt und bereichert haben, auch wenn ihnen persönlich keine Gräueltaten angelastet werden können. Es sind lediglich die „schlechten Mitglieder“ der „weißen Rasse“, die die Rache der Schwarzen verdienen. Diese berechtigte Rache wird jedoch durch die Finte eines „einzigen schwarzen Mädchens“, die ihren Herren ins Bett lockt, um ihm die Gelbsucht zu geben, außer Kraft gesetzt, da sie jedes Maß übersteigt. Ihr Motiv wird dabei aber außer Acht gelassen, nämlich dass sie „drei Jahre zuvor einem Pflanzer vom Geschlecht der Weißen als Sklavin gedient“ hatte, „der sie aus Empfindlichkeit, weil sie sich seinen Wünschen nicht willfährig gezeigt hatte, hart behandelt und nachher an einen kreolischen Pflanzer verkauft hatte“. Die Frage stellt sich sofort, wessen Empfindlichkeit hier verletzt wurde. Es scheint, als ob die Rache der Frau für die Gewalt, die ihr in der Intimsphäre angetan wurde, und die sie nun mit Gleichem erwidert, jedes Maß der Fairness überschreitet. Die Frauen dürfen offensichtlich von den Männern im Kleinkrieg eingesetzt werden, doch dürfen sie nicht eigenhändig Rache üben.

Neben der Frage der Rassenzugehörigkeit spielt das Geschlecht eine zumindest ebenso wichtige Rolle. Das Wort Geschlecht wird aber auch als Synonym für „Rasse“ verwendet, wenn etwa „vom Geschlecht der Weißen“ gesprochen wird. Es ist zudem, als ob der Rassenunterschied das Begehren nach dem Anderen geradezu schürt, einerseits als dem Wunsch nach dem Fremden und Exotischen und andererseits durch die Verfügbarkeit der schwarzen oder farbigen Frau, da sie als Sklavin ja Besitz des weißen Herrn ist. Somit scheint die sexuelle Beziehung die individuelle Liebe auszuschließen, obwohl das gerade in der Verlobung Tonis und des Fremden, Gustav von der Ried, geleugnet wird, die ja zu einer Ehe führen soll, die jedoch durch den Doppelmord verhindert wird. Die Erzählung scheint aber gerade in Gustavs Haltung Toni gegenüber zwischen der Angst vor der Rache der Schwarzen und der individuellen romantischen Liebe ständig zu oszillieren. Es ist, als ob Gustav die Liebe einsetzt, um sich vor der berechtigten Rache der Sklaven zu schützen und in Sicherheit zu wähnen. Aber auch Toni beruft sich auf die Liebe, um ihrer Zugehörigkeit zu einer als minderwertig angesehenen „Rasse“ zu entkommen und zur Seite der Weißen überzulaufen, was wiederum als Verrat an der Sache der schwarzen Aufständischen um Congo Hoango geahndet wird.

Diese Liebe findet aber selbst nicht ohne Gewalt statt. Toni ist ausdrücklich von Babekan und Congo Hoango gewarnt worden, vor der letzten Gunst beim Einsatz ihrer Verführungskünste halt zu machen. Bezeichnenderweise übergeht der Erzähler hier eine Episode mit dem Hinweis, dass die Leser und Leserinnen nun wüssten, was passieren würde. Danach wird Toni aber weinend mit ihren Armen vor den Brüsten verschränkt beschrieben. Das wirft die Frage auf, ob es sich hier um eine Vergewaltigung handele, denn diese heftige Reaktion fehlt sonst im empfindsamen Diskurs, der durch den Hinweis auf Tonis „schöne Seele“ anzitiert wird. Außerdem finden die Treuegelübde auch nur nach diesem gewaltsamen Geschlechtsakt statt, als ob Gustav dadurch Tonis Ängste besänftigen wollte. Er schenkt ihr nun die Halskette mit dem Kreuz von seiner verstorbenen Verlobten, Mariane, die für ihn in den Tod gegangen war, um ihn vor den französischen Revolutionären nicht zu verraten.

Gustav sieht die Verführung jedoch nicht als einen Akt der Gewalt an, sondern leitet sie mit der Absicht ein, festzustellen, ob sie ein Herz habe. Dazu „zog er sie auf seinen Schoß nieder und fragte sie: ‚ob sie schon einem Bräutigam verlobt wäre?‘ Nein! lispelte das Mädchen, indem sie ihre großen schwarzen Augen in lieblicher Verschämtheit zur Erde schlug.“ Darauf erzählt Toni ihm, dass sie den Heiratsantrag eines jungen Negers aus der Nachbarschaft, Konelly, ausgeschlagen hätte mit der Begründung, dass „sie noch zu jung wäre“. Gustav, indem er „mit seinen beiden Händen ihren schlanken Leib umfaßt hielt“, macht sich die fast noch minderjährige Toni gefügig, indem er ihr entgegenhält, dass in seinem Lande „nach einem daselbst herrschenden Sprichwort, ein Mädchen von vierzehn Jahren und sieben Wochen bejahrt genug, um zu heiraten“ sei. Als Toni Gustav auf dessen Frage verrät, dass sie fünfzehn Jahre alt sei, somit also nach damaligen europäischen Vorstellungen volljährig, fragt dieser weiter, ob Konelly nicht über genug Geld verfüge, worauf Toni dessen Wendung zu einem reichen Mann schildert. Beschämt lachend gibt sie es zu, als Gustav „ihr scherzend ins Ohr geflüstert: ob es vielleicht ein Weißer sein müsse, der ihre Gunst davon tragen solle?“ Darauf „legte sie sich plötzlich, nach einem flüchtigen, träumerischen Bedenken, unter einem überaus reizenden Erröten, das über ihr verbranntes Gesicht aufloderte, an seine Brust.“

Man weiß in diesem Augenblick nicht, ob Toni ihm berechnend ihre Liebe vortäuscht, oder ob sie sich in die „schöne Seele“ verwandelt hat, die Gustav sich erhofft. Die Sprache ist nun die der „schönen Seele“ im Diskurs der Empfindsamkeit: „Der Fremde, von ihrer Anmut und Lieblichkeit gerührt, nannte sie sein liebes Mädchen, und schloß sie, wie durch göttliche Hand von jeder Sorge erlöst, in seine Arme. Es war ihm unmöglich zu glauben, daß alle diese Bewegungen, die er an ihr wahrnahm, der bloße elende Ausdruck einer kalten und gräßlichen Verräterei sein sollten. Die Gedanken, die ihn beunruhigt hatten, wichen, wie ein Heer schauerlicher Vögel, von ihm; er schalt sich, ihr Herz nur einen Augenblick verkannt zu haben, und während er sie auf seinen Knien schaukelte, und den süßen Atem einsog, den sie ihm heraufsandte, drückte er, gleichsam zum Zeichen der Aussöhnung und Vergebung, einen Kuß auf ihre Stirn.“

Interessant ist die Kombination des empfindsamen Liebesdiskurses mit seinem Wunsch nach Aussöhnung und Vergebung, der durch den Kuss besiegelt wird, denn er ist ein Zeichen dafür, dass er ihr misstraut hat und nun nach den Zeichen ihrer wahren Gefühle (die durch das unfreiwillige Erröten und die damit zusammenhängende Scham verbürgt zu sein scheint) ihr wieder sein Vertrauen schenken kann. Er befindet sich in einem ständigen Wechselbad der Gefühle, was seine grundlegende Ambivalenz Toni gegenüber in dieser Situation zeigt. Er versucht die negativen Gefühle auszublenden, indem er Toni an sich bindet, zunächst durch seine Tändeleien, dann durch den Geschlechtsakt und schließlich durch das Brautgeschenk.

Um den Betrug jedoch auszuschließen, benutzt Gustav außerdem die Zeichen des empfindsamen Liebesdiskurses, der ja die Treue der Liebenden bis zum Tod fordert. Dass diese Forderung dann aber schon am folgenden Abend eingelöst wird, ist eher ungewöhnlich in empfindsamen Liebeserzählungen und macht die vielschichtige Komplexität dieser Erzählung aus.

Bevor es aber zum Geschlechtsakt kommt, der im empfindsamen Liebesdiskurs eigentlich erst in der Ehe erlaubt ist und der angesichts des Altersunterschiedes zwischen Toni und Gustav sowie des Tabus, das Babekan und Congo Hoango auf ihn gelegt haben, als eine Vergewaltigung verstanden werden muss, steht der Vergleich Gustavs zwischen Toni und seiner früheren Verlobten, Mariane Congreve, an die Toni ihn angeblich erinnert. Es erscheint merkwürdig, dass er in diesem Moment die Rassenmerkmale an ihr übersieht, die ihn sonst immer befremdet hatten. Indem er Toni die Geschichte von Marianes Aufopferung als Zeichen der äußersten Treue erzählt, versucht er Toni zu derselben Hingabe zu verpflichten. Das wird durch die Halskette, die er Mariane geschenkt hatte, und die er nun an Toni „als ein Brautgeschenk“ weitergibt, symbolisiert. Dass Toni damit zu einem Ersatz für Mariane wird, zeigt aber auch seine Unfähigkeit, zwischen beiden zu unterscheiden: beide Male sieht er die Frau nur als sich für den Mann aufopferndes Wesen.

Das Brautgeschenk scheint somit doppelt kodiert: Das Kreuz ist zugleich Symbol des Opfertodes Christi und Zeichen des Eheversprechens, der Verlobung, auf die der Titel der Erzählung anspielt. Trotzdem ist sie keines von beiden, denn Toni opfert ihr Leben nicht bewusst für Gustav auf, ebenso wenig wie Gustav sein Eheversprechen einlösen kann. Dazu fehlt es am grundlegenden Vertrauen, auf das Tonis letzte Worte „du hättest mir nicht misstrauen sollen“ zielen. Stattdessen findet eine Verwirrung der Zeichen in der symbolischen Ordnung statt, die durch die vertrackten politischen Verhältnisse der Sklaverei und des Kolonialismus untermauert werden. In diesem Kontext scheint der empfindsame Liebesdiskurs im wörtlichen Sinne ver-rückt zu sein, also fehl am Platze. Gustav klammert sich jedoch an die empfindsame Liebe wie an einem Strohhalm in einer äußerst bedrohlichen Situation, während Toni ihn subvertieren muss, um ihn letztlich retten zu können.

Die Aussöhnung und Vergebung findet aber nicht zwischen Weißen und Schwarzen statt, sondern allein zwischen Gustav als Mitglied der „weißen Rasse“ und Toni als Repräsentantin der „schwarzen Rasse“. Die Aussöhnung und Vergebung durch den Kuss ist eine Wiederherstellung seines Vertrauens in sie, ohne das keine zwischenmenschliche Beziehung möglich ist. Allerdings ist diese Aussöhnung und Vergebung und das ihnen zugrunde liegende Vertrauen äußerst prekär, da es sofort wieder zurückgenommen wird, als Toni ihn ans Bett fesselt, um Congo Hoango zu täuschen und Gustav sie dafür erschießt. Sobald er aber den Grund für ihren vermeintlichen Verrat erfährt, erschießt er sich selbst, angeblich wegen seines Misstrauens. Das impliziert jedoch, dass es sich nicht nur um ein bewusstes Täuschungsmanöver handelt, sondern auch um ein tragisches Missverständnis, das aus dem Misstrauen hervorgegangen ist.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Aussöhnung und Vergebung nicht nur zwischen Individuen möglich ist, da es sich um einen ethischen Wert handelt, obwohl die ihm zugrunde liegenden politischen Machtverhältnisse auch verändert werden müssen, um verbindlich zu sein. Nun befinden sich diese Machtverhältnisse aber gerade in einem revolutionären Prozess der Transformation. Es handelt sich somit um eine Zeit des Übergangs, in dem die alten Verhältnisse in Frage gestellt werden und noch keine neuen an ihre Stelle getreten sind. In diesem historischen Moment werden die Vorzeichen vertauscht: Der treue Diener verwandelt sich nun in eine rachsüchtige Bestie, während der grausame Herr zu einem Hilfe suchenden Kind wird.

Tonis Liebe und Vertrauen zu Gustav setzt aber auch einen unmöglichen Akt des Vergebens seitens der ehemaligen schwarzen Sklaven voraus. Nun werden die Werte der europäischen Aufklärung und der christlichen Religion jedoch individuell-unterschiedlich eingesetzt, einmal durch Babekans heuchlerische Verurteilung der Missachtung dieser Werte, wenn sie meint, dass in dem Sklavenaufstand ein Teil des Gesellschaftskörpers gegen den anderen rebelliere. Dabei ist Babekan selbst durch ihr Verhältnis zu Herrn Bertrand zu sehr gefeit, um an Humanwerte zu glauben. Auch sie hätte sich auf eine Verlobung mit ihm berufen können, da sie inzwischen ein Kind, Toni, von ihm bekommen hatte, als er sich auf einer Reise nach Frankreich mit einer weißen Frau verheiratete, und zu diesem Zweck leugnete, der Vater Tonis zu sein. Wegen ihrer angeblichen Verleumdung ließ er Babekan derart auspeitschen, dass sie bis zu ihrem jetzigen Zeitpunkt an Schwindsucht leidet. Es stellt sich die Frage, wie die Vergebung der Schwarzen gegenüber den Weißen unter diesen Umständen überhaupt möglich ist.

Andererseits beruft sich Toni ihrer Mutter gegenüber auf das humane Gastrecht, um sie vom hinterhältigen Mord an Gustav abzuhalten. So argumentiert Toni unter Erröten gegen die Intrigen der Mutter, „daß es schändlich und niederträchtig wäre, das Gastrecht an Personen, die man in das Haus gelockt, also zu verletzen. Sie meinte, daß ein Verfolgter, der sich ihrem Schutz anvertraut, doppelt sicher bei ihnen sein sollte“. Zu diesem Zeitpunkt ist sie schon von ihrem früheren Plan abgerückt, Gustav in einen Hinterhalt zu locken, da sie sich inzwischen (es handelt sich nur um eine Nacht) in ihn verliebt und sich heimlich verlobt hat. Sie beruft sich somit auf die Werte der Gastfreundschaft, um Gustav vor dem Hass der Schwarzen zu schützen, doch gerät dieser humanistische Diskurs in der Auseinandersetzung zwischen weißen Herren und schwarzen Sklaven ins Wanken.

Der ehemals Ohnmächtige wird nun zum Gastgeber und der vormals Mächtige zum Gast, der auf die Gastfreundschaft seines ehemaligen Feindes angewiesen ist. Das setzt aber auch einen Akt der Vergebung voraus, der aber nur von den ehemaligen Opfern der kolonialen Gewalt gewährt werden kann. In diesem Zusammenhang ist es signifikant, dass Toni Gustav ein Fußbad bringt, was das Beispiel Magdalenas heraufbeschwört, aber auch das Christi, der seinen Aposteln die Füße wusch. Das heißt aber auch, dass Toni sowohl in der Rolle der Prostituierten als auch in der des verzeihenden Opfers gezeigt wird.

Es ist die Barbarität der Weißen den Schwarzen gegenüber, wie sie sich in dem inhumanen System der Sklaverei äußert, die die Feindseligkeit der Schwarzen auf den Plan ruft. Es waren die weißen Gäste, die die Gastfreundschaft ihrer schwarzen Gastgeber missbrauchten, und dadurch zu ihren Feinden wurden, während sie als Verfolgte nun die Gastfreundschaft ihrer Feinde fordern. Dass sich diese absurde Logik durch Humanwerte durchbrechen lässt, scheint eher unwahrscheinlich. Andererseits führt deren Missachtung zu einer endlosen Gewaltspirale.

Der Glaube an das Gastrecht des Anderen setzt nämlich ein Vertrauen voraus, dass der oder die Fremde das Gastrecht nicht verletzen werde, indem er oder sie zum Feind wird, ein grundlegendes Vertrauen also, das auf einem allgemein-menschlichen Gesetz beruht. Nun nimmt Gustav gerade dieses Gastrecht auf Grund der helleren Hautfarbe Babekans und Tonis in Anspruch, da der „Neger“ Congo Hoango gerade außer Hauses ist, um den General der Aufständischen, Dessalines, mit Verstärkung zu versorgen. Dieses Zeichen ist jedoch trügerisch, da Babekan und Toni als Farbige zwischen den beiden „Rassen“ stehen und ihre Loyalität nicht automatisch den Weißen als der vermeintlich höherstehenden „Rasse“ gilt.

Das zwischenmenschliche Vertrauen, das die Utopie der Gewaltlosigkeit überhaupt erst ermöglicht, bleibt jedoch ein rein hypothetischer Moment jenseits des Todes: „du hättest mir nicht mißtrauen sollen!“, worauf Gustav erwidert: „Gewiss! Ich hätte dir nicht mißtrauen sollen; denn du warst mir durch einen Eidschwur verlobt, obschon wir keine Worte darüber gewechselt hatten!“