Missverständnisse eines Lebens

Über Anna Maria Carpis Kleist-Buch

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um Kleists Leben, um ihn als Person, als Dichter, Krieger, Seelensucher, um ihn als Projektmacher und Krisenspezialist erzählerisch einigermaßen in den Griff zu bekommen, bedarf es einigen schriftstellerischen Könnens und künstlerischer Freiheit, am besten gepaart mit kritischer Distanz und einem Schuss – Pardon – einer Prise Respektlosigkeit, wie das etwa Robert Löhr jüngst mehrfach gezeigt hat, ohne allerdings gleich eine Kleist-Biografie zu schreiben.

Wer solche Voraussetzungen nicht in ausreichendem Maße mitbringt oder gewillt ist, diese, aus welchen Gründen auch immer, einzusetzen, droht leicht zu scheitern angesichts eines Autors, der wie kaum ein anderer die Widersprüche in sich vereinigt. Jüngstes von leider mehreren Beispielen ist Raphael Graefe als fiktiver Herausgeber der Kleist’schen „Geschichte meiner Seele“. Er zeigt, wie man sich an einem Autor wie Heinrich von Kleist erzählerisch leicht „verheben“ kann. Die Gefahr zu scheitern ist derzeit umso mehr gegeben, als gerade in jüngster Zeit eine Reihe von biografischen Gesamtdarstellungen vorliegen, die das Genre im Allgemeinen und ihren Gegenstand Heinrich von Kleist im Besonderen auf der Höhe der Zeit zeigen.

So liegt denn die Messlatte auch für die nun auf Deutsch erschienene Kleist-Biografie der Italienerin Anna Maria Carpi, die – so lässt der Klappentext wissen – deutsche Literatur an der Universität Venedig lehrt und unter anderem Werke von Hans Magnus Enzensberger, Heiner Müller, Durs Grünbein und Michael Krüger ins Italienische übersetzt hat, recht hoch. Ihre gut 470 Seiten umfassende Romanbiografie „Kleist – Ein Leben“ ist erstmals 2005 unter dem Titel „Un inquieto batter d’ali – Vita di Heinrich von Kleist“ in Mailand erschienen. Für die deutsche Fassung hat Ragni Maria Gschwend die Übersetzung geliefert.

Carpi beginnt ihren ‚Lebensroman‘ über Heinrich von Kleist mit der Reaktion von Zeitgenossen auf den Doppelselbstmord vom Wannsee. Joseph von Eichendorff, Theodor Körner, Friedrich Schlegel, Clemens Brentano und einige andere kommen zu Wort. Mit einem Kleist’schen Resümee sozusagen aus dem Jenseits schließt dieses quasi-Vorspiel ab. Hier sinniert Kleist unter anderem: „Den andern ist es nie leicht gefallen, mich zu verstehen. An mich und meine Schriften, wird später Ludwig Tieck sagen, der 1821 meine Werke herausgab, wobei er mich den ‚unglücklichen Dichter‘ nannte, müsse man sich gewöhnen wie an einen neuen Bekannten, der eine Adlernase oder zu große Augen habe.“

„Nach dem Ende“, wie Carpis Anfang betitelt ist, widmet sich diese Lebensbeschreibung mit einigen fiktiven Dialoge zwischen Kleist und seinen Lebensbegleitern, ohne allzu sehr zu überziehen oder gar den Kleist’schen Impetus berserkern zu lassen oder Frau Marthe in Königsberg Polenta kochen zu lassen.

Carpi unterteilt Kleists Leben in vier zeitliche Abschnitte: nämlich die Jahre 1777 bis 1801; die Jahre 1802 bis 1806; 1807 bis 1810 und dann 1810 bis 1811. Biografisch neue Nuancen setzt sie nicht, wenig überzeugend sind im Übrigen ihre Bemerkungen zu den Texten, genauso wenig die Interpretationen und Statements des verblichenen Dichters aus dem Off. Das liest sich zur Königsberger Zeit etwa so: „Viele von uns hatten zwischen 1806 und 1807 das Empfinden, von einem grenzenlosen Naturereignis überrollt zu werden. Ob allerdings das menschliche Herz, berührt von diesem kollektiven Unglück, tatsächlich besser wird … ach, daran glaubte ich nicht. Oder vielleicht doch, aber dann nur für kurze Zeit und sicher nicht bei allen, nicht bei der Masse. […] Die Masse ist fanatisch, vor allem, wenn sie von der Religion besessen ist. Daher gab ich dem ‚Erdbeben in Chili‘ einen blutigen Schluss.“

Nun wissen wir das ebenso oder besser ebenso wenig wie auch die Tatsache, dass Kleist im „Käthchen“ „wie von selbst zwischen Versen und Prosa“ wechselt. Warum jedoch, bleibt ihm – und vielleicht auch zum Glück für Carpi und damit auch uns – „merkwürdig“.

Zwar „lässt sich“ – kleistisch gesprochen – diese Lebensbeschreibung vor allem dort „lesen“, wo sich Carpi an die bekannten Fakten hält. Wenig überzeugend sind jedoch die Antworten Kleists „gleichsam aus einer außerzeitlichen Lage, in der er seinen postumen Ruhm bis in unsere Zeit und sogar bis ins heutige Kleist-Museum in Frankfurt an der Oder hinein überblickt“, wie Carpi in einer „Nachbemerkung“ erklärt. „Daß sein ‚Schicksal im Leben und im Tod ein Mißverständnis gewesen ist‘, sagt er ausdrücklich nirgends, doch gehen, wie wir wissen, alle seine Geschöpfe an Mißverständnissen zugrunde.“

Im Leben wie in der Literatur soll es die Kategorie der produktiven Missverständnisse geben. Leider jedoch werden nicht alle Missverständnisse produktiv.

Titelbild

Anna Maria Carpi: Kleist. Ein Leben.
Übersetzt aus dem Italienischen von Ragni Maria Geschwend.
Insel Verlag, Berlin 2011.
477 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783458175032

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