Oszillationen von Eden

Hans Ulrich Gumbrecht sehnt sich in seinem Buch „Unsere breite Gegenwart“ nach der Präsenz des Raums zurück

Von Kay ZiegenbalgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Ziegenbalg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Multitasking bezeichnet die gleichzeitige Erledigung verschiedener Aufgaben und meint eigentlich etwas ganz anderes. Computer können das zwar – also es sieht für den Nutzer so aus –, aber er muss fokussieren und benötigt den Überblick über die laufenden Anwendungen. Auf Rückfragen der Maschine kann er wiederum nur seriell reagieren. Nun ist aber Multitasking klammheimlich zur Schlüsselqualifikation des Menschen selbst avanciert und ist zum festen Bestandteil auch der Alltagskultur geworden.

Multitasking hält unsere (post)moderne Welt im Innersten zusammen und reißt sie dabei aus den Angeln. Es geht uns schlecht und das behände Umherstreifen vernetzter Eliten, das ganze Bloggen, Simsen, Twittern und Liken ist – entgegen aller investierten Hoffnungen – ein sinnfreies Hintergrundrauschen, wenn nicht sogar Kommunikations-Müll.

Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn unter diesem verbreiteten Gefühl, dass zuweilen auch als bloßer Reflex auf die schwer zu fassende Dynamik der elektronischen Medien zu verstehen ist, könnte etwas Schwerwiegendes verborgen sein. Es könnte sich um einen Tiefpunkt der Menschheit handeln, die sich ein weiteres Mal von Eden entfernt hat. Dieses Eden scheint hinter den Äußerungen in Hans Ulrich Gumbrechts Essay „Unsere breite Gegenwart“ hervor. Gumbrecht, der seit einiger Zeit Präsenz und Stimmung gegen die Zeichen als zentrales Medium seiner Profession in Stellung bringt, will noch einmal in dieses Eden. Gumbrecht hält fest, dass sich unsere Gegenwart in Simultanitäten erschöpft, wodurch Tiefe durch Breite verdrängt und verhindert wird. Kulturkritik, ick hör’ Dir tappsen! Diese „Breite“ hat zwei Spuren. Zum einen die Ausdehnung der Gegenwart über den ihr eigenen dauerlosen Moment hinaus und zum anderen den schon besagten Verlust an Tiefe.

Wie kommt man zu der Einsicht, dass sich die Gegenwart ausdehne? Für Gumbrecht steht fest, dass die Deutung der Vergangenheit nach Jean-François Lyotards verkündetem Ende der Metaerzählung nichts mehr hervorholen kann, was sich für die Einschätzung der unkontrollierbaren riskanten Zukunft eignet. Nichts anderes bleibt also dem Bewusstsein als indifferentes Dahinrauschen in einer planlosen Zeit.

Das Schlüsselwort Gumbrechts ist die Präsenz, und diese will den Weg weisen zurück zum Ding-an-sich, das uns Kant genommen hatte. „Wenn wir die Dinge, im ursprünglichen Sinne des lateinischen ‚prä-esse‘, ‚präsent‘ nennen, dann sagen wir damit, daß sie ‚vor uns‘ und somit greifbar sind. Mehr möchte ich mit diesem Begriff hier nicht verbinden.“ Aber es geht doch um mehr. Gumbrecht will stets darauf aufmerksam machen, dass es außerhalb der Zeichen, außerhalb der Sprache und des Bewusstseins noch etwas geben muss, das bedenkenswert ist. Ganz in der Art Martin Heideggers, auf den sich Gumbrecht beruft, wird uns die Blindheit für das In-der-Welt-Sein der Dinge und auch unserer selbst aufgezeigt.

Vorgeschlagen werden vier „Oszillationen“, auf die es sich zu konzentrieren gelte. Die Oszillation begreift Gumbrecht in seiner Kritik einer vom Sinn magisch angezogenen Hermeneutik als Alternative zu statischen Ausprägungen des Begreifens und Verstehens. Damit sei die Möglichkeit verbunden, aus immer wieder auf sich selbst bezogenen Sprachspielchen heraus zu treten und hinein zu gelangen ins Sein, in die Präsenz. Der Blick wird frei.

Die Oszillationen sind: Planet Erde, die körperliche Dimension unserer Existenz, Macht (konkreter: Gewalt) und schließlich das Denken. Das sind nicht gerade einfach zu handhabende Spielbälle. Und doch behandelt Gumbrecht seine Oszillationen genau so: Er jongliert, stoppt, ändert die Reihenfolge und zeigt uns das Kunststück dann wieder von der anderen Seite. Aber so etwas wie ein Resultat wird man vergebens suchen. Auch dies ist Ausdruck einer Müdigkeit. Müdigkeit gegenüber einer stillstehenden Geisteswissenschaft, die keine Risiken mehr eingeht und mit Gedanken umgeht wie der moderne Fußball mit Pässen, wo Ballannahme und Weitergabe zur Akrobatik verschmelzen und die Feldpositionen der Spieler permanent verändert werden.

Gumbrecht nimmt die Rolle des anachronistischen Libero ein, der an seiner Position festhalten sollte, um bei Eintritt einer bestimmten Situation einzugreifen. Was wir gegenwärtig im Großen erleben, sei nun die „Ablösung vom Raum“ im Zuge einer „ruhelosen, intransitiven Bewegung“. Die Gegenstände der breiten Gegenwart haben, so Gumbrecht, durch ihre Loslösung von Raum und Präsenz den Bezug verloren. Aber den Bezug wozu? „Wir wollen den menschlichen Körper als Kerndimension der individuellen Existenz wiederherstellen; wir beanspruchen spezifische Orte, spezifische Regionen und den Planeten Erde als Sphären der ‚Heimat‘, zu der wir gerade gehören; wir genießen es, in (künstlich geschaffene, aber) kohärente historische Umwelten eingehüllt zu sein; wir sehnen uns nach Sprachen, welche die spezifischen Räume, die wir unser eigen nennen, erschließen und von ihnen geformt sind; und wir wollen unserer Existenz durch selbstreflexives ‚Üben‘ Richtung und Ziel geben.“

Titelbild

Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
140 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126271

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