Neue Schläuche?

Ein neuer Sammelband zu Heinrich von Kleist

Von Jan GerstnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Gerstner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ist über Kleist bereits alles gesagt?“ fragen Branka Schaller-Fornhoff und Roger Fornhoff gleich im ersten Satz ihres Vorworts zum Sammelband „Kleist. Relektüren“. Sicherlich gehört es gerade in Kleists Fall zu den Herausforderungen jedes neuen Forschungsbeitrags, sich in einer kaum überschaubaren, immer noch äußerst produktiven und sich stets wandelnden Forschungslandschaft situieren zu müssen. Insofern ist jede neue Analyse eine Relektüre (oder sollte es zumindest sein). Zu Beginn von „Kleist. Relektüren“ wird dieser Anspruch allerdings mit einer Verve formuliert, dass einem fast bange wird: „Die Polyphonie der [im Band vertretenen] Lesarten und ihre Ergebnisse erweitern und erfrischen die Sicht auf vermeintlich Bekanntes, schon Ergründetes. Kleists Gesichter, seine Sprache, seine Radikalliteratur werden enthüllt und neu in Szene gesetzt.“ Oft führen solche vollmundigen Ankündigungen dann zu einem Theorie- und Methoden-Gezauber, dessen Ergebnisse sich von denen früherer Ansätze nicht wesentlich unterscheiden. Alter Wein in neuen Schläuchen also auch hier?

Nicht ganz. Selbstverständlich wird hier die Kleist-Forschung nicht neu erfunden, das war auch nicht zu erwarten und ist auch kein Problem. Vor allem, was die Ansätze der jeweiligen „Relektüren“ angeht, bewegt sich das meiste im Rahmen dessen, was aus der in methodischer Hinsicht nun einmal sehr reichen Sekundärliteratur zu Kleist in der ein oder anderen Form schon bekannt ist. Auch das ist kein Problem, denn in ihrer Durchführung sind die meisten Beiträge dennoch mehr als ein angereicherter Forschungsbericht.

Die Gliederung des Bands in drei Kapitel orientiert sich weitgehend an Gattungsunterscheidungen, wenn es zunächst um die Erzählungen, dann um die Dramen und schließlich um Texte geht, die weder dem einen noch dem anderen Bereich zuzuordnen wären. Der erste Beitrag von Bernd Balzer setzt direkt bei der Gattungsfrage ein, indem er anhand der Gegenüberstellung der Goethe’schen Novellenkonzeption zu Kleists Novellen zeigt, wie sehr Gattungen auch hinsichtlich des Erzählten ordnungsgenerierende Funktion zukommt. Kleists vielzitierte Darstellung der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“ lässt sich so als Gegenentwurf zu Goethes auf Harmonisierung ausgerichteten novellistischem Erzählen lesen.

Auf Balzers literaturhistorische Perspektivierung eines bekannten Aspekts von Kleists Ästhetik folgen Beiträge, denen es stärker um eine Lektüre von einzelnen Texten geht. Wie bei Sammelbänden üblich, ist dabei manches mehr, manches weniger überzeugend. Die Originalität von Caroline Schubarths Versuch, die Verklammerung von Recht und Gewalt im „Michael Kohlhaas“ mit Jacques Derrida zu lesen, leidet zum Beispiel sehr darunter, dass dies unter fast vollständiger Ausklammerung der relevanten Forschungsliteratur geschieht. Die für die Erzählung entscheidende historische Dimension der fraglichen Kombination – und damit die eigentliche Komplexität des Verhältnisses von Recht und Gewalt – kommt so gar nicht erst in den Blick.

Das Problem, sich mit dem jeweiligen Forschungsstand auseinanderzusetzen und zugleich einen theoretisch eigenständigen Zugang zu prägen, stellt sich den meisten der Beiträge. So zeigt Thomas Boykens Aufsatz zum „Zweikampf“, dass eine gründliche Auseinandersetzung mit Forschungsliteratur sehr wohl Raum für einen eigenen Ansatz bietet, wenn er mit dem Begriff der Verschiebung oder Transposition die eigenartige Erzählkonstruktion des Textes vor allem in narratologischer Hinsicht erhellt. Der Bezug auf soziologische Theorien, vor allem Pierre Bourdieus, am Ende wäre dabei im Grunde gar nicht mehr nötig gewesen.

Branka Schaller-Fornhoffs Beitrag zum „Findling“ folgt Tendenzen der neueren Forschung, wenn sie die zunächst naheliegende moralische Verurteilung des Helden relativiert, und zeigt darüber hinaus, welche komplexen Schlussfolgerungen sich auf dieser Basis bezüglich der Identität des Protagonisten, aber auch des Autors Kleist, ergeben. Seltsamerweise wird dabei die relevante Forschungsliteratur zum Teil nur genannt, nicht aber genau zitiert. Zum „Findling“ gibt es einen weiteren Beitrag von Hendrik Werner, der sich derart bemüht, den Text als ein selbstreferentielles Wortspiel zu lesen, dass in poststrukturalistischer Überdrehung (unterstellte) Objekt- und Metasprache verschwimmen. Die Beurteilung des mit bewusst albernen Alliterationen und Assonanzen gespickten Beitrags wird da eher zu einer Frage des persönlichen Geschmacks. Mit literaturanthropologischen Überlegungen von Hans-Gerd Winter zur „Verlobung in St. Domingo“ schließt der Erzählungsteil.

Die Dramen-Lektüren beginnen mit einem Beitrag von Anonia Eder, der sich der Rechtsproblematik in der „Familie Schroffenstein“ widmet, wobei Eder das typisch Kleist’sche Thema der Unsicherheit und Interpretationsnot in den Kontext unterschiedlicher historischer Rechtsbegriffe einordnet. Stark theoriegeleitet präsentieren sich Hans-Christian Stillmarks Überlegungen zur Rolle des Körpers auf der Bühne bei Kleist. Dass hinter der ausführlichen und manchmal etwas umständlichen Auseinandersetzung mit vorhergehenden theoretischen Positionen die konkrete Textanalyse etwas zurückbleibt, ist dabei bedauerlich, insofern es gerade darum gehen soll, die im Dramentext erkennbare Wirkungsabsicht gegenüber einer die Performativität der Aufführung betonenden Position zu stärken.

Eine ausgeprägte theoretische Orientierung der Textlektüre bestimmt auch Roger Fornhoffs Beitrag zur „Hermannsschlacht“. Er zeigt, wie sich die obsessive Verbindung von Nation und Geschlecht in Kleists wohl kontroversestem Drama mit Jacques Lacan und Slavoj Žižek fassen lässt. Ebenfalls psychoanalytisch, aber mit einem ganz anderen Ansatz, geht Andreas Hamburger an den „Zerbrochnen Krug“ heran. Weniger inhaltliche Momente, die dann psychoanalytisch gelesen werden, stehen hier im Vordergrund, als die ästhetische Form des Lustspiels selbst und deren Wirkung, das Lachen. Bei diesem Text, der in seiner Verbindung einer psychoanalytischen Theorie der Komik mit einer Interpretation des Dramas zu den interessantesten Beiträgen des Bands zählt, handelt es sich allerdings um die überarbeitete Fassung eines bereits 2006 erschienen Aufsatzes.

Abgerundet wird das Kapitel zu den Dramen mit zwei Beträgen zur Rezeption der Kleist’schen Dramen, einmal anhand deutscher Aufführungen des „Prinzen von Homburg“ nach 1945, mit dem besonderen Fokus auf Heiner Müller; das andere Mal geht es um die französische Rezeption am Beispiel Jean Anouilhs.

Das letzte Kapitel versammelt lediglich zwei Aufsätze. Jan Röhnerts instruktive Lektüre von Kleists Briefen aus Paris zeigt, wie sich dort wesentliche Topoi moderner Zivilisations- und Stadtkritik formulieren. Tim Mehigan widmet sich der berüchtigten Kant-Krise Kleists unter einem neuen Aspekt, wenn er sie aus dem Kontext eines prinzipiellen Sprachzweifels herausnimmt und auf ein konstruktives Sprachverständnis, wie es sich vor allem im Aufsatz „Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden“ artikuliert, bezieht. Sein Versuch, dies mit systemtheoretischen Annahmen zu untermauern, erscheint allerdings dann problematisch, wenn die theoretische Perspektive als „intuitives Verständnis“ bereits Kleist selbst untergeschoben wird.

Mehigans Rückgriff auf die Systemtheorie bezieht wesentliche Anregungen aus einem Aufsatz von Dominik Paß von 2003. Dieser natürlich ganz unproblematische Bezug ist sprechend für den gesamten Band. Die angekündigte methodische Pluralität kann „Kleist. Relektüren“ einlösen, sie baut aber meist auf bereits Bekanntem auf und führt dies fort. Das erweitert die Sicht auf Kleist zweifellos, doch ist die angekündigte „Produktivität und Innovation“ der Relektüren im Grunde eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit. „Es ist längst nicht alles gesagt über die Texte Heinrich von Kleists“ lautet das Fazit des Klappentexts. „Kleist. Relektüren“ belegt dies ein weiteres Mal – ob es dazu die großen Versprechen des Titels, des Vorworts und des Klappentexts gebraucht hätte, sei einmal dahingestellt.

Titelbild

Branka Schaller-Fornoff / Roger Fornoff (Hg.): Kleist. Relektüren.
Thelem Universitätsverlag, Dresden 2011.
315 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783939888932

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