Der Narziss in der Wilhelmstrasse

Pflanze schildert den Eisernen Kanzler als politischen Einzelkämpfer und zugleich als deutsche Verhängnisgestalt

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Gier nach politischer Macht und reichlichem Essen schien der Alte aus dem Sachsenwald unersättlich. Otto von Bismarcks Fähigkeit, mit gewaltigen Portionen bei Tisch fertig zu werden, düpierte manche Zeitgenossen ebenso wie dessen Maßlosigkeit, mit der er sich in einen aussichtslosen Kampf gegen Katholiken und Sozialisten gestürzt hatte. Auf politischen Widerstand reagierte der früh gealterte und stark übergewichtige Kanzler mit Schlaflosigkeit, Fresssucht, Neuralgien und nervösen Beschwerden, die ihn immer häufiger aus der verhassten Reichshauptstadt trieben und in ausgedehnten Kuren und Landaufenthalten Zuflucht nehmen ließen. Kaum ein Drittel seiner Kanzlerschaft verbrachte der Reichsgründer noch an seinem Regierungssitz, sondern ließ sich in einer komplexen Mischung aus echtem Abscheu vor dem parlamentarischem Betrieb und taktischem Kalkül von seinen politischen Wasserträgern im Reichstag vertreten.

Vier Jahre nach der scheinbar glanzvollen Reichsgründung war das System Bismarck schon am Ende und das ungleiche Zweiergespann aus greisen Kaiser und multimorbiden Kanzler nur noch eine Übergangslösung zu einer liberalen Ära des Parlamentarismus nach britischem Vorbild. Der diplomatischen Demütigung der so genannten ,Krieg-in-Sicht-Krise‘ war wie so oft schon in Bismarcks erstaunlicher Karriere ein vom Kaiser abgelehntes Rücktrittsgesuch gefolgt. So noch einmal gestärkt machte sich der Virtuose des politischen Kampfes daran, eine echte strategische Kehrtwende zu vollziehen, die seinen bisherigen Kurs auf den Kopf stellte. Daher ist die Zäsur des Jahres 1875, mit welcher der Münchener C.H. Beck Verlag den zweiten Teil von Otto Pflanzes gewichtiger Biografie einsetzen lässt, geschickt gewählt. Die amerikanische Originalausgabe des inzwischen verstorbenen Verfassers und langjährigen Lehrers für Geschichte am Bard-College war dagegen in drei Bänden erschienen, von denen der mittlere die Jahre zwischen 1871-1880 umfasst.

Tatsächlich sind die hier geschilderten letzten anderthalb Dekaden seiner Kanzlerschaft von einer inneren Einheit geprägt, in der Bismarck nicht nur die Reichsbehörden vollkommen neu organisierte, sondern sich auch in der Wirtschaftspolitik entschlossen vom ,laissez-faire‘ des Liberalismus verabschiedete. Nach dem leidenschaftlichen Kampf gegen den verhassten „Ultramontanismus“ schaffte es Bismarck seit 1875 auch in der Innenpolitik, zu seinem bewährten politischen Erfolgsrezept zurückzukehren, mit dem er sich, wie Pflanze betont, immer noch mindestens eine Handlungsalternative offen ließ. So brachte dann auch die Annäherung des Kanzlers an das katholische Zentrum eine bedeutende Erweiterung seines politischen Spielraumes, da er nun nicht mehr auf den schwindenden Einfluss der Liberalen und Konservativen angewiesen war. Zu einer Annäherung an die Sozialdemokratie mochte sich der in paternalistischen Kategorien denkende Reichskanzler jedoch nie entschließen.

Der Bismarck’schen Innenpolitik und seinen langjährigen Versuchen, Teile der Liberalen für seinen neuen protektionistischen Kurs einer Schutzzollpolitik zu gewinnen, widmet Pflanze den größten Teil seiner außergewöhnlich detailreichen Darstellung. Die außenpolitische Neuorientierung des Reiches nach dem Berliner Kongress erörtert er dagegen nur recht knapp. Dabei macht Pflanze aber klar, dass mit dem 1879 geschlossenen Bündnis zwischen Habsburg und Hohenzollern die seit der Krise von 1875 erkennbare Entfremdung zum Zarenreich eine deutliche Vertiefung erfuhr und damit zugleich auch schon die Bahn beschritten war, die 1892 zur russisch-französischen Allianz führte. Gleichwohl sprach Anfang der 1880er-Jahre sehr viel für das Bündnis zwischen Berlin und Wien, das vor allem in der deutschen Öffentlichkeit als Erneuerung des 1866 gescheiterten Bundes angesehen wurde.

In seiner dichten Schilderung gelingt Pflanze das ungewöhnliche Porträt eines Ausnahmepolitikers, der sich gleichwohl in narzisstischer Selbstüberhebung nie vorstellen konnte, dass auch seine Gegner andere als nur partikulare Interessen verfolgten. Geprägt von einem bürokratischen Staatsethos war nach Bismarcks Vorstellung allein die Regierung – und damit er selbst – befähigt, in politischen Fragen das Richtige und Angemessene zu tun. Nicht einmal seinen eigenen Gefolgsleuten billigte er einen politischen Handlungsspielraum zu, Widerspruch oder gar Obstruktion empfand er regelmäßig als Kränkung und quittierte sie mit Verachtung, ungebändigtem Hass und langen Phasen von Krankheit. Mit maliziösem Eifer streut Pflanze daher immer wieder Passagen über die endlose Krankengeschichte des Eisernen Kanzlers ein, der selbst nur zu genau wusste, dass einzig der Abschied von der Politik seine Gesundheit wieder herstellen konnte. Der Kanzler betrachtete indes seine Gebrechen und Leiden als den Tribut der politischen Macht, von der er offenbar nicht lassen konnte.

Bismarcks historische Bedeutung liegt vielleicht nicht so sehr in dem brüchigen Gebilde, das er durch drei Kriege geschaffen hatte, sondern mehr in dem, was er durch seine Winkelzüge beharrlich zu verhindern versuchte: Eine dem Parlament allein verantwortliche Regierung, mit der die politische Macht in dem sich rasant modernisierenden Reich auf eine breitere und transparentere Basis gestellt worden wäre. Insofern zählt der so genannte Eiserne Kanzler fraglos zu den Verhängnisgestalten der deutschen Geschichte.

Titelbild

Otto Pflanze: Bismarck. Der Reichskanzler.
Band 2.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
808 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406548239

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